100 Geschichten zum Weiterschreiben

Du möchtest eine Geschichte schreiben, doch weißt nicht, wie du anfangen sollst?

Hier findest du jede Menge Geschichten zum Weiterschreiben!

Egal, ob du eine Liebesgeschichte schreiben oder eine Gruselgeschichte zu Papier bringen möchtest, ganz klassisch eine Kurzgeschichte schreiben oder einfach mal etwas Neues ausprobieren willst …

Doch wozu solltest du überhaupt Geschichten weiterschreiben?

Es kann dir dabei helfen,

Los geht’s!

Die folgenden Geschichten zum Weiterschreiben machen es möglich …

Märchen schreiben

Beim Schreiben eines Märchens sind bestimmte Merkmale obligatorisch. So liegt bei Märchen eine klare Trennung zwischen Gut und Böse vor und die Figuren sind eher schematisch gehalten. Des Weiteren ermöglichen Märchen häufig eine Lehre oder Einsicht, welche durch den Handlungsverlauf zum Ausdruck kommt.

Wie viel Magie braucht es beim Märchenschreiben?

Das ist ganz unterschiedlich!

Von sprechenden Tieren über Gegenstände mit magischen Eigenschaften bis zu Verwandlungen ist alles möglich. Wie wichtig diese Elemente für die Geschichte sein sollen, ist Geschmackssache.

Märchen sind eigentlich überlieferte, mündlich erzählte Geschichten. Heutzutage Märchen schreiben bedeutet deshalb immer: Kunstmärchen schreiben. Du greifst auf die traditionelle Form zurück und erschaffst etwas Neues …

Schreib die folgenden Märchenanfänge weiter!

Die unglückliche Prinzessin

Es war einmal eine junge Prinzessin, die lebte in einem riesigen Schloss. Sie hatte alles, was ihr Herz begehrte: Reichtümer, Schmuck, die besten Speisen und Eltern, die sie liebten. Bloß eine Sache fehlte ihr: (…)

Die Begegnung des Holzfäller-Burschen

Es war einmal ein junger Holzfäller-Bursche, der zu Hause keine Arbeit fand. Seine Familie konnte ihn nicht länger ernähren. Er musste fortziehen.

Also verabschiedete er sich und ging traurig die Straße entlang, immerzu geradeaus. Und als er so ging, da erblickte er (…)

Der gierige Kaufmann

Es war einmal ein reicher Kaufmann, der konnte nicht genug bekommen. Immer mehr Gold häufte er an und je mehr Gold er anhäufte, umso mehr wollte er davon haben. Eines Tages ging seine Ladentür auf und herein trat (…)

Der traurige Prinz

Es war einmal ein Prinz, der in die Fremde zog, um eine Prinzessin zu finden. Doch so sehr er auch suchte, er fand keine Prinzessin, die ihm gefiel.

Als er traurig am Wegesrand saß, hörte er auf einmal ein Stimmchen. Er blickte sich um, doch konnte niemanden sehen. Da ertönte das Stimmchen erneut. Es sprach: (…)

Das Blitzen im Hof

Es war einmal ein armes Mädchen, das bei einer alten Frau aufwuchs. Doch die Frau war nicht seine Großmutter, sie hatte das Mädchen als Säugling im Wald gefunden.

Seit das Mädchen denken konnte, musste es putzen und kochen und backen und bekam dafür ein Dach über dem Kopf und durfte im Stroh bei den Eseln schlafen.

Als sein Aufenthalt bei der alten Frau bereits ins achtzehnte Jahr ging, schleppte das Mädchen eines Morgens den schweren Wasserkrug über den Hof. Auf einmal fiel ihr ein Leuchten auf, ganz hinten in der dunkelsten Ecke neben der Scheune. Sie stellte den Krug ab und ging näher. (…)

Liebesgeschichten schreiben

Viele Liebesgeschichten gleichen sich durch ähnliche Figurenkonstellationen. Auch einige Kernpunkte der Handlung finden sich immer wieder: Kennenlernen, Trennung, Vermissen, Eifersucht und Wiedervereinigung sind typische Elemente.

Das Besondere deiner Liebesgeschichte sollte durch deine Figuren und deren Beziehung zueinander zum Ausdruck kommen.

Beantworte mit dem Schreiben deiner Liebesgeschichte u.a. folgende Fragen:

  • Was ist das Besondere an der Kombination deiner Liebenden?
  • Wie fühlen, denken, handeln diese jeweils?
  • Welches Verständnis von Liebe transportierst du in deiner Geschichte?

Die folgenden Geschichten zum Weiterschreiben bieten dir die Möglichkeit, Verschiedenes auszuprobieren …

Die Anmache

Anton blickte auf. Was war das denn gewesen?

«Na, Süßer», wiederholte die Stimme.

Doch Anton begriff nicht, woher sie kam. (…)

Der Zusammenprall

Alles war Mist. Kein Job, kein Geld, kein Urlaub. Und immer wieder diese Briefe von der Arbeitsagentur.

Annabelle knallte das Türchen ihres Briefkastens zu, ein metallisches Scheppern erklang. Dann zog sie ihren Haustürschlüssel aus der Tasche und stieg müde die Stufen hoch. Die Tür flog auf, sie schreckte zusammen, stolperte, fiel – da wurde sie auf einmal gehalten. Starke Arme stellten sie zurück auf die Beine.

«Passen Sie doch auf!», fuhr sie den Wüstling an, der sie beinahe umgerannt hatte und blickte in himmelblau blitzende Augen. Annabelle schluckte.

Was war das denn für ein langhaariger Rockstartyp in Lederjacke? Wohnte der etwa hier? Und weshalb roch der so gut nach Tabak, Kaffee und Vanille?

Noch ehe der Typ etwas erwiderte, spürte sie, wie sie dahinschmolz und ärgerte sich über sich selbst. (…)

Faustschlag ins Herz

Boris hatte genug von den Frauen. Nie wieder, schwor er sich, nie wieder!

Er musste sich selbst genügen. Schluss mit dieser ewigen emotionalen Abhängigkeit.

Er ließ sich auf die Bank in der Umkleide fallen und dachte an Nina. Er zog sich um und dachte an Caro. Er schürte sich die Schuhe und dachte an Doris.

Dann stand er auf und stellte sicher, dass keiner ihm zusah, tänzelte auf der Stelle und dachte an Isi. Ballte die Hände zu Fäusten und hieb in die Luft. Wieder und wieder. Freute sich auf das Training.
Seit wie vielen Jahren schon hatte er nicht mehr geboxt?

Ob er wohl alles verlernt hatte?

Wie der neue Trainer wohl war?

Er schnappte sich Handtuch und Wasserflasche und machte sich auf den Weg. Ganze zehn Einzelstunden erwarteten ihn die nächsten Wochen. Den schmerzlich hohen Preis hatte er im Voraus bezahlt. Er würde sich seine Liebesschmerzen aus dem Leib boxen, wieder fit werden, endlich nicht mehr abhängig sein von der Zuneigung der Weiber.

Boris schob die schwere Hallentür auf. Der Trainer stand mit dem Rücken zu ihm und friemelte an der Aufhängung eines Boxsacks herum. Boris streckte die Brust raus und schritt auf ihn zu, der Trainer drehte sich um – Boris erstarrte.

Das war kein Trainer.

Das war eine Trainerin.

Sie wirkte durchtrainiert bis zum Gehtnichtmehr und außerdem sah sie verteufelt gut aus.

«Hi, ich bin Alex», sagte sie und streckte die Hand aus. «Wir haben gemailt. Herzlich willkommen in meiner Boxschule!»

«Ich will mein Geld zurück», sagte Boris in Gedanken. Doch in Wahrheit streckte er bloß die Hand aus und murmelte seinen Namen. (…)

Dreiecksgeschichte

Es war ihr erster Tag im Büro und Clara war überwältigt. So sehr hatte sie gehofft, dass die Kollegen dieses Mal netter waren. Und nun schien «nett» eine krasse Untertreibung zu sein.

Sie saß in einem gemütlichen Ledersessel, eine Tasse Cappuccino stand vor ihr und frisches Obst. Steffen fragte sie, was ihr persönlich wichtig sei. Dann erklärte er ihr ganz entspannt ihre Aufgaben.

Hatte ihr auf der Arbeit überhaupt schon mal jemand etwas erklärt?

Und ganz nebenbei hatte Steffen auch noch strahlend blaue Augen, blonde Locken und breite Schultern. Genau ihr Typ. Clara würde sich anstrengen müssen, sich auf den Job zu konzentrieren …

«Wir gehen jetzt gleich zur Teambesprechung», fuhr Steffen fort. «Doch davor möchte ich dir noch was zu Christian sagen, unserem Abteilungsleiter. Du wirst ihn ja gleich kennenlernen. Er ist, nun ja, was Frauen angeht etwas speziell.“ (…)

Die Liebe wiederfinden

Sommer, Sonne, Sonnenschein, zwei ganze Wochen lang mit den besten Freundinnen, ohne ihre nervigen Männer! Lisa umarmte Milla und Summer und hielt ihr Handy vor sich in die Luft. Ihre Ankunft auf Lanzarote, davon brauchte es unbedingt ein Selfie!

Kann ich helfen?“, hörte sie eine tiefe Stimme hinter sich. Sie drehte sich um.

Braungebrannt, muskulös, strahlend weiße Zähne und ein Spitzbubenlächeln. Ein Surfertyp, so attraktiv, als käme er von einem anderen Planeten.

Wieso sprach er sie an?

Lisa war doch eindeutig das graue Mäuschen in ihrem Dreiergespann.

Sie wollte antworten, doch ihr kam bloß ein «Ähm» über die Lippen.

«Ich meine, soll ich ein Foto machen?» Er grinste und auf seinen Wangen waren kleine Grübchen zu sehen.

Milla zupfte sie am Ärmel, Summer flüsterte ihr etwas ins Ohr. Lisa schluckte und nickte.
Der Typ nahm sich ihr Handy und ging rückwärts, dann noch ein paar Meter und noch ein paar Meter. In Lisa schrillten alle Alarmglocken los.

«Der will das klauen», hatte Summer gerade geflüstert, begriff sie. Ihr Herz machte einen erschrockenen Hüpfer.

Doch da kam der Beau schon zurück und streckte Lisa ihr Handy entgegen. «Bitteschön, gern geschehen, schönen Urlaub!» Und schon war er in der Menge verschwunden.

Lisa klammerte sich an Millas Schulter. Was bitte war das jetzt gewesen?

Wie konnte jemand so verdammt sexy sein?

Und dann auch noch mit ihr sprechen?

Und warum war der auf einmal wieder weg?

Lisa spürte ein Ziehen im Bauch (…)

Freundschaftsgeschichten schreiben

Geschichten über Freundschaft leben von der besonderen Beziehung zwischen zwei oder mehr Figuren. Häufig sind diese Beziehungen von Hochs und Tiefs geprägt. Eine fesselnde Freundschaftsgeschichte schreiben bedeutet, die Hochs und Tiefs einer Beziehung, deren Anfang oder Ende, deren Glücksmomente und die Situationen, in denen sie auf die Probe gestellt wird, in eine fesselnde Story zu packen …

Der Neue

«Das hier ist Jörg, euer neuer Mitschüler!»

Herr Schmidt legte mir eine Hand auf die Schulter und ich spürte, wie mir die Hitze ins Gesicht schoss. 25 Augenpaare starrten mich an. War das Feindseligkeit in ihrem Blick oder bloß Neugierde? (…)

Zu dritt auf großer Tour

Eine ganze Woche mit Finn und Josi auf großer Tour. Das würde ein Spaß werden! Mit meinen besten Freundinnen war ich unschlagbar.

Ich surrte die Tasche auf dem Gepäckträger fest, schwang mich auf den Sattel und trat in die Pedale.

«Eine Dreierkonstellation ist immer schwierig», hörte ich im Kopf die Stimme meiner Mutter.

Ach was!

Jetzt würde ich die beiden erst mal nacheinander abholen. Und dann würde alles großartig werden! (…)

Verrat

Basti betrat den Flur seiner WG und wunderte sich.

Was machten die Koffer da? Wollten seine Mitbewohner etwa verreisen?

«Schon zurück?» Biene streckte den Kopf aus ihrem Zimmer und sah alles andere als erfreut aus, Basti zu sehen. (…)

Bewährungsprobe

«Freundschaft!» Der Ruf hallte durch den Backstageraum. Dann warfen die Bandmitglieder die Hände in die Luft, nickten sich zu und schritten Richtung Bühne.

Keiner von ihnen ahnte, auf welche Probe ihr Zusammenhalt heute gestellt werden würde. (…)

Raus aus der Einsamkeit!

Wieder mal streifte Jan allein durch die Stadt.

Nun wohnte er hier bereits seit zwei Jahren und kannte immer noch keine Menschenseele. Das musste sich endlich ändern!

Doch wie sollte er es bloß anstellen, Freunde zu finden?

Auf einmal fiel sein Blick auf ein riesiges Werbeplakat, das an einem Hochhaus hing. Da kam ihm eine Idee … (…)

Science-Fiction-Geschichten schreiben

Science-Fiction-Geschichten schreiben bedeutet in die Zukunft zu reisen. Aber was soll das heißen – die Zukunft? Es gibt so viele verschiedene Arten von Zukunft wie Vorstellungen von ihr.

In einer Science-Fiction-Geschichte bringst du deine Vorstellung von der Zukunft zum Ausdruck. Du nimmst wissenschaftliche Erkenntnisse und technische Möglichkeiten der Gegenwart zum Ausgangspunkt, spinnst diese weiter und bettest sie in eine fesselnde Story ein.

Schreib die folgenden Anfänge weiter und reise so mit Stift und Papier in eine andere Zeit ..

Besuch auf der Erde

«Sind wir bald da Papa? Ist es noch weit?»

Igor ignorierte das Quengeln. Er hatte seiner Tochter die Frage schon zigmal beantwortet, jetzt war es mal gut. Er konnte ja nicht …

«Autsch!» Igor fuhr herum. Anna-Bella stand in ihrem Bällebad in der Mitte des Raumschiffs, für das sie eigentlich langsam zu alt war, und hob drohend eine weitere Plastikkugel in die Luft.

Igor stöhnte.

Widerwillig mentalisierte er eine Raumkarte. Da, ein blau schimmernder Provinzplanet am Rande dieser ganz und gar unbedeutenden Galaxie, die sie gerade durchflogen. Ein Umweg, ja. Aber immerhin kein großer.

«Na gut», knurrte er, «wir machen ein Päuschen.»

Dann modifizierte er den Kurs und machte das Raumschiff zur Landung bereit. (…)

Aufwachen

Der Sensor erfasste Martas Biodaten und fügte sie zu der Rechnung hinzu.

Der durchschnittliche Zeitbedarf, um aufzustehen und sich fertig zu machen, der Weg zur Arbeit, die Tiefe des Schlafs in diesem Moment und die meteorologischen Gegebenheiten führten mit Hilfe eines ausgefuchsten Algorithmus zum perfekten Weckmoment. Die Firma Wake-up hatte damit ein Vermögen gemacht.

Die Sonnenaufgangssimulation vollzog sich in Perfektion, Martas Lieder flackerten und sie öffnete die Augen. (…)

Konsumfreiheit

Max war so aufgeregt, dass er nicht in den Schlaf fand. Gab es den radikalen Untergrund wirklich, von dem die Nachrichten ständig erzählten? Die selbst ernannten Freiheitskrieger, die dem ersten allgemeinen Konsumgrundsatz trotzten und dem größten Verbrechen Konsumariens huldigten: Sie arbeiteten für eine Entlohnung!

Oder war die Kontaktperson, mit der Max verabredet war, in Wahrheit Polizist und gab nur vor, Freiheitskämpfer zu sein?

Max hatte Angst, im Gefängnis zu landen oder gar gelöscht zu werden. Er wusste, in welche Gefahr er sich begab. Und doch würde er seine Beine morgen Früh nicht daran hindern, ihn Schritt für Schritt dem Treffpunkt entgegen zu tragen.

Wie sah seine Zukunft aus?

Würde er endlich eine Aufgabe bekommen und der unendlichen Langeweile und Sinnlosigkeit seines Lebens entfliehen? Oder würde er den Rest seiner Tage in einer Zelle dahin vegetieren und auf seine Hinrichtung warten? (…)

Gedankenfreiheit

Es klingelte an der Tür. Das war kein gutes Zeichen. Doch Susanne hatte nichts anderes erwartet.

Mit Unbehagen erhob sie sich vom Frühstückstisch. Seit gestern Abend war ihr klar gewesen, dass es so kommen musste. Nett eigentlich, dass sie bis zum Morgen gewartet hatten. Oder war das ein Teil der Schikane?

Sie öffnete die Tür und stand zwei Männern mittlerer Größe in roten Uniformen gegenüber.

«Gedankenpolizei, guten Tag! Wir sind hier wegen ihrer Gedanken am gestrigen Abend zwischen 20:32 und 20:34 Uhr. Wir würden gerne reinkommen für eine kurze Gefährderansprache. Oder wollen sie lieber mit aufs Revier?»

Doch da war Susanne bereits zur Seite getreten und winkte die Männer herein. Als sie die Tür hinter sich schloss, blickte sie sich kurz um. Hoffentlich hatte keiner der Nachbarn etwas gesehen. (…)

Beziehungsgeschichten schreiben

Gute Beziehungsgeschichten schreiben hat viel mit Psychologie zu tun. Wie ticken deine Figuren? Und was macht das Besondere ihrer Konstellation aus?

Was hier zählt ist Dynamik. Eher uninteressant ist eine eher statische Beziehung zwischen zwei oder mehreren Menschen. Was zählt ist deren Entwicklung, die Hochs und Tiefs, die Bruchstellen und Konflikte, die Hoffnungen und Sternmomente.

Greif auf die folgenden Anfänge zurück und schreibe eine Beziehungsgeschichte!

Perspektivwechsel

Ein Urlaub zu zweit nach so vielen Jahren. Armin zündete den Motor und drückte das Gaspedal durch. Endlich mal hatten sie die Kinder bei seinen Eltern geparkt. Nun zählten nur sie beide, Britta und er. Alles würde gut werden! Sie würden es schaffen! Er fuhr mit seiner Hand zu ihr hinüber und streichelte sanft über ihren Oberschenkel.

Jetzt berührt der mich auch noch, dachte Britta. Meint der jetzt etwa, wir würden hier einen auf Flitterwochen machen oder was? Sie mussten endlich die Verhältnisse klären. Wer bekommt das Haus? Bei wem bleiben die Kinder? Und was ist mit dem Aktiendepot? Das waren die Fragen, auf die es ankam. Entschieden griff sie nach seiner Hand und schob sie weg. (…)

Die Überraschung

Jonas hatte seine Frau tatsächlich drangekriegt. Sanne glaubte, er säße im Flieger nach Frankfurt und hätte vor lauter Gedanken an das angebliche Meeting ihren Hochzeitstag verpennt. Von wegen.

Er war nur kurz in die City gefahren, gleich schon wäre er wieder zu Hause. Sanne würde Augen machen, wenn er mit den 22 Rosen vor ihr stünde. Und erst recht, wenn er ihr den fantastischen Ring überreicht, den er seit Tagen vor ihr versteckte.

Jonas bog in ihre Straße ein, konnte es kaum erwarten, jagte den Wagen auf 80 hoch, ihr wunderschönes Haus kam zwischen den Bäumen zum Vorschein.

Was stand denn da für ein knallblaues Auto in ihrer Einfahrt?

Er bremste abrupt. Glitt in Schrittgeschwindigkeit weiter. Spürte sein Herz klopfen.

Von Besuch hatte seine Frau gar nichts erzählt … (…)

Kreuzfahrt ins Verderben

Es sollten ihre Flitterwochen werden. Mit 20 Jahren Verspätung zwar, dafür aber umso glamouröser, inniger, romantischer. Und nun das.

Simon saß allein an der Bar des Ozeanriesen, bestellte seine vierten Rum-Cola und seine Liebste tanzte mit einem anderen. Den ganzen Abend schon. Wenn sie überhaupt noch tanzten und nicht schon …

Einmal nicht hingeschaut, schon war Ramona seinen Blicken entwichen und seitdem nicht wieder aufgetaucht. Simon führte das Glas an die Lippen und nahm einen riesigen Schluck. Er würde sie nicht suchen gehen. Die Blöße dürfte er sich auf keinen Fall geben. Hatten sie sich in eine stille Ecke verzogen und knutschen? Oder trieben sie es gar in seiner Kabine?

Simon schüttelte den Kopf und winkte mit seinem leeren Glas nach dem Kellner. Wie hatte es bloß so weit kommen können? Im Geiste ging er die letzten Tage durch. Was war bloß mit ihnen geschehen, seitdem sie dieses verfluchte Schiff betreten hatten? (…)

Frischer Wind für alte Liebe

Connys Freundinnen überboten sich wieder mal mit ihren Schilderungen. Was hatten sie bloß für tolle Männer geheiratet! Lara war mit ihrem gerade erst tauchen gewesen und zwar auf Hawaii. Kiki und Rolf hatten sich ein Wohnmobil zugelegt und gingen seitdem jedes Wochenende auf Tour. Und Sarah spielte mit Klaus im Tennisclub, mehrmals die Woche, und ab und an besuchten sie sogar die Oper.

«Und was macht ihr so?» Kiki sah Conny neugierig an und die Gespräche verstummten.

Conny sah vor ihrem geistigen Auge Ben, wie er zockte, Ben, wie er Energydrinks in sich reingoss, Benn, wie er brummte und nach seinen Chips griff, wenn sie ihm vorschlug, endlich mal wieder was zu unternehmen.

So ging es nicht weiter!

Und noch ehe sie Kiki antworten konnte, hatte sie eine Entscheidung getroffen. (…)

Hauptgewinn

Mandy riss das Kuvert auf und zog den Brief heraus. Sie überflog ihn und konnte nicht glauben, was sie da las. Dann las sie es nochmals. Musste sich setzen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich und sie hielt sich an der Tischkante fest, während sie noch einmal las, Wort für Wort jetzt, um jegliches Missverständnis zu vermeiden.

Eindeutig!

Da stand es!

Mandy war froh, dass Lasse nicht zu Hause war. Die Nachricht musste sie erst mal verdauen.

Lasse und Mandy waren glücklich in ihrem Häuschen mit Garten. Mehr brauchten sie nicht. Einmal im Jahr fuhren sie für zwei Wochen an den Lago Maggiore oder an den Gardasee. Letztes Jahr hatten sie überraschenderweise ein neues Auto gebraucht. Da musste der Urlaub leider ausfallen. Doch sonst fehlte es ihnen an nichts. Ihre Jobs waren zwar stressig, sie hatten kaum Zeit für Hobbys und Freunde, doch immerhin kamen sie über die Runden und sie hatten sich. Und nun das: Eine verdammte Million.

Zitternd hielt Mandy das Blatt in den Händen und spürte in sich hinein. Neben der Freude, dem Adrenalin, dem schwebenden Rausch war da noch etwas.

War das etwa Angst?

Was, wenn ihr Glück dieser Sache nicht standhielt? (…)

René und Barbara

«Ich glaube, jetzt reicht es.» Ihre Stimme klang sanft und bestimmt. Dann legte sie ihre Hand auf seine und zwang ihn, die Flasche zurück auf den Tisch zu stellen.

René spürte, wie Wut in ihm aufglomm. Was erlaubte sich Barbara da?

Er stemmte sich mit beiden Händen nach oben, sein Stuhl kippte um. Noch nie in seinem ganzen Leben hatte es eine Frau gewagt, ihm vorzuschreiben, wie viel er zu trinken hatte. «Was glaubst du eigentlich, wer du bist?», brüllte er los. (…)

Lustige Geschichten schreiben

Was macht lustige Geschichten eigentlich aus?

Humor, so viel ist klar.

Doch wie funktioniert Humor eigentlich?

Im Grunde genommen geht es immer darum, Erwartungen zu brechen:

  • Ein Gegenstand wird anders genutzt als vorgesehen.
  • Eine aufgebaute Erwartungshaltung wird enttäuscht.
  • Eine Figur verhält sich anders als gedacht.

Und wie bringst du den Humor nun in deine Geschichte? Zum Beispiel durch

  • komische Figuren
  • lustige Wortspiele
  • skurrile Situationen
  • merkwürdige Kombinationen
  • in Geschichten verpackte Witze.

Welche Aspekte du in deiner Geschichte einsetzt, bleibt dir überlassen. Auch eine Mischung ist möglich.

Hier kommen ein paar Vorschläge für lustige Geschichten zum Weiterschreiben …

Pimpfi, der Clown

Pimpfi, der Clown, war über zwei Meter groß. Doch sein Selbstbewusstsein war klein.

Dabei hatte er schon zehntausende Kinder mit seinen Sketchen bespaßt.

Heute erwartete ihn eine besondere Herausforderung: der kleine Tristan Traurig. Noch niemand, so hieß es, hatte ihn jemals zum Lachen gebracht.

Dabei fehlte es diesem Tristan angeblich an nichts!

Würde Pimpfi gelingen, was vor ihm noch keinem gelang? (…)

Der Tollpatsch

Bis zur Mitternachtssuppe musste er durchhalten und durfte seinen Anzug nicht versauen. Wochenlang hatte Tobi versucht, Moritz die Schnappsidee auszureden. Ausgerechnet er, Tobias Tollpatsch Prollerz sollte Trauzeuge sein und für den reibungslosen Ablauf der Hochzeit sorgen. Was für ein Witz! Doch es war zwecklos gewesen. Wenn sich Moritz einmal was in den Kopf gesetzt hatte …

Es war 7:00 Uhr morgens und heute war der große Tag. Tobias quälte sich nach einer schlaflosen Nacht aus dem Bett. Gekonnt umrundete er den Wäscheständer, machte einen großen Schritt über die Türschwelle, blieb nicht am Sideboard hängen, rannte nicht gegen irgendein anderes Möbelstück, betrat das Badezimmer, ohne sich verletzt zu haben. Dann glitt er auf dem nassen Boden aus, schrie auf und krachte gegen die Duschkabine.

«Alles klar bei dir?», rief seine Mama aus der Küche.

«Alles o.k.», trällerte Tobi, biss sich vor Schmerzen auf die Lippen und dachte: Das wird der Tag meines Lebens! (…)

Frühstücksfreude

Kevin zögerte einen Moment. Was schwamm denn da in seinem Müsli? Das war weder ein Cornflake noch eine Haferflocke und es sah irgendwie lustig aus.

Kevin nahm d as Etwas auf seinen Löffel und betrachtete es. Das Etwas streckte die Zunge raus und schnitt eine Grimasse.

In einem Anflug von Ärger öffnete Kevin den Mund, steckte den Löffel hinein und schluckte.

Erst spürte er nichts Besonderes. Dann auf einmal formte sich in seinem Magen ein Kichern, stieg prickelnd auf und brach schließlich aus ihm heraus.

«Ich habe einen Clown gefrühstückt», jappste er und brüllte vor Lachen. Und das ausgerechnet heute, an diesem für ihn so wichtigen Tag. (…)

Schelmengeschichte

Alle hielten Ronny für einen Idioten. Früher hatte er versucht, sich dagegen zu wehren. Heerscharen von Sozialarbeitern, Vertrauenslehrern, Personalräten und Anwälten hatte er über Jahrzehnte hinweg in Atem gehalten. Doch irgendwann hatte er es akzeptiert.

Nicht etwa, dass er tatsächlich ein Idiot sei, von wegen. Vielmehr bestand der Rest der Menschheit aus solchen. Denn sie erkannten Ronnys wahre Natur nicht.

Seitdem ging es ihm gut. Alle dachten immerzu, er mache sich zum Affen. Dabei war er vielmehr der Wärter in einem Käfig voller Schimpansen.

Ronny genoss jeden einzelnen Tag. Aber den heutigen würde er ganz besonders genießen. Schließlich ging sein Prozess endlich los. Seit Monaten schon hatte er in seiner Zelle darauf gewartet, seine Geschichte zum Besten zu geben. Er würde die Welt mit seinen Geschichten erheitern, oh ja. Und er würde dem Rest der Menschheit beweisen, wie bescheuert er war. (…)

Traurige Geschichten schreiben

Wozu soll es gut sein, traurige Geschichten zu schreiben? Ist das Leben nicht häufig schon traurig genug?

Traurige Geschichten schreiben ist sicherlich nicht in jedem Moment das Richtige. Manchmal kann es jedoch dabei helfen, eigene Emotionen zu verarbeiten oder wichtige Themen zu beleuchten.

Die folgenden Anfänge sollen dir dabei helfen …

Der Abschied

Romys Beine wogen tonnenschwer und in ihrem Hals saß ein dicker Kloß. Eigentümliche Stille herrschte in der Krankenhauslobby und eine leichte Note von Desinfektionsmittel hing in der Luft.

Die Aufzugtüre öffnete sich. Romy zwang sich hinein und drückte die 3. Die Türen schlossen sich und der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung.

«Magst du dich von deiner Großmutter verabschieden?» Das waren die Worte ihres Vaters gewesen.

So schlecht sollte es um Oma stehen?

Das letzte Mal, als Romy sie gesehen hatte, strotzte ihre Oma nur so vor Lebensfreude, drückte ihre Enkelin strahlend an sich und erzählte von ihren jüngsten Reiseplänen. Das war gerade mal zwei Wochen her.

Mit einem Pling kam der Aufzug zum Stehen und die Tür glitt auseinander. (…)

Auszug

Sie hatte es bis zum letzten Abend hinausgezögert. Doch nun musste sie unbedingt loslegen, wollte sie noch eine Chance haben, fertig zu werden. Morgen Früh würden die Umzugshelfer vor der Tür stehen.

Lisa klappte einen Pappkarton auf, wandte sich dem Regal zu, streckte die Hand aus – und schon überfluteten sie die Erinnerungen. (…)

Schlussmachen

«Ich hab’ dich lieb, aber ich möchte nicht mehr mit dir zusammen sein.»

Nein, das ging auf keinen Fall. Timo verwarf auch diese Version, während er in die Pedale trat und sich unaufhaltsam der Wohnung seiner Freundin, bald Ex-Freundin, näherte.

«Ich hasse dich», ging natürlich auch nicht.

Genauso wenig wie «Alles hat ein Ende, wir sind ja keine Wurst.»

Ein irres Lachen drang aus Timos Mund, dann bremste er ab und stieg vom Rad. Er war angekommen. (…)

Ein glücklicher Sommertag

Es sollte ein fröhlicher Sommertag werden draußen am See mit der ganzen Familie und Johnny. Endlich könnten ihn alle kennenlernen, ganz wundervoll würden sie sich verstehen, da war sich Hermine sicher gewesen. Und nun das!

Draußen hupte Onkel Fritz zum zweiten Mal und ließ nervös den Motor aufheulen, während Hermine auf das Display ihres Handys starrte und Johnnys Nachricht fixierte. Als könnte sie die Worte so auf magische Weise dazu bringen, sich in andere zu verwandeln. (…)

Hans-Otto

Hans-Otto war mein Ein und Alles gewesen. Im selben Augenblick, in dem ich ihn zum ersten Mal in der Tierhandlung gesehen hatte, hatte ich mich in ihn verliebt.

Ich hatte gejammert, gefleht und versprochen, mich um ihn zu kümmern. Ich hatte geschworen, ihm Futter zu geben, auszumisten und mit ihm zu spielen. Und dann, tatsächlich, hatte ich ihn zum Geburtstag geschenkt bekommen. Was für eine Freude! Was für ein Glück!

Ich erledigte meine Aufgabe jeden Tag fleißig und Hans-Otto und ich wurden die besten Freunde, die man sich nur vorstellen kann. Naja, fast jeden Tag.

Und nun war er tot.

Ich starrte auf den Käfig und über die Wangen lief mir ein Sturzbach aus Tränen.

Wie konnte das bloß passieren?

(…)

Quatschgeschichten schreiben

Gute Quatschgeschichten schreiben – kann es dafür eine Anleitung geben?

Ja und Nein, denn jeder Versuch, eine konkrete Vorgehensweise zu beschreiben, führt sich selbst ad absurdum.

Quatschgeschichten schreiben bedeutet nämlich, auf ein Stück Sinn zu verzichten. Wenn du alles richtig machst, machst du es falsch.

Achte darauf, ob du selbst Freude beim Schreiben hast. Übertreibe, weiche von den gewohnten Pfaden ab und erschaffe unsinnige Kombinationen …

Hier kommen ein paar Beispiele, wie du dabei anfangen kannst …

Der 1. April

«Heute ist der 1. April!», rief Fritzchen begeistert und sprang aus den Federn.

Was würde er diesmal wohl anstellen?

Nicht lange nachdenken, sagte er sich, besser gleich anfangen. Er schlenderte in die Küche, in der seine Eltern am Frühstückstisch saßen, und schon ging es los.

«Guten Morgen», sagte er harmlos, «wusstet ihr schon, dass (…)»

Das Nashorn und die Antilope

«Wadehadedudeda?», brüllte das Nashorn, als die Antilope mit einem Akkordeon am Wasserloch vorbeirannte.

Wusch.

Und weg war sie.

«Keine Antwort ist auch eine Antwort», grummelte das Nashorn und erhob sich. «Nichts wie hinterher!» (…)

Ein Quatschtag

Lisa hatte blonde Haare, eine Stupsnase, Sommersprossen und eine Menge Humor. Die Sommersprossen hatte sie von ihrer Mama, die Nase von ihrem Papa, bloß beim Humor wusste keiner, woher sie den hatte. Mit ihren ewigen Witzchen ging sie der Welt auf die Nerven. Doch so schlimm wie heute, an ihrem achten Geburtstag, hatte sie es noch niemals getrieben (…)

Die Sinnfrage

«Was machst du denn hier?», rief der Pfirsich erstaunt, als sich der Apfel zu ihm in den Obstsalat legte.

Der Apfel schluckte. Das hatte ihn noch keiner gefragt. (…)

Reiten

Es trafen sich einmal eine Banane und ein Pferd. Das Pferd wieherte laut und fragte die Banane, ob es auf ihr reiten könne. Da antwortete die Banane, (…)

Geschichten übers Glück schreiben

Was verstehen wir unter Glück?

Wie kann es gelingen, glücklich zu sein?

Was bedeutet ein glückliches Leben?

Diese großen Fragen der Menschheitsgeschichte gehen jeden Einzelnen an. Geschichten übers Glück schreiben bedeutet, diese Fragen neu zu stellen. Es ist nicht unbedingt nötig, darauf Antworten zu geben, jedoch möglich. Die Leser werden dazu eingeladen, sich selbst auf die Suche nach ihrer eigenen Position zu begeben.

Starte mit den folgenden Anfängen und schreib deine eigene Geschichte übers Glück!

Brief an sich selbst

Mit 20 schrieb Malte einen Brief an sich selbst und bat seinen besten Freund, ihm das Schriftstück an seinem 30. Geburtstag zu überreichen. Doch erst, als Finn zehn Jahre später in die Tasche seines Jacketts griff und ihm den Umstand hinhielt, fiel es Malte wieder ein.

Als die Party vorbei war und sich alle Gäste verabschiedet hatten, setzte sich Malte an seinen Schreibtisch, öffnete das Kuvert und begann zu lesen. Im Grunde bestand der größte Teil des Briefes aus einer Liste.

Liebes Ich in der Zukunft, begann er, dies ist eine Aufstellung aller Dinge, die ich mir wünsche, ausschließlich Dinge, die zu erreichen allein von mir abhängt. Wie ist es dir damit ergangen?

Malte ging die Liste durch, setzte im Kopf Haken um Haken und stellte fest, dass er alles erreicht hatte, jeden einzelnen Punkt.

Doch statt Stolz und Freude darüber empfand er nichts als Leere.

Dann nahm er Blatt und Stift zur Hand und schrieb einen neuen Brief. Er würde Finn bitten, ihm diesen an seinem 40. Geburtstag zu überreichen.

Liebes Ich in der Zukunft, schrieb er, ich hoffe du hast das Glück gefunden.

Dein Malte

Und schon am nächsten Tag begab er sich auf die Suche. (…)

Glücksrezept

Es gab Rezepte fürs Backen und Kochen, fürs Basteln und Schneidern und sogar dafür, ein wunderschönes Baumhaus im Garten zu bauen. Gut, dann nannte man das eher Anleitung, aber das kam schließlich aufs Gleiche raus. Bloß für das Glück fand Sophie nichts. Weder Rezept noch Anleitung, zumindest keine, bei der sie nicht schon beim ersten Lesen davon überzeugt war, dass sie niemals funktionieren würde.

Sie schloss frustriert den Internetbrowser und beschloss selbst aufschreiben, wie das eigentlich funktionierte mit dem Glücklichsein. Doch dafür musste sie erst mal verstehen, was Glück eigentlich war.

Sophie stand vom Computertisch und machte sich an die Arbeit. (…)

Der Fund

Wie jeden Samstagvormittag mähte Onkel Tobsen den Rasen. Zufrieden summte er vor sich hin und genoss es, wie sich die Melodie im Röhren des Motors verlor. Er sog diese ganz besondere Mischung aus Blüten, frisch gemähtem Rasen und Benzin durch die Nase. Oh, wie er die kleinen Freuden des Lebens genoss!

Es blieb ihm auch nichts anderes übrig, denn auf die großen Freuden musste er schließlich verzichten.

Die Hoffnung, dass sich daran noch etwas ändern würde, hatte er längst beerdigt. Seitdem ging es im wunderbar. Ratarataratann … Das Röhren des Motors erstarb.

Was war da los?

Onkel Tobi ging in die Hocke. Hob den Rasenmäher hoch. Irgendwas glänzte und glitzerte zwischen den Messern im Gras.

Was war das denn?

So einen Stein hatte Tobsen noch niemals gesehen. Er nahm ihn in die Hand und staunte, wie schwer er war.

«Ich bin ein Glücksstein», wisperte es, «was auch immer du wünscht, es geht in Erfüllung!» (…)

Eine besondere Hausaufgabe

«Und nun die Hausaufgabe!», rief der Philosophielehrer begeistert. «Führt bis nächste Woche mit mindestens fünf Personen eurer Wahl ein Interview zum Thema Glück!»

Anja stöhnte. Noch eine Aufgabe! Doch im Kopf ging sie schon Nachbarn, Freunde, Bekannte und Verwandte durch. Wen sollte sie um ein Interview bitten? Und wie würden wohl die Antworten lauten? (…)

Die Lesung

Die Glückslüge prangte in großen Lettern ganz oben auf auf der einseitigen Werbeanzeige. Etwas kleiner stand darunter Lesung und Diskussion mit dem Bestsellerautor Dr. Dieter Depri.

Irene spürte Wut in sich aufflammen und schlug die Zeitung zu.

Was hieß hier bitte Lüge? Das war ja wohl eine Frechheit.

Dann öffnete sie die Zeitung erneuet und notierte Ort, Datum und Uhrzeit. Diesem Dr. Unglück würde sie gehörig die Meinung sagen! (…)

Tiergeschichten schreiben

In Tiergeschichten kommen Tiere vor, so viel ist klar. Doch meist sind diese Tiere extrem vermenschlicht. Und genau das macht den Reiz aus. Bestimmte Eigenschaften, die wir bestimmten Tieren zuschreiben, können wir für unsere Geschichten nutzen. Und wir können damit spielen. So kommen in den folgenden Anfängen für Tiergeschichten ein wasserscheuer Pinguin, ein gutmütiger Löwe und eine todesmutige Amsel vor.

Es kommt ganz auf dich an, was du daraus machst …

Pingus großes Abenteuer

Kraks – was war das denn für ein Geräusch? Pingu, der kleine Pinguin, blickte nach unten.

Tatsächlich! Ein Riss im Eis.

Und schon löste sich seine Scholle vom Rest der Eisplatte, auf der seine Familie stand. Ausgerechnet heute, dabei hatte er gar keine Schwimmflügel an. Was sollte er tun? (…)

Die coolste Band der Welt

Eli, der Elefant, trötete über die Steppe. «Törö! Wer möchte mit mir Musik machen?»

Eli hatte einen Plan: Er wollte die coolste Band der Welt zusammenstellen. Jedes Tier würde darin eine andere Aufgabe übernehmen.

Kaum war er fertig mit Tröten, sah er eine riesige Staubwolke am Horizont. (…)

Begegnung mit einer Biene

Susi Sonnenblume schlenderte durch den Garten und summte ein Liedchen. Da hörte sie ein Stimmchen ganz nah an ihrem Ohr: «Oh, du summst so schön!»

Sie blickte sich um, doch sie konnte niemanden entdecken. (…)

Löwe gegen Piepmatz

Lennart, der Löwe, war so, so müde. Doch auf seinem Rücken saß Pepe, der Piepmatz, und piepste schon seit zwei Stunden vor sich hin. Bisher hatte Lennart versucht Pepe zu ignorieren. Doch nun reichte es ihm. (…)

Amsel gegen Katze

Ali Amsel hüpfte so wie jeden Morgen vergnügt in die Pfütze und nahm ein Bad. Da hörte er ein Fauchen, blickte auf und sah das aufgerissene Maul von Käthe Katze.

Wie ein Blitz schoss sie auf ihn zu. (…)

Krimigeschichten und Kurz-Thriller schreiben

Ein guter Krimi lebt von einer guten Auflösung. Am Ende sollten deine Leser einerseits überrascht sein, andererseits sollten sie die Pointe plausibel finden. Außerdem brauchst du eine interessante Ermittler-Figur und einen möglichst außergewöhnlichen Fall. Eine Krimigeschichte funktioniert da nicht anders als ein Kriminalroman, nur eben ein gutes Stück kompakter, ohne allzu viele Wendungen.

Bei einem Thriller kommt zu all dem noch die akute Gefahr dazu. Dein Ermittler kann selbst ins Visier des Täters geraten. Oder muss potentielle Opfer retten und gegen die Zeit arbeiten. Auch psychologische Untiefen und ein Spiel mit Wahn und Wirklichkeit sind beliebte Möglichkeiten.

Nutze die folgenden Anfänge zum Weiterschreiben, um fesselnde Kurzkrimis und Mini-Thriller zu Papier zu bringen …

Überraschender Einsatz

Da da da da. Da da da da. Beethovens Neunte riss Kommissar Bergedorf aus dem Schlaf. Er brummte und knipste das Licht an. 2:30 Uhr. Da da da da da. Da da da da. Schlaftrunken tastete er nach dem Handy. Er musste den verdammten Klingelton ändern. Da da da – «Bergedorf», murmelte er, auf das Schlimmste gefasst. (…)

Die Rache des Verkehrspolizisten

Zum Verkehrspolizisten degradiert. Was für ein schlechter Witz. Nur weil der neue Chef ihn nicht ausstehen konnte. Schmidtchen hob die Kelle und die Fahrzeuge stoppten, dann drehte er sich um und winkte den Autofahrern auf der anderen Seite der Kreuzung zu.

Ein schwarzer Mercedes setzte sich in Bewegung.

War das nicht ….? Der Typ hatte ihm doch die ganze Scheiße hier eingebrockt! Na warte … (…)

Tatortreiniger

«Suppinski, ich bin der Tatortreiniger!»

Wie immer verzog mein Gegenüber sein Gesicht, als ich ihm die Hand reichte und versuchte zugleich, sich nichts anmerken zu lassen. Ich zeigte den Freigabebescheid vor und machte mich an die Arbeit.

Eine Beziehungstat, das hatte ich in der Zeitung gelesen. Der Täter habe erst seine Frau, dann sich selbst umgebracht und zwar – dieses Detail hatte den Ehrenplatz auf Seite 1 garantiert – mit einer Machete.

Ich hatte noch nicht alle meine Mittelchen, Schwämme und Bürsten ausgepackt, da war mir schon klar: Diese Version konnte nicht stimmen. (…)

Die Rache

«Überraschung!»

Die Stimme meiner Ex klang zuckersüß aus der Soundanlage des Fahrstuhls. Wäre die Trennung anders verlaufen, hätte ich einen Zufall vermutet, verwirrend im ersten Moment, doch letztlich erklärbar. Doch ich wusste, wie krank Mary drauf war.

«Das wirst du bereuen», hatte sie vorhergesagt.

Nun war es offensichtlich soweit. (…)

Romantasy-Geschichten schreiben

Romantasy-Geschichten sind Liebesgeschichten, die in einer Fantasy-Welt spielen.

Diese noch recht junge Spielart kombiniert damit zwei extrem erfolgreiche und beliebte Genres. Übrigens sind alle Spielarten und Subgenres von Fantasy möglich, egal ob High-Fantasy, Urban- Fantasy oder Dark-Fantasy.

Und auch den Irrungen und Wirrungen der Liebesgeschichte sind keine Grenzen gesetzt. Das Besondere deiner Romantasy-Geschichte liegt dabei möglichst sowohl in der entworfenen Welt als auch in der Lovestory …

Versuch es einmal mit einem der folgenden Anfänge!

Vampirliebe

Ganz sanft fing es an. Ein leichtes Kribbeln in den Zehen- und Haarspitzen. Es wanderte in die Mitte des Körpers, bis Dennis ganz davon erfüllt war. Blut! Er roch Blut!

Dennis erhob sich und folgte dem süßlichen Duft seiner wildesten Träume. (…)

Der Zauber

«Raberikope Laudatio Primo!» Es tat einen Knall und ein heller Blitz schoss aus dem Stein.

Lian schreckte zurück.

Vor ihm wirbelte dichter Nebel umher. Das war ihm noch nie bei seinem Kreativzauber passiert. Er hatte doch nur eine fantastische Festrede für seinen großen Auftritt auf der Preisverleihung heute Abend herbeizaubern wollen.

Na nu? Was war das denn jetzt?

Der Nebel lichtete sich und gab den Blick frei auf ein Wesen, so schön und hell und glitzernd, wie Lian noch nie zuvor eines gesehen hatte. (…)

Der Auftrag

«Ich krieg’ das alleine hin!» Mary legte alle Überzeugungskraft in ihre Stimme. «Ich brauche keinen Partner für diese Mission!»

«Mein Kind», wiederholte der alte Londolf zum zigten Mal, «so lauten nun mal die Statute, ich darf und werde mich nicht über sie hinwegsetzen. Auch wenn ich natürlich weiß, dass du alles alleine schaffst und niemals Hilfe brauchst.» War da etwa ein spöttischer Unterton in seiner Stimme? «Nun schau doch erst einmal, wen ich dir mitgebracht habe.»

Der Alte machte eine einladende Handbewegung und in der Wand tat sich eine Tür auf. Mary hatte sie zuvor gar nicht bemerkt. Herein trat ein Graumariner, wie an seinem Umhang unschwer zu erkennen war. Blutjung, arrogant und dazu auch noch ein hübsches Gesicht. Selbstbewusst trat er auf Mary zu und streckte die Hand aus. (…)

Laris Opfer

«Spiel nicht so viel rum! Ich wünsche mir etwas mehr Ernsthaftigkeit!» Lari Fari hatte die Stimme ihrer Mutter im Ohr, als sie aus dem Feennest flatterte, um der großen Stadt, deren Türme am Horizont zu erkennen waren, mal wieder einen Besuch abzustatten.

Welche zwei ganz besonderen Menschenkinder würde sie wohl diesmal bestäuben?

Welche zwei Glücklichen würden heute begreifen, dass sie füreinander bestimmt waren?

Welche skurrile, witzige oder ganz und gar abwegige Paarung würde Lari wohl heute zu Stande bringen?

Sie spürte dieses unbeschreibliche Jucken in ihren Flügeln, wie jedes Mal, wenn sie so richtig Spaß haben würde. Und noch ehe sie die Stadt erreichte, war die Stimme ihrer Mutter vergessen. (…)

Kurzgeschichten schreiben

Klassische Kurzgeschichten verfügen typischerweise über folgende Eigenschaften:

  • alltägliche Figuren in für sie bedeutsamen Situationen
  • ein offener Einstieg
  • ein Umschwung von Glück ins Unglück oder andersherum
  • ein offenes Ende.

Häufig wird der Begriff Kurzgeschichte jedoch auch synonym für kurze Geschichte verwendet. Hier geht es also vor allem darum, dass deine Story nicht zu lang wird …

Nutze die folgenden Einstiege, um eine klassische Kurzgeschichte oder einfach nur eine kurze Geschichte zu schreiben!

Der Brief

Als Toni den Briefkasten aufschloss, rechnete er wie immer mit gähnender Leere. Oder mit Rechnungen.

Doch ein Schreiben der Lotteriegesellschaft?

Das hätte er niemals zu hoffen gewagt, auch wenn er wöchentlich mit hohen Einsätzen spielte.

Mit zittrigen Fingern trug er den Umschlag ins Haus. (…)

Der Zusammenstoß

«Hoppla!», hörte Lara eine Stimme sagen und wurde in ihrem Stechschritt gestoppt.

«Passen Sie doch auf!», blaffte sie und blickte nach oben. Moment, war das nicht …? (…)

Der Name

Unter tosendem Applaus betrat Hans die Bühne. Er hatte es tatsächlich bis ins Finale geschafft! Zwar nur auf der Kleinkunstbühne in Hintergriesenthal, doch immerhin.

Endgültig war er seinem schüchternen, pickligen, früheren Ich nun entronnen! Bis zum Weltruhm waren es nur wenige Schritte, verglichen mit dem Weg, den er hinter sich hatte. So viele Jahre lang hatte er mit sich gehadert. Doch nun war er angekommen.

«Herzlich willkommen, liebe Liebenden der ganz großen Kunst!», brüllte er ins Mikrofon und zog eine seiner berühmten Grimassen. Die Menge johlte und klatschte und dann breitete sich gespannte Erwartung aus, die Hans bis zum letzten Moment auskosten wollte. Und wenn es die Crowd kaum noch aushielt, würde er mit einer seiner stärksten Pointen starten.

Hans Schwanz!“, durchbrach eine Stimme die Stille. Hans’ Knie wurden weich.

Seit wie vielen Jahren hatte er diese Beschimpfung schon nicht mehr gehört?

Die Welt um ihn herum begann sich zu drehen. (…)

Der Termin

«Guten Morgen, Herr Mayer. Kommen Sie bitte nach Unterrichtsschluss zu mir ins Büro.»

«Mach’ ich», erwiderte Studienrat Meyer, doch die Schulleiterin war schon weiter gerauscht, um hier und da für Unruhe im Lehrerzimmer zu sorgen.

Was wollte sie bloß von ihm? Hatte er wieder was falsch gemacht? Hatte ihn ein Schüler oder gar ein Kollege verpetzt?

Er musste unbedingt herausfinden, was los war, um sich zu wappnen. (…)

Der Knall

Olli setzte widerwillig den Blinker. Nur noch knapp 100 Kilometer, da brauchte er nun wirklich keine Pause. Aber er würde wieder Probleme kriegen, wenn er sich nicht an die Vorschriften hielt.

Immerhin war der Rastplatz halb leer. Olli steuerte auf eine Lücke in der Nähe des Restaurants zu, da ertönte ein Knall. Er zuckte zusammen, blickte in den Rückspiegel. Ein riesiger Feuerball stieg in den Himmel und wurde schnell größer. (…)

Fabeln schreiben

In Fabeln geraten meist Tiere in einen Konflikt. Diese stehen jeweils für bestimmte menschliche Eigenschaften, Haltungen oder Überzeugungen. Somit sind Fabeln pädagogische Geschichten, da sie meist eine Lehre vermitteln sollen. In der Zeit der Aufklärung erlangten sie besondere Beliebtheit, da hier die Bildung im Zentrum stand.

Achte beim Schreiben von Fabeln darauf, dass die von dir verwendeten Tiere klar für etwas stehen. Diese Figuren sind eher schematisch, charakterlich ausgestalten brauchst du sie nicht.

Giraffe und Kamel

Eine Giraffe biss genüsslich die zartesten Blätter von ganz oben aus der Krone eines riesigen Affenbrotbaumes ab, da höre sie eine Stimme.

«Hey, du da oben, gibst du mir auch etwas ab?», rief ein Kaninchen tief unter ihr. «Wenn du mich hochhebst bis in die Spitze, zeige ich dir, wie man hoppelt!» (…)

Der Löwe

Das Brüllen des Löwen hallte durch die Savanne. Er hatte riesigen Hunger.

Ein junger Präriehund, eine Babyantilope und ein Zebra waren miteinander befreundet. Sie standen am Wasserloch und hörten den Löwen. Ängstlich blickten sie sich an.

Das Brüllen kam näher. Der Präriehund suchte hektisch nach einem Loch und das Zebra scharrte bereits mit den Hufen.

«Bleibt besser hier», sagte die Babyantilope. «Ich habe eine Idee, wie wir dem Löwen eine Lektion erteilen. Keiner soll mehr Angst vor ihm haben!» (…)

Die Begleitung des Pfaus

Der Pfau war so wunderschön, dass ihn alle auf seinem Spaziergang begleiten wollten. Doch der Pfau wollte nur ein anderes Tier dabei haben.

Bis auf drei Tiere hatten sich schon alle bei ihm vorgestellt. Er hatte alle abgelehnt. Entweder waren sie ihm zu klein, zu groß, zu dick, zu dünn, zu schön zu hässlich, zu dumm oder zu klug gewesen.

Übrig waren nur noch der Igel, der Fuchs und die Schlange. (…)

Der Bär und der Hase

Dem Bären ging es schlecht. Früher war er groß und stark gewesen und alle Tiere des Waldes hatten sich vor ihm gefürchtet. Doch nun war er alt und schwach und seine Macht reichte gerade mal bis zu dem Bach, der in einiger Entfernung an seiner Höhle vorbei plätscherte.

Als er so vor seiner Höhle saß und vor sich hin schmollte, erblickte er einen Hasen auf der anderen Seite des Bachs. Das war früher sein Land gewesen! Im Grunde genommen war es das immer noch.

All der Hass der letzten Jahre konzentrierte sich nun auf den neuen Nachbarn. Es schien dem Bären, dass dieser verdammte Hase Schuld an seinem Unglück sei. Grummelnd erhob er sich, um seinen bösen Gedanken Taten folgen zu lassen. (…)

Das Nashorn und das Krokodil

«Hallo, guten Tag», sagte das Nashorn, als es an das Wasserloch trat. «Ist jemand zu Hause?»

Es rechnete zwar nicht damit, dass hier jemand wohnte. Doch beim Trinken wollte es unangenehme Überraschungen vermeiden.

Da tauchte aus dem trüben Wasser ein Krokodil auf. «Sie wünschen?», fragte es und ließ sein Maul auf und zu schnappen. (…)

Fantasygeschichten schreiben

Das Genre Fantasy ist längst ein ungemein weites Feld. Fantasygeschichten schreiben ist nicht gleich Fantasygeschichten schreiben.

Im Folgenden findest du Geschichtenanfänge, in denen Fantasyelemente in unsere gewohnte Welt einbrechen, in denen eine komplette Fantasiewelt entworfen wird oder in denen auf humoristische Weise fantastisch erzählt wird.

Welche Art Fantasygeschichten passen am besten zu dir?

Probier’s aus!

Der Drachenflug

Unter ihnen erstreckten sich die glitzernden Weiten eines Meeres aus schimmerndem Eis, das immer wieder von feuerspeienden Bergen durchbrochen wurde. Novalis klammerte sich an den Golddrachen, der ihn mit kräftigem Flügelschlag seinem Ziel entgegen trug: der Tropfsteinhöhle von Alkalabanter. (…)

Der Schlüssel

Was glitzerte denn da im Gras?

Luise ließ den Blumenstrauß fallen, den sie aus Langeweile gepflückt hatte, und streckte die Hand aus.

Es war ein Schlüssel, und was für einer! Der Kopf war mit Edelsteinen verziert und wirkte so prachtvoll, als hätte ihn jemand aus einer Schatzkammer geklaut. Und das mitten auf der Wiese hinter ihrem Haus! (…)

Der Zug aus dem Nichts

Wie aus dem Nichts war er aufgetaucht. Nun stand er da, dampfend und fauchend.

Torben sah zu den anderen Kindern. Doch keiner außer ihm schien den Zug zu bemerken.

Der Zug sah aus, als wäre jemand direkt aus der Vergangenheit hierher gereist, nach Trostbüttel, um mitten auf dem Schulweg neben den Tischtennisplatten zum Stehen zu kommen. Dabei gab es hier nicht einmal Gleise.

Ein Schaffner lehnte sich aus der Tür und winkte. Torben drehte sich um, doch hinter ihm stand keiner. Meinte der etwa ihn?

«Na los, worauf wartest du noch!», rief der Schaffner, «steig ein!» (…)

Erwacht

Nova hatte gut geschlafen und endlich mal wieder genug. Sie blinzelte, erhob sich aus ihrem Moosbett und blickte sich um.

Immer noch Wald, das gefiel ihr. Das letzte Mal war sie schon nach wenigen Monaten geweckt worden, als jemand einen Baum fällen wollte, an dessen Füßen sie ruhte. Doch dieses Mal schien sich nur wenig geändert zu haben. Dabei hatte sie bestimmt an die 1000 Jahre geschlummert.

Sie trank etwas Tau, naschte ein paar Beeren und flatterte zur Probe mit ihren Flügeln. Dann machte sie sich frisch und ausgeruht auf den Weg. Mal sehen, was aus der Menschheit geworden war. (…)

Bitte um Einlass!

Kabumm! Eizi Eishorn rammte sein Horn gegen die Pforte.

Kabumm! «Aufmachen! Endlich aufmachen!»

Warum reagierte denn keiner? (…)

Geschichten für Kleinkinder schreiben

Gute Geschichten schreiben – was das bedeutet, hängt stark davon ab, für wen du die Geschichte schreibst.

Gute Geschichten für Kleinkinder zeichnen sich dadurch aus, dass deine Zielgruppe sie versteht. Pass deine Ausdrucksweise und die Komplexität der Sprache entsprechend an.

Des Weiteren sollten sich die Kinder mit deinem Thema und den handelnden Figuren verknüpfen. Die Handlung darf also nicht zu kompliziert sein. Gestalte des Weiteren die Konflikte und Gefahren unbedingt kindgerecht …

Das traurige Krokodil

Das Krokodil war traurig. Wo war bloß seine Mütze hin? Eben hatte es sie noch auf dem Kopf. Und nun war sie weg. (…)

Eine Bello-Geschichte

Bello hat bald Geburtstag. Er wünscht sich eine riesige Tafel Schokolade. Doch wie soll er das bloß Herrchen und Frauchen erklären? (…)

Das Kitafest

Heute ist Sommerfest in der Kita. Paul ist ganz aufgeregt. Gleich nach dem Frühstück schnappt er sich Mama und Papa und sie gehen los. Was sie in der Kita wohl alles erwartet? (…)

Die Kirmes

Einmal mit dem Riesenrad fahren. Nur ein einziges Mal! Das will Mia unbedingt. Aber Mama hat Höhenangst. Papa möchte Bockwurst essen. Und Opa und Oma sind nicht aus dem Boxauto rauszubekommen. Was soll Mia bloß tun? (…)

Der Stau

Endlich Urlaub! Das gesamte Gepäck war im Wagen verstaut, Mama drückte auf die Play-Taste, unser Lieblingslied erklang und Papa fuhr los.

Doch schon nach wenigen Kilometern stoppte der Wagen.

Stau! 15 km langer Stau, sagte die Stimme im Radio.

Wie langweilig!

Was sollten wir tun? Da hatte Mama eine Idee. (…)

Geschichten für Kindergartenkinder schreiben

Welche Themen treiben Kindergartenkinder um?

Welche Wünsche haben sie?

Welche Ängste?

Welche Art Konflikte begegnen ihnen?

Und wie sehen gute Lösungen aus?

Diese und ähnliche Fragen solltest du dir stellen, wenn du Geschichten für Kindergartenkinder schreibst. Finde Antworten, die zu deiner Zielgruppe passen!

Doch mit dem Inhalt ist es noch nicht getan. Achte auch auf deinen Schreibstil. Die Geschichte sollte verständlich geschrieben sein und du solltest ohne große Umschweife, zur Sache zu kommen.

Die folgenden Geschichtenanfänge sollen dir als Beispiel dienen …

Der Tag, an dem der Ball verschwand

Maxi liebte seinen blauen Ball mit den rosa Punkten. Jeden Morgen, gleich nach dem Aufstehen, nahm sie ihn in die Hand, um damit zu spielen. Doch eines Morgens war er verschwunden. (…)

Spielzeugtag

Freitag ist Spielzeugtag in der KITA. Doch Josephine hat keine Ahnung, welches Spielzeug sie von zu Hause mitnehmen soll. Sie besitzt so viele tolle Sachen! Wie soll sie sich bloß entscheiden? (…)

Das Theaterstück

Frau Möhrle bat uns alle gut zuzuhören. Wir saßen im Kreis und starrten unsere Erzieherin erwartungsvoll an.

«Wir bereiten ein Theaterstück vor», sagte sie und strahlte. «Und zur Aufführung laden wir alle Mamas, Papas, Omas und Opas ein» (…)

Moni will auch

Alle Kinder dürfen jeden Tag Fernsehen. Und zwar mindestens zehn Stunden. Davon ist Moni überzeugt. Maxi und Samy und Liselotte erzählen schließlich jeden Tag in der KITA, was sie wieder Tolles angeschaut haben. Bloß Mama und Papa scheinen das anders zu sehen. Schon wieder wollen sie statt fernzusehen einen Spaziergang machen. Moni protestiert. (…)

Super-Toni

Am Tag ist Leni ein ganz normales Kind. Doch in der Nacht, sobald sie die Augen schließt, verwandelt sie sich in Super-Leni Sie ist schon gespannt, welches Abenteuer sie diesmal erlebt. (…)

Coming-of-Age-Geschichten schreiben

Coming-of-Age-Geschichten sind Geschichten übers Erwachsenwerden. Ein Jugendlicher Protagonist macht eine für ihn wichtige Entwicklung durch. Dabei geht er oder sie durch Höhen und Tiefen, setzt sich mit anderen Menschen auseinander und kommt an seine Grenzen.

Die folgenden Geschichtenanfänge helfen dir dabei, deine eigene Coming-of-Age-Geschichte zu schreiben …

Generationenkonflikt

«Solange du deine Füße unter meinem Tisch …»

Vaters Stimme donnerte durch den Raum, doch dann unterbrach er sich. Was war das, verdammt?, fragte er sich.

Ich hatte die Lunte gezündet. (…)

Durchgebrannt

Ich drehte den Schlüssel um, der Motor stotterte, dann sprang er an. Doch mein Herzschlag übertönte ihn. Dabei hatte das Biest unter meinem Hintern über 600 PS. Jedes einzelne von ihnen gehörte eigentlich dem Alten. Jetzt gehörten sie mir.

Ich gab sanft Gas. Die Antwort kam prompt mit pulsierendem Röhren. Ich kontrollierte im Rückspiegel mein Outfit. Cappy und Sonnenbrille saßen perfekt. Kein Polizist der Welt würde mir ansehen, wie alt ich war. Erst recht nicht bei dem Tempo, mit dem ich an ihm vorbeirauschen würde. Na dann, nichts wie los!

Die Unerreichbare

Als ich sie zum ersten Mal sah, trat die Magie in mein Leben. Dunkelblonde Locken, eine Sonnenblumenspange im Haar, weiße Rüschenbluse, Doc Martens. Alternativ, bildschön und stilvoll. Genau mein Fall.

Langsam bewegte ich mich auf sie zu. Doch schon nach wenigen Schritten schob er sich ins Bild:Toni a.k.a. Hackfresse a.k.a. Riesenbizeps a.k.a. Spatzenhirn. Er trat auf sie zu, ich blieb stehen. Versteckte mich hinter einer Säule.

Toni streckte den Arm aus, sagte was. Vermutlich irgendwas komplett Idiotisches. Die Sonnenblume lachte, berührte ihn an der Schulter.

In mir starb die Magie und machte Platz für den Hass. In atemberaubendem Tempo stieg er in mir auf, jede kleinste Zelle sog sich mit ihm voll. Bis mein Körper damit komplett ausgefüllt war. Das wird er bereuen, schwor ich mir. (…)

Das Geständnis

«Ich liebe dich!»

Hatte er das tatsächlich gerade gesagt? Wie abgedroschen war das denn bitte!. Und was sollte Lucy bloß davon halten? (…)

Das Verbot

«Du gehst nicht auf dieses Konzert!»

Ich hatte die Stimme meiner Mutter in Dauerschleife im Ohr. Mit jeder Wiederholung gewann sie an Kraft, obwohl die Worte schon beim Aussprechen schon mehr als deutlich gewesen waren. Doch nun war das Verbot zur felsenfesten Wahrheit geworden, zum Hochsicherheitstrakt, aus dem der Insasse, also ich, niemals auch nur daran denken sollte, den Ausbruch zu wagen.

Was mich nicht die Bohne interessierte.

Ich streckte den Arm aus dem Fenster, klammerte mich an die Regenrinne und stieß mich ab. (…)

Gruselgeschichten schreiben

Gruselgeschichten müssen vor allem eines: gruselig sein.

Folgende Elemente können dir dabei helfen, dies zu erreichen:

  • klassische Gruselsymbole wie Fledermäuse oder Blutspuren
  • unheimliche Handlungsorte wie verwunschene Schlösser oder dunkle Keller
  • Andeutungen möglicher Bedrohungen und Gefahren
  • gefährliche Ziele und Missionen deiner Figuren
  • Figuren mit potentiell gruseligen äußeren und inneren Eigenschaften

Des Weiteren solltest du deine Geschichte möglichst lebendig zu erzählen. So kann sich das Gruseln beim Lesen maximal entfalten.

Dies gelingt z.B. durch

  • das Einbinden von Sinneseindrücken
  • stimmiges Abwechseln von kurzen und langen Sätzen
  • Cliffhanger am Ende von Absätzen
  • interessante Wechsel in der Erzählperspektive
  • das Einbinden verstörender Erinnerungen.

Nutze die folgenden Anfänge und schreibe deine eigene Gruselgeschichte!

In Gefahr

Das Messer war an der Schläfe eingedrungen, hatte sich quer durchs Gehirn gebohrt und kam nun auf der anderen Seite wieder zum Vorschein. Doch mein bester Kumpel Max hüpfte immer noch auf meinem Bett herum und sang dazu Highway to hell.

Aber auch ich war hart im Nehmen. Schließlich steckte eine eindrucksvolle Axt in meinem Schädel, doch ich trug stoisch dunklen Lidschatten auf. Der brachte die Blutspuren auf Stirn und Wangen erst so richtig zur Geltung.

«Na, sind wir langsam hübsch genug für die Halloweenparty?» Max hatte seine Performance beendet, war hinter mich getreten und ruckelte mit einer Hand das Messer zurecht. «Noch etwas Kunstblut gefällig?»

Ehe ich antworten konnte, hatte er mit der anderen Hand schon die halbe Tube in meinen Nacken gequetscht. Ich kreischte auf. «Damit locken wir auf dem Weg bloß die Zombies an!», schimpfte ich. Da hatte ich noch keine Ahnung, wie verdammt recht ich behalten sollte. (…)

Der Keller

«Hol’ mir doch mal eben eine Marmelade aus dem Keller», hatte Oma gesagt. «Oder hast du etwa Angst?»

«Angst? I wo!», hatte ich entgegnet und mich auf den Weg gemacht.

Und nun stand ich hier.

Auf der engen Steintreppe, atmete flach, um den Modergeruch auszuhalten.

Ich klammerte mich an den Handlauf, da meine Knie so weich waren. Wie sollten sie mich aus diesem Schlund jemals wieder nach oben tragen? Ich würde da unten neben alten Einmachgläsern und Konservenbüchsen verschimmeln, ausgelaugt und kraftlos den Ratten zum Fraß ausgeliefert.

Und doch tat ich den nächsten Schritt hinab in die Tiefen. Denn zurück konnte ich auch nicht. Was würde Oma bloß denken, wenn ich mit leeren Händen wiederkäme?

Da ertönte ein Schrei.

Ich erstarrte in der Bewegung, mein Fuß schwebte über der nächsten Stufe, mein Herzschlag setzte aus. Ich hatte es ganz deutlich gehört. Es klang zwar gedämpft, doch maximal verzweifelt.

Da unten wurde jemand zu Tode gequält.

Was hatte die Frau, die ich als meine Großmutter kannte, bloß in ihrem Keller versteckt? Was waren ihre wahren Motive, mich hier runter zu schicken? Und was sollte ich jetzt bloß tun? (…)

Der Klassenlehrer

Die erste, die merkte, dass etwas nicht stimmte, war Mina.

«Guck mal», wisperte sie, als sich Dr. Brunner zur Tafel drehte.

«Was denn?», fragte ich genervt, da sie mich in meiner Zeitungslektüre unterbrochen hatte. Mathe war für mich die perfekte Gelegenheit, mich über das Weltgeschehen zu informieren. Denn solange die Mathegenies den Unterricht schmissen, war Brunner egal, was die anderen trieben.

«Da war eine Schabe in Brunners Nacken, die kam aus ihm raus», flüsterte Mina. «Das ist gar nicht Brunner, das ist ein Zombie.»

Ich schnaufte und studierte das Gesicht meiner Nachbarin. Die Gute hatte mal wieder zu viel Netflix geguckt.

«Komm mal runter», murmelte ich und wandte mich wieder dem Bericht über die drohende Finanzkrise zu. Dabei streifte mein Blick Dr. Brunner.

Was war das denn gerade gewesen?

Ich sah nochmals hin.

Und da sah ich es auch.

Im selben Moment verwandelte sich der Klassenraum in eine Kralle, die uns umklammert hielt und sich langsam schloss. Ich wollte aufspringen, wegrennen, die Tür aufreißen, weg hier, bloß weg!

Doch meine Muskeln verweigerten den Befehl.

Ich klebte am Stuhl fest, mein Atem ging schnell.

«Alles klar bei dir?», fragte Mina.

(…)

Die Liebhaberin

Endlich war er am Ziel angekommen. Den ganzen Abend lang hatte er diese süße blonde Zuckerschnecke angegraben und nun drückte er tatsächlich die Tür seiner Wohnung hinter ihnen ins Schloss. Sie war mindestens 20 Jahre jünger als er. Noch keine 30. Und ihre Maße waren wie aus dem Katalog. Der fetteste Fang seit Wochen.

Eine Hand fuhr in seinen Nacken, mit der anderen griff ihm die Süße um die Taille und lenkte ihn sanft in Richtung Schlafzimmer. Er spürte ein Pochen in seinem Schritt. Da fiel sein Blick auf den Spiegel im Flur.

Er sah sich selbst in den Armen einer Greisin, deren braun gefleckte Zunge aus einem zahnlosen Mund glitt und über seine linke Ohrmuschel fuhr. (…)

Philosophische Geschichten schreiben

Der Ausdruck Philosophie wird häufig mit Freundschaft zur Weisheit oder Liebe zur Weisheit übersetzt. Was also sind philosophische Geschichten?

Philosophische Geschichten beschäftigen sich mit philosophischen Themen. Sie ermöglichen es den Lesern, Fragen zu stellen und weiterzudenken. Dabei geht es um grundsätzliche Themen, die uns als Menschen angehen.

Die folgenden philosophischen Geschichten zum Weiterschreiben berühren verschiedene philosophische Disziplinen: Ethik, Anthropologie, Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie. Nutze sie und philosophiere durchs Kreative Schreiben auf eine etwas andere Art …

Liebe zur Weisheit

«Philosophie, das heißt Liebe zur Weisheit!» Kalle hatte die Stimme seines alten Philosophielehrers im Ohr, als er in den Zug stieg und zu seiner großen Reise aufbrach. Wenig später blickte er im Fenster den Dächern seiner Heimatstadt dabei zu, wie sie am Horizont verschwanden. Weise, oh ja, das wollte er werden. (…)

Dilemma-Geschichte

«Entweder du entscheidest dich zwischen einem deiner Kinder oder beide sind tot.»

Das Monster ließ seinen Worten ein hämisches Lachen folgen und startete den Timer. Susanne blieben noch 4 Minuten und 57 Sekunden. (…)

Anthropologisch

«Und was soll das alles eigentlich?», fragte der eine Gott den anderen.

«Du meinst geboren werden, das bisschen Leben und dann wieder sterben?», meinte dieser, beobachtete irritiert das menschliche Treiben und hatte keine rechte Antwort parat. (…)

Erkenntnistheoretisch

Melina schlenderte über den Trödelmarkt ihrer Heimatstadt so wie jedes Jahr. Alte Postkarten aus aller Welt besaß sie schon, goldverzierte Leuchter ebenfalls sowie antike Bücher ohne Ende. Und gebrauchte Klamotten – nee, darauf hatte sie nun fürwahr keine Lust.

Doch was war das da?

Sie näherte sich einem kleinen Stand etwas abseits, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Eine alte, faltige Frau saß dahinter, in einen dicken Pelzmantel gehüllt, und nickte ihr zu. Melina griff nach einer der vielen bunten Brillen, die nebeneinander aufgereiht waren, und setzte sie auf. Ab diesem Moment war für sie nichts mehr wie zuvor. (…)

Die verlorene Sprache

Karl wachte auf und wusste, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Als er an den Frühstückstisch trat und seine Frau ihn begrüßte, wollte er etwas erwidern. Doch es gelang ihm nicht. Und auch, als sie ihn stirnrunzelnd ansah und fragte, was los sei, blieb er stumm. Nach und nach wurde ihm klar: Er hatte seine Sprache verloren.

Medizinische Ursachen wurden nach etlichen Arztbesuchen ausgeschlossen. Karl sei tipptopp gesund meinten die Ärzte. Doch das half ihm wenig. Seine Sprache hatte er noch immer nicht wieder. Also beschloss er, sich auf die Suche zu machen. (…)

Kalendergeschichten schreiben

Kalendergeschichten sind kurze, einfache Geschichten, die früher auf Kalenderblättern erschienen. Häufig sind sie unterhaltsam und verfügen über eine Pointe oder Moral am Ende. Sie beschäftigen sich mit allgemeinen Lebensfragen, gesellschaftlichen Debatten oder aktuellen Entwicklungen. Ansonsten gibt es keine verbindlichen formalen Merkmale, denen sie entsprechen müssen.

Nutze die folgenden Anfänge zum Weiterschreiben und verfasse deine eigene Kalendergeschichte …

Die Diagnose

Dorothee hatte ihr Leben lang gearbeitet. Seit wenigen Wochen erst befand sie sich im Ruhestand. Noch war sie dabei, sich an ihr neues Leben zu gewöhnen. Und nun das. Nur noch sechs Monate gab ihr der Arzt. Hätte sie sich doch bloß nicht von ihm untersuchen lassen! (…)

Trotz

Florian wollte spielen, sich mit Freunden treffen, Fernsehen. Florian wollte so vieles, bloß Hausaufgaben machen wollte er nicht. Seine Eltern waren erst ratlos, dann unwirsch schließlich verzweifelt. Was sollten sie tun? (…)

Sabattjahr

Fünf Jahre lang hatte Rio auf dieses Jahr hin gespart. Und nun stand tatsächlich sein vorerst letzter Arbeitstag an. Danach hätte er 365 Tage Zeit, um ausschließlich das zu tun, was er wollte. Nicht länger das, was andere von ihm verlangten. Würde es ihm gelingen, das Jahr sinnvoll zu nutzen? (…)

Die Verlockung

Die kleine Schatulle sah verlockend aus. Nur ein Griff danach, schon wären Martas Sorgen für immer gelöst.

Sie zögerte kurz.

Dann ließ sie den Schmuck mit einem unauffälligen Griff in die Tasche ihres Mantels gleiten und wandte sich dem Ausgang des Juweliergeschäfts zu. (…)

Die Räumung

Das kleine Dörfchen Blitzebath bestand seit beinahe 500 Jahren. Damals hatten sich die Menschen um ein großes Gehöft herum angesiedelt und eine kleine Kapelle erbaut. Und nun hieß es im Radio, eine Hundertschaft rücke an, um die letzten starrköpfigen Bewohner wegzuschaffen, bevor man die Gebäude abreißen würde.

Heinz war jetzt beinahe 70. Sein ganzes Leben lang hatte er in dem Dorf gelebt. Er zog die Kette fester, mit der er sich an den Brunnen auf dem Marktplatz festgemacht hatte. Ihn bekamen sie niemals hier raus! (…)

Geschichten weiterschreiben – jetzt bist du gefragt!

100 Geschichten-Anfänge zum Weiterschreiben – das ist jede Menge.

Wie sollst du dich für einen davon entscheiden?

Probier am besten Verschiedenes aus. Spüre in dich hinein und schreib die Geschichten weiter, die dich emotional ansprechen. Wage dich in Bereiche, in denen du literarisch bisher wenig unterwegs warst. Und lass dich dazu inspirieren, auch ohne vorgegebene Anfänge Geschichten zu schreiben.

Du kannst die vorliegenden Anfänge auch wundervoll als autodidaktischen Schreibkurs nutzen. Nimm dir z.B. für jeden Tag einen anderen Anfang vor und schreibe eine Geschichte. So kannst du mehr als drei Monate lang dein Kreatives Schreiben weiterentwickeln.

Oder beschäftige dich jede Woche mit einer anderen Kategorie. So erweiterst du dein Repertorie beim Geschichtenerzählen. Du findest so auch heraus, für welche Art Geschichten du besonders brennst und welche dich weniger interessieren. Probierst du alles aus, wartet hier vielleicht noch die ein oder andere überraschende Erkenntnis auf dich.

Welche Anfänge zum Weiterschreiben auch immer du wählst – das Allerwichtigste ist, dass du schreibst! Dies sind bloß Impulse für deine Schreibinspiration. Du kannst sie nach Belieben

  • verändern
  • umschreiben
  • als Anstoß für ganz andere Anfänge nehmen.

Geschichten zum Weiterschreiben, Schreibratgeber, Schreibseminare, Schreibcoaching und viele weitere Inspirationen kann ich dir bieten. Doch ich kann das eigentliche Abenteuer nicht für dich übernehmen. Schriftsteller werden musst du schon selbst!

Hast du eine interessante Geschichte zu einem der Anfänge geschrieben?

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22 Kommentare, sei der nächste!

  1. Liebe zur Weisheit

    »Philosophie, das heißt Liebe zur Weisheit!« Kalle hatte die Stimme seines alten Philosophielehrers im Ohr, als er in den Zug stieg und zu seiner großen Reise aufbrach. Wenig später blickte er im Fenster den Dächern seiner Heimatstadt dabei zu, wie sie am Horizont verschwanden. Weise, oh ja, das wollte er werden.
    Als die Sonne unterging, setzte sich Kalle ins Boardrestaurant und bestellte eine Cola.
    »Kalle?«, hörte er eine rauchige Stimme vom anderen Ende des Wagons.
    »Herr Michaelsen?« Kalle traute seinen Augen nicht. Dass er seinen alten Lehrer genau an diesem großen Tag treffen würde, hätte er nicht erwartet. Kalle setzte sich zu ihm.
    Was er so mache, wie es ihm ginge, ob er eine Freundin hätte, wollte der Lehrer wissen.
    »Ich fahre runter bis Frankfurt, dann steige ich in den Flieger. Ich will ins Kloster. Liebe zur Weisheit. Wissen Sie noch?«
    Der Lehrer lächelte während er eine Hand hob und mit der anderen gegens Leere klopfte.
    »Und was willst du da?«, fragte der Lehrer.
    »Weise werden!«, sagte Kalle und freute sich es ihm sagen zu können.
    »Wozu?«, wollte der Lehrer wissen.
    »Wegen der Liebe. Sie waren es doch, der uns geraten hat zu…«
    »Gar nichts hab ich«, unterbrach ihn der Lehrer, »Ich hab diesen scheiß Lehrplan doch nicht gemacht! Was dauert das so lange mit dem Bier?«
    Kalle wusste nicht mehr was er sagen sollte.
    Er wollte nichts mehr sagen.
    Er trank seine Cola in einem Rutsch aus, klappte sein Notizbuch auf und strich den Namen durch, der neben dem Zitat stand.
    »Was’ das denn?«, fragte der Lehrer.
    »Ach nichts«, sagte Kalle.

  2. Vom Holzfäller-Burschen Hans, der das Murgtal einst zum blühen brachte.

    Es war einmal ein junger Holzfäller-Bursche, der zu Hause keine Arbeit fand. Seine Familie konnte ihn nicht länger ernähren. Er musste fortziehen. Also verabschiedete er sich und ging traurig den Weg entlang, immerzu geradeaus. Und als er so ging, da erblickte er nach einiger Zeit … zwei ihm fremde Holzfäller, die große Baumstämme in einen Fluss warfen.

    Seltsamerweise waren die Männer gut gekleidet, ganz anders als die einfachen Lumpen der armen Holzfäller, wie Hans einer war. Neugierig näherte er sich ihnen und sprach sie an:
    „Guten Tag! Mein Name ist Hans. Ich sehe ihr werf eure mühsam gefällten Baumstämme in den Fluss. Warum tut ihr das? Wollt ihr sie nicht hacken, trocknen und dann als Feuerholz verkaufen?“
    Der größere der beiden antwortete:
    „Grüß dich Hans! Ich bin Rudolf. Mein Kumpel Hermann und ich waren noch bis vor kurzem Holzfäller. Mühsam, wie du sagst, haben wir Holzscheit für Holzscheit gehackt, getrocknet und verkauft. Jeden Heller haben wir uns hart verdient, aber zum Leben hat es kaum gereicht!“
    Gespannt hörte Hans zu, als Hermann fortfuhr:
    „Doch eines Nachts gesellte sich ein Wanderer zu uns an den Lagerplatz. Er kam aus der Schweiz, und berichtete vom Beruf der Flößerei.
    Anstatt die Bäume nach dem Fällen mit viel Schweiß kleinzuhacken, wuchten die Männer die Stämme dort in einen Fluss. Dann werden sie zu Flößen gebunden und mit der Strömung hinab ins Tal getrieben.
    In den Schweizer Bergen gibt es diesen Beruf schon lange, und das machen wir jetzt auch! Von hier bis zum Rhein hinunter und dann weiter ans Nordmeer bringen wir die Tannen.

    Dort, am Hafen von Rotterdam, verkaufen wir unser Floß. Reiche Kaufmänner aus aller Welt leben dort. Sie bezahlen viel Geld für unsere Stämme. Denn die Tannen aus unserer Heimat sind ideale Stützfundsmente für die mächtigen Handelshäuser in ganz Holland.“
    „Das klingt nach einem guten Geschäft“, sagte Hans.
    „Könnt ihr noch einen Burschen wie mich gebrauchen? Ich bin stark und gewohnt, hart zu arbeiten.“
    Skeptisch betrachteten die beiden Männer Hans Schultern, Arme und Hände.
    „Die Flößerei ist eine gefährliche Sache, nichts für Jedermann!“ ruft Hermann bestimmend.
    „Das Tal der Murg ist meine Heimat. Ich kenne den Fluss und seine Gefahren wie meine Westentasche. Bis zum Rhein hinunter!“ erwidert Hans.
    Als die beiden aber Hans blank polierte Axt, mit sorgfältig geschärfter Klinge sahen, da nickten sie einander zu.
    „Ja, wir können die Hilfe eines ordentlichen Holzfäller-Burschen gebrauchen,“ sagte Hermann schließlich.
    „Doch geb Acht, die Flößerei ist harte Arbeit!“
    Und so heuerte Hans bei den Flößern an, und wurde selbst zu einem.
    Die Arbeit war wirklich gefährlich. In der wilden Murg wurde das Floß oft unkontrollierbar. Jeder Stein, jede Untiefe konnte es zum Kippen bringen. die kleinste Unachtsamkeit barg die Gefahr eines Sturzes oder gar des Ertrinkens! Glücklicherweise aber blieben Hans und seine beiden neuen Freude verschont. Bis auf einige blaue Flecken versteht sich.

    Doch es gab es auch Tage, an denen das Flößen eine wahre Freude war. Unter der warmen Abendsonne glitten sie dann sanft die ruhigen Rheinarme entlang. Mit ein wenig Glück fingen sie ein paar Fische, die sie noch auf dem Floß grillten und verspeisten. Dabei genossen sie die Aussicht über die ihnen noch fremden Länder und dichteten Flößerlieder.

    So lernte Hans die weite Welt kennen. Er sah die majestätischen Brücken von Wiesbaden und Mainz und die steilen Hänge des Rheingaus, an denen Weinbauern ihre süßen Trauben ernteten. Er besuchte das größte Gebäude der Welt, den Kölner Dom, der kurz vor seiner Vollendung stand. Und in Koblenz traf er Händler, die Gewürze, Schmuck und Edelsteine aus aller Welt verkauften. Er sah Burgen und Schlösser, von deren Anblick er neidisch wurde. Aber auch Kranke und bettelarme Dörfer, die ihm sein Leben wieder schätzen ließen.

    Als die drei Flößer nach vielen Wochen am Nordmeer ankamen, verkauften sie ihre Schwarzwaldtannen an einen reichen Kaufmann. Soviel Geld hatte Hans in seinem ganzen Leben noch nie gesehen.

    Später aber trennten sich die Wege der Freunde. Rudolf wollte auf einem Schiff anheuern und Richtung Norwegen weiter segeln. Hermanns Abenteuerlust zog ihn auch übers Nordmeer, nach England. Dort wollte er die Königin heiraten.
    Nur Hans, der ging zurück in seine Heimat, den Schwarzwald, wo seine Familie lebte.
    So teilten die drei den Erlös fair untereinander auf. Und nach einer letzten fröhlichen Nacht in Rotterdam ging ein jeder seine Wege.

    Zurück im Murgtal, besuchte Hans sofort seine Eltern. Mit dem Geld vom Kaufmann aus Rotterdam besorgte er Nahrung und Kleidung für Vater und Mutter. Er renovierte das alte Wohnhaus und kaufte neue Äxte, Sägen und Flößerwerkzeug aus der Schweiz.
    Mit dem restlichen Geld und gemeinsam mit seinen Eltern gründete er eine eigene Flößerei. Bald stellten sie Arbeiter ein, erweiterten den Hof und fuhren täglich Richtung Nordmeer.
    Um den Flößerhof herum entstanden Sägewerke, Papierfabriken und Druckereien. Später Schmieden und Metallfabriken. Schließlich entstanden Dörfer und Städte, in denen heute sogar Autos und LKWs gebaut werden. Und diese Autos kennt ihr alle – Mercedes Benz.

    Das einst so arme und verlassen Murgtal füllte sich. Menschen kamen von überall her, fanden Arbeit und gründeten Familien. Handel und Produktion wuchsen stetig.
    Den Menschen im Murgtal ging es gut. Allen voran natürlich Hans und seiner Flößersippe.
    Vier Kinder hat er bekommen, mit einer lieben Frau aus dem Elsass. Und Natürlich! Das Ja-Wort gab er ihr auf einem Floß! Aus Tannen vom Schwarzwald und Buchen aus dem Elsass gebunden.
    Die Hochzeit war bescheiden, denn Hans wusste wo er herkam.
    Er bezahlte faire Löhne an seine Arbeiter und sang mit ihnen nach Feierabend Lieder über das abenteuerliche Flößerleben. Immer bei einem guten Tropfen Wein aus dem Rheingau.
    Hans Kinder wurden auch Flößer, deren Kinder ebenso. Und so ging es fort, mehr als 200 Jahre lang.

    Die Beruf der Flößerei gibt es heute nicht mehr. LKWs, Züge und Schiffe bringen die großen Schwarzwälder Tannen heute in alle Welt.
    Doch den alten Flößerhof, am Murgufer, tief im Schwarzwald, den gibt es noch heute. Und jedes Jahr findet dort ein Fest statt. Und dort singen sie noch hete die alten Flößerlieder. Zu Ehren des jungen Holzfällers-Burschen Hans, der das Murgtal einst zum Blühen brachte.

    Einst ging unser Hans durch die Wäldern,
    verließ sein Haus und seine Eltern.
    Das Geld und die Nahrung war knapp,
    doch unser Hans war auf Trapp.
    Gemeinsam mit zwei tüchtigen Fremden,
    verdiente er sich bald teure Hemden,
    Die Flößerzunft der Hans begründe,
    auf ewig unsre Tradition bestünde
    Ein hoch auf die Flößer im Murgtal,
    Hei hop, das es ewig erstrahl

  3. Abschied

    Ich betrete den Raum, in dem man dich vergessen hat.
    Hier hat dich jemand achtlos auf den Tisch geworfen.
    Deine nackte, rissige und verfärbte Haut ist das letzte Überbleibsel deiner Schönheit und unter dir entdecke ich deine Tränen, die herabgefallen sind.
    Wenn ich vorsichtig deinen filigranen Körper streichle, tust du mir weh.
    So wie damals, denke ich missmutig, als ich dich kennengelernt und mitgenommen habe.
    Ich rieche ein letztes Mal an dir: Ein Geruch, der mich an eine welke Rose erinnert.

  4. Oma Jensen möchte flirten.

    Da läuft sie nun, wie jeden Mittwoch um die gleiche Zeit. Sie will zur Gisela, ihrer Schulfreundin, bisschen Quatschen, über alles Mögliche, sagt sie. Mal eine andere Stimme und was Neues hören. Das tut gut, sagt sie.

    Langsam, etwas gebeugt, Schritt für Schritt. Aber sie kommt voran. Am Stock natürlich. Sie braucht ihn eigentlich nicht, aber er gibt ihr etwas Sicherheit, sagt sie. Vor allem wegen der frechen Jungs, die sie bequatschen, sagt sie. Sie kann ihnen damit drohen. Sagt sie, im Scherz.

    „Guten Tag, Frau Jensen“, wird sie gegrüßt. Da bleibt sie stehen, richtet sich etwas auf, hebt ihren Kopf, damit sie besser sehen kann, und erwidert den Gruß. „Ach, sie sind es, Frau Zieche. Guten Tag. Wir haben uns aber lange nicht gesehen. Wie geht es ihnen denn?“

    „Danke, mir geht es gut, ich klage nicht.“

    „Na ja, sie sind bestimmt eine gute Portion jünger als ich.“

    „Aber ich bin schon 70.“

    „Als sie geboren wurden, kam ich bereits aus der Schule. Nein, wie die Zeit vergeht. Apropos Schule, ich will zu meiner Schulfreundin. Zur Jakob Gisela zum Quatschen. Ich muss pünktlich sein. Lassen sie es sich gut gehen Frau Zieche und bleiben sie gesund.“

    „Danke, ebenso, Frau Jensen.“

    Oma Jensen tippelt weiter. Langsam ist es nicht mehr weit zur Freundin. Als sie an der Haustür ankommt, empfindet sie, etwas ist anders, die Tür unsauber, im Vorgarten liegen altes Papier und ein kaputter Plastikbecher. Sie wundert sich nur und denkt: Gisela ist doch dahinter wie der Schießhund, wenn sie Dreck sieht. Doch nun so etwas. Sie macht sich aber weiter keinen Gedanken darüber.

    Sie klingelt.

    Keine Reaktion. Eigentlich steht sie doch immer schon am Fenster hinter der Gardine und wartet auf mich. Sie hat es sicher nicht gehört. Wer weiß, wo sie wieder mal herumwuselt, was sie gerade zu tun hat.

    Oma Jensen klingelt noch einmal und wartet.

    Immer noch kein Zeichen von Gisela.

    Jetzt klopft sie mit dem Stock an die Tür und ruft „Gisella! Gisela! Mach auf, ich bin es doch, die Jensen.“

    Gisela öffnet die Tür nicht.

    Ein kleiner Hund stellt sich ein, schnüffelt an Oma Jensens Schuh, dreht seinen Kopf ein paarmal hin und her, bellt zweimal halblaut und schaut mit treuen Blicken schräg von unten in Omas Augen.

    „Na du kleiner, was hast du denn, willst du mir etwas sagen?“ Der dreht den Kopf nochmals verführerisch, bellt einmal, knurrt und verzieht sich wieder.

    Von Gisela immer noch kein Zeichen. Oma Jensen wird schon etwas unruhig. Aus dem Nachbarhaus springt gut gelaunt ein junger Mann heraus, sieht die hilflos dastehende Frau und fragt sie: „Kann ich ihnen helfen?“

    „Sie kennen Frau Jakob? Zu der will ich, aber sie öffnet nicht. Nun weiß ich nicht, ob sie weggegangen ist, wir sind doch verabredet, jeden Mittwoch um zehn.“

    Der junge Mann schaltet sein Gesicht plötzlich von fröhlich auf ernst. Er ist etwas verlegen. „Wissen sie“, kommt es zögernd aus ihm heraus. „Ich betreue Frau Jakob einmal die Woche, immer am Freitag. Vergangene Woche wollte ich wieder zu ihr, aber sie öffnete nicht. Ich habe einen Schlüssel für solche Fälle und bin in die Wohnung hinein. Im Wohnzimmer fand ich Frau Jakob leblos vor dem Sessel liegen. Der Arzt sagt, sie muss schon am Donnerstag gegen 10:00 Uhr ganz einfach in sich zusammengesackt sein. Akutes Herzversagen. Sie hatte keine Verletzungen. Es tut mir leid, dass sie den Weg vergeblich gemacht haben. Ich wusste von Ihren Verabredungen, kannte aber weder Sie noch Ihre Anschrift, sonst hätte ich sie verständigt. Es tut mir sehr leid.“

    Oma Jensen ist schockiert und verwirrt, sagt sie sinnloserweise „Aber wir sind doch für heute zehn Uhr verabredet, abgesagt hast du nicht.“ Sie hat es bislang nicht voll erfasst, was geschehen ist. „Wie kannst du denn so was machen? Und was soll nun aus unseren Stündchen werden, wenn du nicht mehr mitmachen kannst?“ Sie spricht halblaut vor sich hin, als wäre Gisela dabei. „Wer soll denn mit mir über die Schneider-Frieda, den Wasser-Rudi und die Lampen-Liese lästern. Das hat uns doch immer solchen Spaß gemacht und der Kaffee, den du gekocht hast, war auch immer gut, da konnte ich nicht meckern, ehrlich. Nee, Gisela, das ist gar nicht schön.“

    Der junge Mann versucht, ihren leisen gesprochenen Gedanken etwas in eine andere Richtung zu lenken. „Ich bin der Uwe, ich habe Frau Jakob regelmäßig betreut“, sagt er noch einmal, weil er glaubt, Oma habe ihn vorhin nicht richtig verstanden. „Sie war eine sympathische, liebe, alte Dame. Ich kam gern zu ihr, wir konnten uns immer gut unterhalten und haben viel gelacht. Sie war doch so lustig.“

    „Ja, das war sie. Da hat sie Ihnen sicher viel Intimes erzählt, von uns, ja? Die alte Quatschtante.“

    „Nein, nein, beteuert Uwe und wenn mal etwas Internes herausgerutscht war, es bleibt alles bei mir hinter verschlossenen Lippen oder wird einfach vergessen.“

    „Wenn sie sich das alles behalten würden, was sie von ihren Kunden erfahren, die quasseln doch sicher alle sehr viel, müssten sie ja einen Kopf wie einen Heißluftballon haben. Aber auch dem geht einmal die warme Luft aus.“ Oma Jensen war schon fast wieder auf ihrer gewohnten heiteren Tour.

    Doch bei Uwes Bericht war es Oma Jensen etwas weich in den Knien geworden. Gisela nicht mehr da? Geht es ihr wieder durch den Kopf?

    „Ich muss mich jetzt erst mal setzen.“

    „Kommen sie, hier gleich an der Haltestelle ist eine Bank, da können sie sich etwas ausruhen. Soll ich einen Arzt rufen?“

    „Nein Danke, es geht schon, nur eine Weile.“

    „Ich bringe sie noch nach Hause, Frau?“

    „Ich heiße Jensen. Ich wohne nicht weit von hier.“

    „Gut Frau Jensen, ich muss nur bei Frau Caressa absagen, die ich jetzt betreuen müsste. Ich rufe gleich an. Aber die ist noch recht fit, da muss ich nicht unbedingt zu ihr. Das ist nicht so schlimm, wenn ich einmal nicht komme, sie kann sich noch gut allein behelfen.“

    „Wissen sie“, wandte sie sich Oma Jensen an Uwe, „Ich kenne Frau Jakob, ach ich muss wohl jetzt sagen, ich kannte Frau Jacob, die Gisella, schon genau 89 Jahre. Wir haben gemeinsam eine Schulbank gedrückt und haben uns auch später nie aus den Augen verloren. Gemeinsam mit unseren Männern haben wir viel unternommen und die Tanzsäle unsicher gemacht, und was waren wir wandern?“

    „Das glaube ich ihnen gern.“ Antwortet Uwe.

    „Nun hat sie es geschafft. Aber wir wollten doch noch … und was mache ich nun mit unseren den Lottozahlen und dem Kaisermania Abo?“ Sie verfiel nochmals ins Grübeln und schwieg.

    Uwe, der neben ihr saß, musste lächeln, ließ sie noch etwas in Gedanken verweilen und schwieg ebenfalls.

    „Kommen sie Frau Jensen, unterbrach er die Stille, ich bringe sie nach Hause. Dort haben sie sicher mehr Ruhe als hier an der Straße. Haben sie Angehörige, die ich verständigen kann?“

    Als Oma Jensen „Angehörige“ hörte, war sie wieder voll zu sich gekommen. „Oh ja, ich habe viele Angehörige, was meinen sie wohl. Alle leben sie noch, es geht ihnen gut.“ Plötzlich verfiel sie kurz in eine gewisse Traurigkeit und sagte. „Nur meinen Karl habe ich nicht mehr, der hat mich schon vor 15 Jahren verlassen. Plötzliches Herzversagen – Aus. Das hat mich damals ganz schön umgehauen.“ Frisch begann sie wieder. „Wir sind eine große Familie. Alle 27 Personen kommen zusammen, wenn mal eine Feier ist. Ach nein, wir sind sogar 28 Personen, mit der Kleinsten, der Astrid, was die Tochter von meinem Urenkel Heinz und der Eva ist. Sie ist erst knapp 2 Jahre alt und meine Ururenkelin. Eine freundliche, süße Puppe. Ist das nicht toll? Ich bin jedes Mal glücklich, wenn ich sie in den Armen halten darf.“

    „Das glaube ich Ihnen gern, aber ist da nicht ein ‚Ur‘ zu viel?“

    „Nein, nein, meine Leute haben alle sehr zeitig Kinder bekommen. In dieser Beziehung sind sie sehr lustig. Wenn sie wissen, was ich meine“ und lachte dabei herzlich.

    Uwe staunte und war froh, dass es der alten Dame wieder einigermaßen gut ging.

    Die Gedanken an ihre Lieben hat Oma Jensen wieder etwas aufleben lassen.

    „Sagen sie mal Uwe, was ist denn mit Herrn Fridolin, hat der sich schon gemeldet? Weiß der schon, was vorgefallen ist? Die Gisella war doch noch immer mit ihm sehr eng auf du und du, die beiden haben ganz schön miteinander geflirtet. Wenn sie wissen, was ich meine.“

    „Tut mir leid, Frau Jensen, den kenne ich nicht. Ein Herr Fridolin wurde mir auch nicht vorgestellt und so weiß ich auch nicht, wo er wohnt, um ihn benachrichtigen zu können.“

    „Das glaube ich ihnen gern. Den hat sie vor mir geheim gehalten. Aber ich wusste es. Einmal habe ich die beiden zusammen gesehen. Auf den war ich nämlich auch schon lange scharf, aber ich kam nicht an ihn ran. Ich habe mich da nicht zwischen den beiden drängeln wollen. Die Gisella hat ihn immer vor mir versteckt. Die beiden haben es noch so richtig krachen lassen, erzählte Gisella mir einmal. Aber da ist er ja jetzt wieder frei sozusagen. Da muss ich spannen und ihn abpassen. Vielleicht kann ich mit ihm mal eine Runde drehen und ein paar Tassen Kaffee trinken. Wenn sie wissen, was ich meine. Der ist lustig, aber auch ein armes Luder. Da gehe ich morgen mal zu ihm hin. Der wohnt gleich hier um die Ecke. Für heute ist mir das zu viel. Wer wird sich denn nun um die weiteren Formalitäten kümmern? Die Beerdigung und so.“

    „Da brauchen sie sich keine Gedanken machen, das geht alles seinen richtigen Gang. Um Verstorbene, die keinerlei Verwandte haben, kümmert sich die Sozialfürsorge.“

    „Und das ist gut so. Danke und auf Wiedersehen Uwe, vielleicht können sie mich später auch betreuen, wie die Gisela“, beendete Oma Jensen ihren letzten Besuch bei ihrer Freundin.

    Am nächsten Morgen, so hatte sie es sich vorgenommen, machte sich Oma Jensen hübsch und auf den Weg zu „Ihrem“ Fridolin. Er wohnt doch gleich um die Ecke, wie sie sagt. Sie hatte sich schon in der Nacht frohlockend viele schöne Gedanken gemacht. Wie – wird es ihm sehr nahe gehen, wenn ich ihm die schlimme Nachricht bringe? Wird er lange um sie trauern? Wie kann ich ihn am besten zu gemeinsamen Unternehmungen bringen usw. Ach, ich bin doch pfiffig, tröstete sie sich selbst, mir wird schon etwas einfallen, wenn es an der Zeit ist. Hauptsache, er schickt mich nicht gleich wieder fort und ist über meine Annäherung entsetzt. Das kann schließlich auch passieren. Wir werden sehen.

    Oma Jensen traut sich nicht, bei Fridolin zu klingeln. „Ich glaube, das wirkt zu aufdringlich“, sagt sie zu sich, erschrickt, denn ganz plötzlich und unverhofft, wie aus dem Nichts, steht Herr Fridolin neben ihr. Nach einer fröhlichen unverfänglichen Wiedersehensbegrüßung und dem Bericht von Giselas Ableben stellt Oma Jensen fest: Zu arg ist er nicht betroffen. Und es sollte noch ganz anders kommen.

    „Aber sie waren doch mit ihr so herzlich verbunden.“ Sagt sie zu ihm.

    „Herzlich? Nein, nein, das ist ein Irrtum, wir haben uns gekannt. Guten Tag, guten Weg gewünscht und einige Male mit wenigen Worten recht gut unterhalten auf der Bank im Friedrichspark, wenn wir uns zufällig trafen, aber sonst hatten wir keinerlei nähere Bindung. Im Gegenteil. Frau Jensen, ich muss ihnen ein Geständnis machen. Ich habe sie öfter mal nach ihnen befragt, aber da hat sie sofort abgeblockt und ein anderes Thema angeschlagen. Frau Gisela hat wohl geahnt, dass ich für sie, Frau Jensen, mehr Sympathie empfinde und Interesse zeige als für sie.“

    Ob dieser Mitteilung war Oma Jensen doch etwas erstaunt und zugleich beglückt, denn Gisela hat ihr anderes erzählt und die Nachbarn auch. Redet der sich jetzt nur heraus? Warum leugnet er? Will er mir jetzt schmeicheln? Hinterlistig? Fragt sie sich. Das wäre doch dumm. Was ist denn schon dabei, wenn man sich mag, sympathisch findet und versteht. In unserem Alter. Na hör mal. Diese Haltung von ihm ließ sie doch etwas Abstand halten. Solch einen Charakterzug mag sie nicht.

    „Ist gut Herr Fridolin, da wissen sie also Bescheid, sie werden sich nun nie mehr mit ihr unterhalten können, rein zufällig natürlich, auf der Parkbank.“ Oma Jensen musste ihre sarkastische Bemerkung loswerden, sie konnte nicht anders, das war ihr zu viel. Leugnen, nein, so etwas. Daheim wieder angekommen, setzte sie sich in ihren hohen Ohrensessel und schmollte. Sie hatte sich einen Kontakt mit Fridolin so gewünscht. Sie wollte doch gern noch ein wenig flirten, und wenn es auch nur mit einem alten Mann wäre. Oder ging es ihr plötzlich durch den Kopf, hatte sich Gisela das alles nur eingebildet und gewünscht und ich tue Fridolin unrecht? Nun bin ich schon so alt und doch noch so dumm. Aber schön wäre es doch, wenn ich mich mit ihm gelegentlich ein wenig unterhalten könnte. Jetzt, wo Gisela nicht mehr da ist. Mit stark gemischten Gefühlen und Gedanken-Wirrwarr schlief Oma Jensen in ihrem Ohrensessel für ein kleines Stündchen ein.

    Die Fabel

    Ein Fuchs auf der Pirsch war tagelang erfolglos durch Feld und Wald gestrichen. Zuletzt dachte er, am Fluss kann ich vielleicht einen dicken Fisch überlisten. Ich finde gewiss einen fetten Happen. Er war zuversichtlich am Ufer angekommen, tappte mit seinen Krallen unversehens in etwas Weiches, das sofort begann, jämmerlich zu quaken.

    „Lieber Herr Reinecke, ach lieber schöner Rotschwanz, lass mich frei. Ich habe viele kleine Kinderchen zu versorgen, die sind hungrig und sterben, wenn ich ihnen nicht bald frische Nahrung zutreibe, quak, quak.“

    „Was kümmert mich das?“, antwortete der. „Auch ich habe einige Kinder, die auf Nahrung warten. Ich hatte ohnehin nicht vor, dich wabbliges Ungeheuer zu verspeisen. Aber du kannst es mir von Nutzen sein“, sagte er hinterlistig zum Frosch: „Ich lasse dich frei, wenn du mir versprichst, einen dicken Fisch für mich hier recht nahe ans Ufer zu locken.“

    „Das will ich gern tun, lieber Herr Reinecke. Nur zieh erst deine scharfen Messer aus meinem zarten Rücken. Die schmerzen mich gehörig.“ Der befreite Frosch schoss blitzschnell ins Wasser zurück und quakte noch, du kannst mich mal. Doch als ehrlicher Mann dachte er: Versprochen ist, versprochen. Also suchte er nach einem dicken Fisch und begann mit diesem ein Gespräch:

    „Guten Tag, Karpfen Großmaul, wie geht es dir?“ Der Angesprochen schwieg und schwamm zur Wasseroberfläche, um Luft zu holen; machte eine abwinkende Bewegung mit der Rückenflosse und sagte zum Frosch „Mit vollem Mund wollte ich nicht sprechen, lieber Quaki. Mir geht es gut. Du siehst ja, ich habe gut Fett angesetzt. Danke für die Nachfrage.“

    Quaki sann nach einer List, um das Großmaul ans Ufer zu locken. „Du bist so stumm, sagte er, man hört wenig von dir, möchtest du nicht Quaken lernen?“, fragte ihn der Frosch scheinheilig. „Ich könnte es dir beibringen. Gleich da vorn ist eine Stelle am Ufer, wo wir zum Lernen Ruhe haben, komm!“ Dem Karpfen, ohne Argwohn, gefiel der Vorschlag. Eine zweite Sprache zu erlernen ist Bildung und hat noch keinem geschadet. Er schwamm mit dem Frosch zum flachen Ufer. Doch hier lauerte der schlaue Reinecke. Dem tropfte schon lange der Zahn, als er sich das fette Mahl vorstellte.

    An der gleichen Stelle, jedoch im hohen Rohrdickicht versteckt, stand hoch aufgerichtet und steif ein stolzer Reiher. Den Blick starr auf das Wasser gerichtet. Er konnte aus seiner Höhe, als Erster den dicken Fisch ausmachen, den Quaki ans Ufer gelockt hatte. Schwapp und wupp die wupp hatte er ihn mit seinem spitzen Schnabel gefangen. Er musste sich tüchtig anstrengen, um den dicken Happen in die richtige Lage zu bringen und zu schlucken. Er würgte und würgte. Endlich war das geschafft und der Fisch schaute in den tiefen dunklen Rachen des Reihers.

    Herr Reinicke, der auf der Lauer lag, musste sich mit Entsetzen das tragische Schauspiel ansehen. Er war überlistet worden. Ganz dumm schaute er drein. Solch ein Spektakel. Er konnte es nicht begreifen, wie schnell es ging. Der für ihn gedachte Braten verschwand im Schnabel des Herrn Reiher, direkt vor seinen tränenfeuchten Augen. Doch er wäre kein schlauer Fuchs, wenn er nicht auf einen Fehler der Natur gehofft hätte. Geduldig beobachtete er den sich abmühenden Reiher, und siehe da, der Reiher hatte sich überschätzt. Karpfen Großmaul wollte absolut nicht tiefer in seinen Schlund rutschen, er war zu dick. Der Reiher schleuderte ihn hin und her. Er kämpfte mit dem dicken Großmaul erfolglos, der blieb ihm im Halse stecken. Reiher Langhals bekam keine Luft mehr. Er verkrampfte, erstickte am dicken Fisch und fiel tot um.

    Das war der richtige Moment für Herrn Reinecke, schnellstens zuzupacken und den doppelten Braten in seine Höhle zu schleppen. Damit war für die Familie Reinecke einige Tage die Mahlzeit gesichert.

    Kaufhallen – Auflauf.

    In der Kaufhalle, im ehemaligen Straßenbahnhof Mickten, begegnen sich zwei kaufwillige Personen. Beide schieben ihren Einkaufswagen durch die Menge der Kaufinteressenten mühsam vor sich her.
    „Tag, Frau Schneider“, spricht die eine auffallend eindringlich auf die andere ein. „Nein, solch ein Zufall, dass wir uns wieder mal begegnen, wie geht’s Ihnen denn, wie geht’s Ihrem Mann, wie geht’s Ihren Kindern?“
    Die mit Frau Schneider angesprochene Dame fühlt sich offensichtlich nicht recht wohl in dieser Lage. Sie schaut nach links, sie schaut nach rechts, ob nicht jemand anderes mit diesem Wortschwall gemeint ist.
    Schon fällt die Erste wieder mit großer Beredsamkeit über sie her. „Da wohnt man nun in der gleichen Ecke und sieht sich so selten. Mein Mann ist schon lange tot und die Kinder sind alle aus dem Haus und davon. Ich wohne ganz allein, denken Sie nur. Wo wir doch eine so glückliche Familie waren. Selbst in dem Haus, wo ich wohne, bin ich die Einzige, die noch übrig geblieben ist von den Alten. Alles nur Neue. Denken Sie nur, in einem 10-Geschosser. Alle Bekannten schon tot oder ausgezogen. Ja, ja, man wird nicht jünger. Bald komme ich dran. Ich weiß nur nicht, wann. Ha, ha, wenn man das wüsste. Gehen Sie immer hier einkaufen? Ich habe Sie doch noch nie hier gesehen. Oder kaufen Sie sonst nur bei der Frida ein? Die haben auch gute Ware, sagt man, aber teuer. Ich gehe immer hier ins Kaufland. Haben Sie schon gehört, der Kohlenmann, auf der Leipziger, hat auch seine Handlung schließen müssen. Keiner kauft mehr Briketts und Braunkohle.“
    Frau Schneider wird es bei diesem Wortschwall unwohl. Sie versucht zu unterbrechen, aber die Dame redet ununterbrochen weiter. Unmöglich, sie zu stoppen. Sie schaut sich nach allen Seiten nach Hilfe um. Ist vielleicht jemand Bekanntes in der Nähe, an die oder den ich mich wenden könnte? Nein.
    „… Wir haben Fernheizung. Das ist wesentlich sauberer. Ich gehe gern noch ins Sachsenbad nach Pieschen. Da sind viele Rentner und sauber ist das Wasser auch und nicht so kalt. Machen Sie auch noch Sport? Unsere Kinder gingen doch in die gleiche Klasse.“
    Was interessiert mich das denn, fragt sich Frau Schneider, hier gibt es keine 10-Geschosser und das Sachsenbad hat seit Jahren zu. Sie versucht, aus der Spinnerei dieser Dame herauszukommen. Keine Chance. Jetzt legt sie sogar noch Hand an, sie hält Frau Schneider am Ärmel fest.
    „Die Lehrerin aus der Ersten habe ich neulich getroffen. Die konnte sich noch gut an mich erinnern. Vor allem an meine Kinder. Die wären immer so lieb gewesen, meinte sie. Ist das nicht reizend von ihr? Donnerstags gehe ich meistens ins Kino, wenn ich genügend Zeit habe. Ich bin so beschäftigt. Besonders an den freien Tagen gehe ich gern in den ´Großen Garten´ und fahre zwei Runden mit der Parkeisenbahn. Ist das nicht schön? Ach, wissen Sie, die Meiern aus der Dritten ist doch immer noch befreundet mit der Lehmann im Erdgeschoss. Der ihr Mann ist abgehauen, mit so einer aus der Südvorstadt, haben Sie dafür Töne? Die war doch im Konsum Verkäuferin. Nun ist sie selbstständig und verkauft in ihrem schönen Laden Weihnachtsmann Zubehör und solche Sachen im Winter; im Sommer macht sie auf Erotik. Skandalös, sag’ ich Ihnen!“ In ihrer Rage umklammert sie jetzt den Wagen von Frau Schneider, die dadurch nicht wegkann.
    Frau Schneider tritt von einem Bein auf das andere. Ihr ist die Situation peinlich, sie möchte sich von der aufdringlichen Person lösen, aber sie kommt nicht zu Wort. Losreißen geht jetzt ohnehin nicht mehr.

    Inzwischen haben sich noch weitere Einkaufs-freudige Menschen um die beiden Frauen eingefunden, um lächelnd dem interessanten Gespräch zu lauschen. Dabei hat sich ein Knäuel von Einkaufswagen gebildet.
    Keiner kann mehr vor oder zurück. Der Verkehr in der Halle ist ins Stocken geraten. Das Verkaufspersonal wird aufmerksam. Der Verkaufsstellenleiter versucht, auf den unübersichtlichen Menschenhaufen einzuwirken. Alles vergeblich. Er hat eine glorreiche Idee und ruft durch den Funk laut und deutlich nach Frau Bauer.
    „Frau Bauer, hallo Frau Bauer, Sie werden ganz dringend am Eingang der Kaufhalle erwartet, bitte kommen Sie schnell.“
    Frau Bauer redet unbeirrt weiter.
    Frau Schneider erfasst die mögliche Chance, loszukommen sofort und unterbricht die immer noch aufgedreht erzählende Dame eindringlich: „Hören Sie, Frau Bauer, das sind doch Sie, Sie werden gerufen, sofort an den Eingang zu kommen.“
    „Bauer? Das bin doch ich …“
    Nun endlich wird Frau Bauer wach, schreckt auf und sagt: „Schnell, machen Sie Platz, ich muss zum Eingang.“ Sie hat Mühe, durch die angestaute Menschenmenge und den Einkaufswagenknäuel, der sich gebildet hat, hindurch zu kommen.
    Frau Schneider kommt nicht mehr dazu, ihr zu sagen, dass sie gar nicht Schneider heißt und auch nicht in dieser Ecke wohnt, keine Kinder hat und keinen Mann, denn sie ist doch selbst ein Mann und wird Herr Meier genannt. Aber sagen Sie das mal so einer Person, wie Frau Bauer!
    Und woher wusste der Kaufhausleiter, dass die Dame „Frau Bauer“ heißt? Sie ist hinreichend bekannt durch ähnliche Auftritte und schon des Öfteren des Hauses verwiesen worden.

    Der zärtliche lila Panther

    Diese kleine Raubkatze. Freundlich anzuschauen, ein liebliches Gesicht, leuchtende, funkelnde Augen, etwas verschmitzt schien sie mir. Sie schaute mich aufmerksam, ja neugierig an, als warte sie auf etwas, das nun endlich passieren würde. Sichernd, lauernd, alle Sinne angespannt, erwartungsvoll.

    Es reizte mich gewaltig, sie zu streicheln. Nur zögernd traute ich mich, doch sie ließ es geschehen, als hätte sie es erwartet oder gehofft. Ihr weiches, matt glänzendes Fell, ich war echt erstaunt, wie weich und zart es war; nicht ganz glatt, wie ich es erwartet hatte, nein, leicht gewellt, fast gelockt, kleine blonde Kringel, wie die Fangarme einer Krake schlängelten sich um meine Finger. Es fühlte sich wunderbar an, faszinierend. Mir zitterten die Hände. Ich sprach ganz ruhig, leise und liebe Worte zu ihr. Es schien, als würde sie mich verstehen. Sie spürte, dass ich ihr nichts Arges antun kann und schaute mich nur stumm mit ihren treuen, aber blitzenden und doch lächelnden Augen an. Sie erwiderte den Sinn meiner Worte weder mit einem Mucks noch einem Laut. Ich schickte mich an, ihre Pfote, die sie mir entgegenstreckte, zu streicheln, und sie ließ es geschehen, als wenn sie es als liebevolle Berührung, ja als Zuneigung empfand; so, als hätte sie darauf gewartet. Mir schien es, als würde sie meine zärtliche Näherung genießen, denn sie gab ein zartes, ein friedvolles, zufriedenes Schnurren von sich. Offensichtlich empfand sie meine Nähe als wohltuend und anregend.

    Ich streichelte und kraulte immer wieder ihr schönes weiches Haar; berührte und liebkoste ihr zartes Pfötchen. Die Krallen spürte ich nicht, denn diese hatte sie eingezogen und benutzte sie wohl nur um Beute zu fangen und festzuhalten. Hatte sie mich schon gefangen? Sie legte ihr Pfötchen auf meine Hand. Wollte sie sich bei mir einschmeicheln? Ich empfand das prickelnd, warm, erregend. Ist das ein Beweis des Zutrauens, gar des Vertrauens? Kann ein junges Kätzchen so fühlen? Ich war mir sicher, dass sie es fühlt. Es war wie ein Wunder. Nach einiger Zeit merkte ich, dass sich in ihr eine langsam steigernde innere Unruhe entwickelte, als wäre es ihr nun schon etwas zu langweilig; das dauernde Streicheln, das Betrachten, Auge in Auge, das liebevolle Lächeln und Reden. Sie begann etwas deutlicher zu schnurren und kam mit ihrem zarten, freundlichen Gesicht näher an mich heran, immer näher, ganz nah. Ich spürte ihren heißen Atem. Es verblüffte mich schon gar nicht mehr, dass ich keinen hässlich stinkenden modrigen Atem aus dem Rachen meiner kleinen Raubkatze roch. Nein, es duftete süß, gefährlich, verführerisch. Mir stockte der Atem. Wir waren uns ganz nah gekommen. Sehr nahe. Es war fast schon wie Schmusen und Küssen. Da sah ich plötzlich in ihren Augen ein heftiges, bedrohliches Funkeln. Sie war voller Spannung, als wolle sie im nächsten Moment aufspringen. Das Schnurren wurde spürbar deutlicher, ihr Atem heftiger. Auch ich bemerkte in mir eine starke innere Erregung, ich hatte aber keinerlei Angstgefühle im Gegenteil. Mich überkam das immense Verlangen, ihr immer näherzukommen. Schließlich und endlich umarmten, liebkosten und küssten wir uns stürmisch bis in die späte Nacht hinein. Hätten wir es nicht getan, ich glaube, sie hätte mich gefressen. So heiß waren ihr Atem und unsere Lust. Na, was soll ich noch sagen. Wir sind nun schon über 60 Jahre miteinander verheiratet. Ist das nicht ein wundervolles Wunder?

    Aber warum lila? Was soll diese rätselhafte Deutung? Das habe ich mich auch gefragt und gewundert. Aber es passte mehr oder weniger. Es war exotisch. Unerklärlich! Eben ein wahres Wunder.

    Mir wurde bewusst, was es heißt: „Das Leben besteht nicht nur aus den Momenten, in denen wir atmen, sondern auch aus Momenten, in denen wir atemlos sind.“

    Es gibt Momente, die Grenzen an Unfassbares, Erstaunliches, Unerklärbares, Unbegreifliches.

    Eben an ein Wunder, an Liebe.

    Rumpel

    Rumpel war, wie bereits der Name ahnen lässt, ein grober Mensch: Groß, kräftig, stämmig, witzig, klug. Ein echtes Mannsbild eben. Wie es sich jedes junge Mädchen wünscht. Er war schon fast ein Hüne. Seine Hände, eher Pranken, konnten wohl manchen Hammer ersetzen. Mit zwei, drei Hieben schlug er Drei-Zoll-Nägel in die Balken, dass es eine Lust war, ihm dabei zuzuschauen. Nur wussten wir nicht, dass er in der Faust einen ordentlichen Stein hielt und damit zuschlug. Wir machten große Augen, staunten, waren von seiner Kraft stark beeindruckt und wollten es ihm gleichtun. Doch waren wir damit von vornherein zum Scheitern verurteilt. Rumpel war einfach ein Held, ein ganz mächtiger.

    Mit allen Attributen eines jungen Burschen reichlich ausgestattet, war er sich seiner Vorteile voll bewusst und genoss weit über unser Dorf hinaus die Chance, Mädchen zu beeindrucken, zu erobern. Ein Schönling oder gar ein Filmidol war er jedoch nicht.

    Sogar aus den Nachbardörfern zog es immer wieder junge Frauen, rein zufällig, zum Frühlingstanz in unseren Gasthof „Zur Schwämme“. Er hatte sich als Idol einen Namen gemacht. Den Neid und auch die Schlägereien mit den Burschen unseres Dorfes brauchte er nicht zu fürchten. Er ging ohnehin immer als lachender Sieger daraus hervor. Er war der Platzhirsch.

    Doch zur Kirmes vergangenen Jahres war es noch mal ein wunderschöner warmer Sonnentag, da wurde er schwach. Die hübsche, schlanke Schreiner Uschi, aus dem übernächsten Nachbardorf, kam dieses Mal etwas wohlbeleibter auch zum Tanz. Alle Augen waren sofort auf sie gerichtet. Nichts Gutes ahnend, schwenkten automatisch alle Blicke der Jungen und Alten erwartungsvoll in die Richtung, in der Rumpel zuletzt gesichtet wurde. Die Musik verstummte. Was würde wohl jetzt geschehen? Auch Rumpel hatte sie bemerkt und sein Gesicht begann zu strahlen. Nicht so sehr jenes von Uschi. Die Leute bildeten eine Gasse, denn alle wussten seit Langem von der kurzen Liebelei der beiden und deren Folge. Nur Rumpel nicht. Dieser, sorglos, lebenslustig und froh, ging zielgerichtet auf sie zu und wollte sie umarmen. Aber Uschi wich gut zwei Schritte zurück. Resolut und mit ernster Miene sprach sie ihn forsch an: „Strolch, warum hast du dich nicht mehr bei mir gemeldet. Ich hätte dich in meiner Not so sehr gebrauchen können. Ich musste aber Spott und Häme erleiden und fand nirgends Trost. Aber du sollst wissen: Ich freue mich auf unser Kind“, sagte sie trotzig.

    Rumms, das hatte gesessen.

    Ringsum Stille.

    Rumpel war schockiert. Er war sprachlos. Er hatte von seinem Glück keine Ahnung. Damals war die Begegnung für ihn, mit ihr, nur eine kurze Liebelei, wie es bei den jungen Leuten so üblich ist: Liebe, nur für eine kurze Zeit, ein Date im Vorübergehen. Für Uschi war und ist sie es immer noch, die große Liebe, trotz des seelischen Schmerzes, den sie erlitt.

    Rumpel reagierte verdutzt: „Davon habe ich doch nichts gewusst, das musst du mir glauben“, sprudelte es aus ihm heraus. „Und, warum hast du dich nicht gemeldet?“ Er merkte, dass dies eine unpassende Frage war, und senkte wie zur Entschuldigung die Augen.

    In seinem Inneren brodelte es.

    Er zögerte und hielt inne, als würde mit ihm eine grundsätzliche Änderung seines Wesens geschehen. Dann, plötzlich, mit freudigem Gesicht, versuchte er, sie erneut zu umarmen. „Mädel! Hätte ich das gewusst, ich, ich …“ stotterte er. „Man, du bringst mich vielleicht durcheinander.“ Und laut rief er mit strahlendem Angesicht in die umstehende Menge: „Leute, ich werde Vater!“ Im Saal herrscht kurzzeitig Stille. Dieses Mal hielt Uschi still. Auch bei ihr zeichnete sich nun ein glückliches Lächeln in ihrem Gesicht ab. War das vielleicht schon so etwas wie ein Heiratsantrag, fragte sie sich?

    Ringsum hatten alle dieses Schauspiel mit Spannung beobachtet. Ein Raunen ging durch die Menge und plötzlich war lautes Lachen zu vernehmen und starker Beifall brandete auf. Alle waren mit dem Happy End froh und glücklich. Die Kapelle spielte einen kräftigen Tusch und das Tanzvergnügen konnte weitergehen.

    War das noch der grobe und ruppige Rumpel, den alle kannten? Nein, er wurde noch ein friedvoller, ansehnlicher, liebevoller, weicher Vater, der sich gut um seine kleine Familie kümmerte. Damit wurde er seinem richtigen Namen, Reiner Liebscher, eher gerecht.

    Dem Stachelschwein fehlt eine Borste

    Gerade geht die Sonne auf. Sie schickt ihre ersten Strahlen über die Wipfel der Laubbäume, die schützend das große Areal umrahmen, in dem den Stachelschweinen ein ausreichendes Territorium gegeben wurde, in dem sie sich wohlfühlen können. Stichi, dem strammen Stachelmann, trifft ein greller Strahl als Erstes. Er schüttelt sich etwas und niest kräftig. Die Nacht war ruhig, er hat genügend schlafen können. Nun rappelt er sich aus seinem Lager, schaut sich um, sucht nach seinem Weib, die Piekse. Er stutzt. Als Kenner seiner Frau schaut er einmal, schaut er zweimal und kommt zu dem Schluss. Hier stimmt etwas nicht. Er trippelt näher heran und findet seinen ersten Befund bestätigt. Seiner Piekse fehlt eine Borste. Ein Stich geht ihm durchs Herz. Er vermutet etwas, das er von seiner treuen Piekse nie erwartet hätte. Ging sie freiwillig fremd? Geht e ihm durch den Schädel oder wurde sie vom Rädelsführer der Stachelschweinhorde überwältigt, vergewaltigt. Das wäre ein Skandal. Er wird unruhig. Pieksi schläft noch sanft. Er traut sich nicht, sie zu stören, sie zu wecken. Hin und Her treibt es ihn im weiten Garten. Er fragt sich, was soll ich tun. Scheiden lassen, aus dem Nest jagen. Welche Blamage, wenn das herauskommt und die anderen Tiere im Zoo davon erfahren. Stichi wird unruhiger und immer gereizter. Durch sein auffälliges Verhalten werden die anderen Tiere natürlich aufmerksam. Was ist los? Warum? Weshalb ist Stichi so aufgewühlt? Wollen sie wissen. Es dauert nicht lange und alle Tiere wissen über Stichis Zustand Bescheid. So etwas spricht sich auch in einem Zoo schnell herum. Der Buschfunk ist hier noch viel aktiver als bei den Menschen. Nun wird sogar das Zoopersonal aufmerksam. Allgemeine Unruhe im Gehege. „Was ist los?“ Fragt der Direktor die Pfleger. „Schnell holt den Tierarzt, es muss etwas geschehen. Die Tiere müssen beruhigt werden. Großeinsatz. Alarmiert die Feuerwehr, alarmiert die Polizei zum Absperren des gesamten Geländes. Das benötigen wir jetzt, bevor die Besucher kommen. “Stichi flitzt hin und her. Er flitzt in alle Ecken. Immer noch weiß keiner, was der Grund für die allgemeine Aufregung ist. Alle Pfleger vor Ort kontrollieren schnellstens ihren zugewiesenen Pflegebereich und melden schließlich „Keine besonderen Vorkommnisse! Nur bei den Stachelschweinen ist etwas nicht in Ordnung. Die Erdmännchen schauen sich flink um und tuscheln. Die Papageien und Krähen kichern und flattern wild umher. Sie wissen natürlich alles ganz genau, die Plappertaschen. Gänse und Enten schnattern vermeintliche Neuigkeiten laut hinaus. Auch im Paviangehege ist das Gerücht schon angekommen. Dort ordnet Weißrücken, der Patriarch, allgemeine Jagd und Sittenkontrolle auf die Weibchen an. So etwas steckt alle an. Überall beginnt ein loses Treiben. Der Zoodirektor grübelt mit der Tierärztin über die Ursachen nach. Welches Gegenmittel könnten sie einsetzen. Wie schnell kann es helfen? Sie beschließen: Der Zoo wird heute für Besucher gesperrt. Wir können es nicht riskieren, womöglich stecken sich die Besucher an.

    Nur Heinz, der Sohnemann des Direktors, schlendert, unbeeindruckt vom aufregenden Geschehen, durch den Tiergarten. Am Gatter der Stacheltiere hätte sich fast den langen spitzen Stachelschweinstachel, der an dem Drahtzaun steckte, in die Hand gespießt, wenn nicht gerade ein Esel, der angesteckt vom allgemeinen Trubel, wie toll geworden umherspringt, seine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Aber ein kleines bisschen hat es doch gepikst. Heinz schwankte zwischen Esel und Piks. Der Piks war stärker. Heinz läuft stracks zu Pfleger Martin: „Schau dir das an, der hat mich gestochen, ganz toll.“ Martin, mit dem klugen Köpfchen, kombinierte, ruft den Notdienstarzt und den Direktor, um ihm den Vorfall zu berichten. Alles klar, sagte der und blies den Großeinsatz ab. Er erkannte, mit Sicherheit hatte sich Pieksi beim Wühlen im Unterholz eine Borste im Gatter eingeklemmt und ausgerissen.

    Der Schmerz war groß. Pieksi ist in ihr Lager getrottet und hat weinend die Nacht verbracht. Sie schlief erst am Morgen richtig ein und schläft immer noch ohne wahrzunehmen, was rings um sie für Aufregung geschehen war.

    Als Stichi das erschnüffelt hat und anderen Tiere die richtige Ursache der Aufregung erfahren, tritt wieder Ruhe im Zoo ein. Feuerwehr und Überfallkommando ziehen wieder ab. Heinz bekommt vom Notdienstarzt vorsorglich eine Spritze in den Po, einen dicken Verband um die Hand und alles ist in zwei Wochen wieder gut. Piekse, diese schöne dicke fette Sau, hat von der allgemeinen Aufregung nichts mitbekommen. Sie schlief noch fest, als Stichi von draußen zurückkam. Er weckt sie und berichtet ihr vom Geschehen im Park. „Ach Gott, ach Gott, was habe ich da nur angerichtet“, jammert sie. „Ich war heute Nacht im Halbschlaf noch einmal im Gehege. Die Äpfel waren faul. Am Zaun bin ich entlang getorkelt. Da muss es dann geschehen sein mit meiner Borste. Der Schmerz hat mich gänzlich munter gemacht. Ich bin schnell zurück in meine Kuhle, konnte lange vor Schmerzen nicht einschlafen und habe nun schließlich das Aufstehgrunzen verpasst. Nein, solch ein Pech und Unglück. Künftig gebe ich bessere acht. Das wird mir nicht noch einmal passieren. Ich verspreche es, Stichi, Ehrenkrunz!“

    Heinrichs verlorene Zweiäugige

    Heinrich Langfaden, seines Zeichens alternder Dorfschneider von Maxhausen, sitzt mit verschränkten Beinen auf seinem Schneidertisch, wie einst der Schneider Wippel aus Düsseldorf. Er müsste nicht, aber kann nicht anders, es reizt ihn immer wieder hier zu sitzen und etwas zu nähen. Schließlich tat er es doch sein Leben lang. Ganz aufhören, nein, das geht nicht. Also sitzt Heinrich, nur für gute alte Freunde, gelegentlich auf dem großen, eichenen Arbeitstisch. Auf dem Fenstersims, gleich neben seinem Kaffeetopf, den ihm seine Frau Frieda jeden Morgen zusätzlich bereitstellt, steht ein Glas Wasser, wie immer, mit seinen Zähnen. Die braucht er zum Nähen nicht. Aber manches mal spricht er mit seiner Zahnprothese. Immer dann, wenn die Sonnenstrahlen durch das vom Wind bewegte Laubwerk der Bäume im Garten zitternd auf das Glas fallen, zittern auch die Zähne im Glas, als würden sie sprechen, mit ihnen und den Vögeln im Garten. Dabei sinnt Heinrich vor sich hin. Er darf das, er kann das. Er ist meist allein in der Schneiderdtube, niemand stört ihn; Heinrich spinnt dabei so manchen lustigen Faden für sich allein und lacht hellauf über sich selbst, über seine Witze. Von hier kann er bisweilen mal hinaus in den Garten schauen und sich seine Augen erholen lassen vom Einerlei der Nadelstecherei.

    Heinrich nimmt einen großen Schluck vom frisch gebrühten Schwarzen und schaut sich um. Der Nadelstecher sucht und sucht. Er vermisst seine Schere, der Faden muss ab. Seit Tagen schon pusselt er an Schreiner Hugos Sonntagsrock und möchte sein Werk vollenden. Wo ist seine Schere? Weg ist sie, verschollen. Er kann sich drehen und wenden, die Schere kommt nicht in Sicht. Den Faden abbeißen, geht nicht, die Werkzeuge dafür liegen im Glas. Damit er nicht erst noch, nur wegen der Schere, vom Tisch muss, solche Übungen fallen ihm schon etwas schwer, die Gicht nervt ihn erheblich, will er seine Frau Frieda bitten, nach der Schere zu suchen. Doch die muss erst mal her, die Frieda. Er weiß, wenn er sie rufen würde, sie könnte ihn nicht hören. Aus dem zahnlosen Mund kommt nur ein unverständliches Röcheln. Zum Rufen hat er sich etwas ausgedacht und Frieda hat sich seit Jahren darauf eingestimmt. Er klatscht mit der Fliegenklatsche auf den Tisch. Den Klatsch versteht sie und kommt, wenn es ihr auch schwerfällt. Doch, wenn er klatscht, ist es etwas Besonderes. Also kommt sie. Wo ist nur die Fliegenklatsche? Auf dem nebenstehenden Hocker liegt sie. Er will danach greifen, aber die Sitzfläche, auf welcher sich die Klatsche befindet, ist um einiges tiefer gelegen als der Tisch. Heinrich müsste etwas mehr zur Tischkante rutschen, um seine Klatsche erreichen zu können. Au, die Polsterung seiner Steißknochen hat arg nachgelassen, bemerkt er beim ersten Rutschversuch. Nach einigen unsportlichen Verrenkungen gelingt es ihm schließlich doch noch zu rutschen, will tief nach der Klatsche greifen, verliert dabei das Gleichgewicht, es reißt ihn vom Tisch. Als er auf dem Boden ankommt, tritt er auf eine heruntergefallene Zwirnsrolle, die verursacht ein weiteres Ausrutschen, Richtung Tischbein, welches dem starken Ruck nicht widerstehen kann und vom alternden Gestell abknickt. Dadurch neigt sich die mächtige Tischplatte gefährlich schräg nach unten und begräbt den armen Heinrich unter sich. Bei diesem Malheur versucht Heinrich zu retten, was zu retten ist, stützt sich mit den Händen ab und sticht sich dabei die da unten liegende Scherenspitze in die Hand. „Au! Ach, hier bist du, meine schöne Zweiäugige, Gekreuzte mit dem spitzen Schnabel. Du tust mir weh. Ich habe dich doch gesucht. Du solltest am Haken hängen, wie es sich für meine Schere gehört. Aber nein, du liegst hier unten und mir tropft das Blut“, scherzt er noch in dieser misslichen Lage mit sich selbst und hofft im Stillen auf Hilfe.

    Heinrich benötigt jetzt keine Fliegenklatsche als Signalhebel. Das Bruchgeräusch, das der zusammengekrachte Tisch erzeugt, reicht, um Frieda auf den Plan zu rufen. Die wuselt in der Küche, springt, soweit ihr das überhaupt möglich ist, vom Krach geschreckt auf, hangelt sich schnell an den Möbeln lang, um nicht erst den Rollator bemühen zu müssen und steht in der Tür zur Schneiderwerkstatt. Ratlos. „Was ist los, wo bist du?“, ruft sie in den Raum hinein. Ihren Heinrich kann sie nicht sehen. „Hier, unter dem Tisch, liege ich.“ Meldet sich Heinrich mit kläglicher Stimme.

    Hast du schon zum frühen Morgen geschnäpselt?“

    „Quatsch! Ich trinke doch nichts! Hebe die Platte an, damit ich wieder vorkommen kann, ich schaffe es nicht allein, die zu heben.“ Als Frieda das Unglück sieht, erschrickt sie und stellt fest: „Das kann ich auch nicht!“

    „Dann geh zu Gerd, der soll kommen und mir helfen, ich blute.“ Das ist ein Alarmsignal. Frieda denkt an ihre mühsame Arbeit von gestern. „Schmiere mir nur kein Blut an die Gardinen, die habe ich erst frisch gewaschen. Sieh dich vor!“, ruft sie drohend. Flecken an der Gardine sind trotz der momentanen Situation ihre größte Sorge

    „Hol Gerd!“, ruft Heinrich etwas deutlicher in der Betonung.
    „Ja doch, ja, ich eile.“ Sie geht wacklig zurück in die Küche, nimmt den Rollator und schiebt ihn mit sich zum Nachbarn. „Guten Morgen, Gerd.“ Grüßt sie freundlich: „Ich wollte … und Heinrich …“ Weiter kam sie nicht, denn der liebe Gerd grüßt sie ebenso freundlich und bittet sie gleich herein. „Wie geht es euch, noch gesund und munter? Grete liegt im Wohnzimmer auf der Liege, sie hat das Reißen wieder mal ganz toll. Ich muss nur schnell einkaufen gehen, denn Grete kann jetzt nichts machen. Komm nur rein, soll ich dir einen Kaffee machen? Geht rasch. Grete freut sich über jeden Besuch. Und bla … bla … bla …“

    Frieda kommt nicht zu Worte. Doch sie, sich der Notlage ihres Heinrich bewusst, fast Mut und ruft Gerd zu „Gehe doch schnell zu Heinrich rüber, der liegt unter dem Tisch und kann nicht mehr.“

    Gerd lacht, denkt an einen Scherz und meint „ich kann schon lange nicht mehr“ und kommt mit diesem Witz nicht recht an, erntet von den Frauen nur böse Blicke die ihm sagen sollen, sie wissen darüber gut Bescheid. Aber er geht und sieht das Blutbad, das da angerichtet ist, hebt die Tischplatte hoch, damit Heinrich vorkriechen kann und sucht etwas zum Abbinden der Wunde. Findet aber nicht in der fremden Wohnung. „Das hört gar nicht auf zu bluten. Heinrich, ich rufe den Notarzt. Wo steht euer Telefon?“ Frieda, die langsam mit ihrem Gefährt nachgekommen ist, sagt. „Hier ist es. Ruf gleich die 221, die sind schneller.“

    „Was ist denn das für eine Nummer? Die gibt es doch gar nicht. Du meinst die 112, du bist auch schon ganz schön durchgedreht, Frieda. So schlimm ist es doch nicht. Wegen eines Stiches in den Handballen, die Feuerwehr zu rufen, wird bestimmt teurer, als die rote Suppe es wert ist. Ich hole die Gerlinde von gegenüber, die versteht es, den Blutfluss einzudämmen, die hilft bestimmt.“

    Die ehemalige Schwester Gerlinde erkennt die Situation sofort. Verbindet die kleine Schnittwunde fachgerecht mit einem Pflästerchen und fügt hinzu: „Den Sonntagsrock müsst ihr in die Reinigung geben, der ist doch versaut.“

    Ganz und gar rein zufällig, wie er beteuert, kommt Schreiner Hugo vorbei. Der sagt: „Ich will nur mal so nach meinem Rock schauen, ob er vielleicht schon fertig ist. Ich brauche ihn am Sonntag, hat meine Hilde gesagt. Da ist die Kindstaufe unserer 3. Enkelin. Aber in die Kirche gehen, da mache ich mir ohnehin nicht viel draus. Ich habe da immer so ein blödes Gefühl vor dem Pastor Friedrich. Du weißt schon, warum.“

    „Oh ja, das weiß ich noch. Den Krach und Spaß zugleich mit dem Popen werden wir wohl nie vergessen, obwohl es schon fast siebzig Jahre her ist. Was haben die Leute damals gelacht, als seine Kutte als Vogelscheuche im Pflaumenbaum hing.“

    „Der schaut mich heute noch böse an“, sagt Hugo, „obwohl du den Kittel aufgehängt hast.“

    „Das kommt dir und mir gelegen“ meint Heinrich, der sich vom ersten Schreck seines Unfalls etwas erholt hat. „Dein Rock ist fertig. Ich wollte nur noch einen Faden abschneiden. Aber wegen der verschollenen Schere geschah das blutige Malheur. Den Anzug kannst du nicht gleich anziehen, der muss erst in die Reinigung. Mensch, hast du ein Glück, du kannst dem Friedrich aus dem Wege gehen — oder bekommst eine andere Kutte übergestülpt.“

    Erst jetzt wird es Hugo klar, welche glückliche Massel ihn vom Kirchgang und vom Popen befreit. „Ich werde ganz langsam nach Hause gehen, um das Malheur meiner Alten zu beichten.“ „Warum langsam?“, will Heinrich wissen. „Damit sie wenige Zeit hat, sich was Neues als Ersatz auszudenken und ich muss womöglich doch noch mit in die Kirche.“

    Beim Friseur

    Ich sitze nun schon eine halbe Stunde im Friseursalon zur flotten Schere und nichts passiert, was mich und besonders meinen Haarschopf und Bart betrifft. Ich werde kaum beachtet. Nicht mal ein Kaffee wird mir serviert. Niveaulos. Ich langweile mich. Die ollen, abgegriffenen Gazetten von vorvorgestern habe ich durch. Dass das dritte Kind von William und Kate unter Narkose geboren wurde, steht in allen Sportzeitungen. Also nichts Nennenswertes Neues.

    Plingplong macht es, die Tür geht auf. Plongpling macht es, die Tür geht zu. Im Salon steht eine „Er.“ Oder ist er ein „Sie?“ Das fragwürdige Outfit lässt keine eindeutigen Rückschlüsse zu. Ich entscheide mich für ein „Es.“ Das „Es“ hat langes, strähniges, gemischt farbiges Haar, bis zu den Schultern runter als Doppelzopf geflochten, mit zwei kleinen Schleifen in Rot und Blau als Abschluss. „Es“ hat dazu ein hellgrünes, einem Bolero ähnelnden Jäckchen, leger über die Schulter geworfen. Die dunkelschwarzen, in langen, mit Glitzerstreifen durchwobenen, vom freien Oberbauch abwärts herunterhängenden Fransen, stellen offensichtlich eine Art Beinbekleidung dar. Mit wenigen winzigen Schritten stolziert das „Es“ in Richtung Haarkünstler, der unterbricht augenblicklich die Tätigkeit bei seinem Kunden, als er „Es“ gewahr wird. Der gegenseitige optische Kontakt lässt eine innige, intime, aufreizende Verbindung zwischen beiden erahnen. Die Blicke elektrisieren einander. Eine kurz eingeknickte, im Linksdrall ausgeführte Bewegung gestattet mir einen schnellen Blick unter das Flatterkleid von „Es.“ Ein in grellem Gelb leuchtendes bis zum Knie reichendes Höschen drängt sich meinen entsetzt blickenden Augen auf. Zwischen den flatternden Enden der Fransen blitzen rosa-silberne, höhenverstellbare Plattformer, die bis zum Knie hoch mit schwarzen Lederriemchen kreuzweise gebunden sind, hervor.

    Ich schreie unhörbar zweimal: „Hilfe.“

    „Es“ muss es gehört haben. Doch „Es“ würdigt mich keines Blickes und sei es auch nur ein ganz kurzer. Ich wünsche es mir, denn einen Blick ins „Es“-Antlitz ist mir bisher nicht gelungen, weil es bisher von einer dicken Rauchwolke umhüllt wird, die aus seiner edlen Shagpfeife quillt.

    Jetzt, im Moment, scheint es mir, als lichte sich der Dampfschleier. Ein gekonnter, kräftiger Wimpernaufschlag vom mit langen schwarzen Kunstwimpern dekorierten Augenpaar durchtrennt den Nebel. Die Sicht zum Haarstylisten ist frei. Der Augenaufschlag ist eindeutig. Sie verstehen sich wortlos. Dem „Es“ wird sofort ein reservierter freier „Arbeitsplatz“ angeboten, auf dessen Ablage bereits eine duftende Tasse Kaffee dampft und Feingebäck bereitsteht. Das „Es“ haucht sich steif-elegant auf den Barbierstuhl und hält ein lilafarbenes Täschchen mit gespreizten Fingern weit von sich, um den gekünstelten Niederlassungsvorgang nicht zu gefährden. Gekonnt edel.

    Es mangelt mir an Atemluft.

    Ich darf wieder warten. Aber es ist mir ein außerordentliches Vergnügen. Die Langweile verflogen. Mir kommt der Gedanke auf: „Junge, hier bist du im falschen Lokal.“ So etwas Edles kannst du nicht bezahlen und ich verlasse beflissen, um kein Aufsehen zu erregen, geduckt und schleichend das Etablissement.

    Mein Bart bleibt dran!

  5. Es war einmal eine junge Prinzessin, die lebte in einem riesigen Schloss. Sie hatte alles, was ihr Herz begehrte:
    Reichtümer, Schmuck, die besten Speisen und Eltern, die sie liebten.
    Bloß eine Sache fehlte ihr:
    Ein Stuhl.
    Vor zwölf Jahren, sechs Monaten und vier Stunden krachte König Harald der fünfte auf seinem mit Diamanten bestückten Thron zu Boden. Dabei erlitt er eine unvergessliche Blamage vor seiner Verlobten aus einem befreundeten Königreich, sodass diese zurück in ihre Heimat floh.
    Als Reaktion auf diese Schmach erließ er eine Woche später ein ausführliches Gesetz zum Verbot sämtlicher Sitzmöbel. Fortan stand die königliche Familie mitsamt ihre Untertanen bei Mahlzeiten, Konferenzen und allen anderen Tätigkeiten. Wehe dem, der es wagte, andere Möbel oder gar den Boden als Sitzgelegenheit zu missbrauchen! Trotz seiner neuen Verlobten, der Mutter der Prinzessin, folgte König Harald jedem Hinweis und kannte kein Erbarmen.
    Niemand hinterfragte das Verbot.
    Bis zum achten Geburtstag der Prinzessin. Den Abend zuvor hatte sie sich zwischen den Gepäckstücken ihres Onkels versteckt, die er auf die Kutsche lud. Nach einer holprigen Fahrt in das angrenzende Königreich erblickte sie ihren ersten Stuhl. Ein Tisch in Kleinformat aus Holz, auf dem ein Bauernjunge saß, um an einer Werkbank zu arbeiten.
    In dieser Nacht träumte sie von einem prächtigen Leben mit Stühlen. Welch ein Luxus! Kein Brennen mehr in den Waden! Bequem Schach spielen! Bei Müdigkeit nicht mehr auf das Bett angewiesen sein!
    Den nächsten Tag veranstaltete der König eine spektakuläre Geburtstagsfeier für die Prinzessin. Zu Ehren der Tradition speiste die Familie im Stehen, spielte Schach, das Lieblingsspiel der Prinzessin, und beim Sonnenuntergang durfte sie ihren sehnlichsten Wunsch äußern. Sie wünschte sich…
    einen Stuhl.
    Der König brach zusammen. Die Königin schlug sich die Hand vor den Mund. Der Rest der Anwesenden stieß ein kollektives Keuchen aus.
    „Hast du gerade… Stuhl gesagt?“, vergewisserte sich die Königin und überließ es ihren Untertanen, ihrem Mann Riechsalz unter die Nase zu halten.
    „So ist es.“ Die Prinzessin ließ sich ihre Verunsicherung nicht anmerken. Sie hatte früh gelernt, ihre Wünsche mit einer gewissen Entschlossenheit zu präsentieren.
    „Meine liebe Tochter, wünsch dir alles, was du begehrst. Nur keinen Stuhl.“
    Und so ging der achte Geburtstag der Prinzessin in die Geschichte des Königreichs ein – als der Tag, an dem ihr ein Wunsch das erste Mal ausgeschlagen wurde.
    Doch das ließ die Prinzessin nicht auf sich sitzen.
    Nach der Feier rief sie zu einem Sitzstreik auf, an dem nur sie selbst teilnahm. Nach einer Woche, in der der König einige Ohnmachtsanfälle erlitten hatte, stahl sie sämtliche Bücher aus der königlichen Bibliothek und türmte sie überall im Schloss zu Sitzmöglichkeiten auf.
    Am neunten Tag ihrer Rebellion fiel der König vor Schreck einen Treppenabsatz herunter und brach sich beide Beine.
    Er wehrte sich leidenschaftlich gegen einen Rollstuhl. Doch schon bald bemerkte er, wie er vom täglichen Leben seiner Familie ausgeschlossen war. Seine Tochter gewann in der Zwischenzeit Schachspiele gegen professionelle Spieler, meisterte komplizierte Partituren im Musikunterricht und lernte die japanischen Schriftzeichen – alles ohne sein Beisein.
    Der König gelangte an den Punkt, an dem seine Einsamkeit die Schmach der Thron-Affäre überstieg. Er bestellte die Prinzessin in sein Gemach.
    „Mein liebes Kind. Du bist mir teurer als jeder Prunk der Welt. Es schmerzt mich, dein Aufwachsen nicht zu begleiten. Darum erfülle ich dir deinen sehnlichsten Wunsch.“
    Die Zofen rollten den ersten Stuhl seit zwölf Jahren in sein Gemach. Freudentränen schossen der Prinzessin in die Augen und sie umarmte ihren Vater im Sturm.
    Und so genossen die königliche Familie sowie ihre Untertanen fortan ein bequemeres Leben und die Prinzessin entwickelte sich zu einer rechthaberischen verwöhnten Frau.
    Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

  6. Auf der Suche nach der Ewigkeit

    „Und was soll das alles eigentlich?“, fragte der erste Gott seinen Stellvertreter, den zweiten Gott.
    „Du meinst geboren werden, das bisschen Leben und dann wieder sterben?“, meinte der zweite Gott, beobachtete irritiert die facettenreichen Formen des Lebens im Universum und hatte trotz aller göttlichen Fortbildungen keine zufriedenstellende Antwort parat. Zwar erstreckte sich das biologische Spektrum von einfachen Bakterien mit Zellmembran bis zu komplexen Säugetieren mit Gehirnmasse. Und trotzdem konnten Artenvielfalt und Populationsgrößen nicht darüber hinwegtäuschen, dass das wundersam, willkürlich und widersprüchlich wirkende Konzept des Lebens noch nicht perfekt war.
    „Und? Hast Du schon eine passende Antwort gefunden?“, fragte der erste Gott den zweiten Gott.
    Urplötzlich hörte der zweite Gott irgendwo in den unendlichen Weiten des Weltraums ein seltsames Geräusch, das er in dieser abrupt wechselnden Lautstärke, Klangfarbe und Geschwindigkeit nie zuvor gehört hatte. Irgendetwas klackte und klickte, schnaufte und schniefte oder ratterte und rüttelte pausenlos vor sich hin. Es klang so, als ob eines dieser halbwegs intelligenten Lebewesen wieder eine dieser halbwegs intelligenten Arbeiten verrichten musste, obwohl es eigentlich gar keine Lust hatte.
    Also zoomte er aus seinem göttlichen Kontrollzentrum am Ende der Raumzeit durch die kosmischen Superstrukturen aus Millionen von Galaxienhaufen. Und obwohl das Universum unendlich groß war und in alle Richtungen immer gleich aussah, fand er relativ schnell einen lokalen Superhaufen, der eine lokale Gruppe von Einzelgalaxien enthielt, in der sich eine bestimmte Galaxie mit dem passenden Stern und dem gesuchten Planeten befinden musste.
    „Hallo? Bist Du noch da? Ich warte auf eine Antwort!“, rief der erste Gott genervt ins Weltall.
    Zeitgleich zoomte der zweite Gott in die lokale Gruppe, schräg an der Andromeda-Galaxie vorbei und in eine Spiralgalaxie hinein, die von den halbwegs intelligenten Lebewesen einst Milchstraße genannt worden war, obwohl deren Form aus der Götterperspektive eher an einen Wirbelsturm erinnerte.
    Von dort aus konzentrierte sich der zweite Gott – der sich im Verlauf seiner steilen Götterkarriere oft gefragt hatte, wann er endlich erster Gott werden würde – auf einen der äußeren Spiralarme dieser Milchstraße. Er zoomte zwischen tausenden Sternen hindurch und fokussierte sich auf einen mittleren Fixstern, den die halbwegs intelligenten Lebewesen einfach nur Sonne nannten.
    „Willst Du mich hinters Licht führen oder warum antwortest Du nicht?“, schrie der erste Gott und hörte nur sein Echo. Denn genau in diesem Augenblick wurde der zweite Gott von der Sonne geblendet, deren Strahlkraft er völlig unterschätzt hatte. Nachdem der zweite Gott sich an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatte, sah er zwei riesige Gaskugeln, wobei die vordere Kugel namens Jupiter viel größer wirkte als die hintere Kugel namens Saturn. Dafür hatte die hintere Kugel die schöneren Gesteinsbrockenringe.
    Erneut reflektierte der zweite Gott seine unterbelichtete Stellung hinter dem ersten Gott und fragte sich, warum sein Chef ein großer Star in der Götterwelt war und er immer nur den Sternenstaub wegfegen durfte. Hätte er nicht schon längst befördert werden müssen, weil er die schönere Götterspeise zubereiten, den schöneren Göttergatten erschaffen oder die schönere Götterdämmerung verursachen konnte?
    Zwar fand er wieder keine zufriedenstellende Antwort, aber er wusste zumindest, dass sein namenloser Götterstatus größer war als die Namen der vergangenen Götter Jupiter und Saturn. Denn was nutzte einem toten Gott ein toter Riesenplanet, wenn es dort keine Lebewesen gab, die ihn verehren konnten?
    Eine kurze Raumzeit später entdeckte er im Schatten der beiden Riesengaskugeln zwei etwas kleinere Eiskugeln, mit den Götternamen Uranus und Neptun. Auch diese beiden Planeten waren tot wie ihre einstigen Götter und lagen als eiskalte Außenseiter am Rande des Sonnensystems.
    Dann passierte eine ganze Weile lang gar nichts. Der erste Gott hatte die Kommunikation mit seinem Stellvertreter bereits abgebrochen, während der zweite Gott schon aufgeben und in irgendeinem anderen Raumquadranten nach der Geräuschquelle suchen wollte. Nach den vier Kugeln aus Gas und Eis ohne Sahne konnte er einfach keine weiteren Objekte identifizieren, die um den Stern namens Sonne kreisten. Und trotzdem musste es da noch etwas geben, das ihm bisher nicht aufgefallen war. Schließlich hatte er in seinem göttlichen Gedächtnis noch die Namen von vier weiteren Planeten abgespeichert, die sich in diesem Raumquadranten namens QWERTZ befinden mussten.
    „Du musst ganz genau hinsehen, denn der Teufel liegt oft im Detail!“, hatte ihn der erste Gott während seiner Götter-Ausbildung ermahnt und sollte auch diesmal wieder Recht behalten. Weit vor den Eiskugeln und Gaskugeln befand sich eine schmale Zone im Sonnensystem, wo es nichts mehr geben konnte, weil die Gaskugeln vor Milliarden Jahren schon sämtliches Planetenbaumaterial eingesaugt hatten.
    Und trotzdem war da etwas, was ein Gott seiner Größe nur mit dem Super-Fokus seiner göttlichen Augen erkennen konnte: Es waren vier kleinere Gesteinsbrocken im inneren Planetenkreisverkehr um den Sonnenstern. Den ersten Brocken hätte er fast mit einem Sonnenfleck verwechselt, weil dessen winziger Schatten als schwarzer Punkt vor dem Stern aufgetaucht war. Zwar war der graue Gesteinsbrocken namens Merkur – im Gegensatz zum Pluto – nie zum Zwergplaneten degradiert worden, aber seine Oberfläche war trotzdem viel zu klein und hatte zu viel Sonnenbrand abbekommen, um die halbwegs intelligenten Lebewesen beherbergen zu können.
    Deshalb schwenkte der zweite Gott mit seinem Blick zur Seite und lokalisierte in der Weltraumlücke zwischen dem hellgelben Kohlendioxidbrocken namens Venus und dem rostroten Eisenoxidbrocken namens Mars einen azurblauen Sauerstoffbrocken namens Erde, den er in dieser formvollendeten Schönheit schon lange nicht mehr gesehen hatte.
    Und so tauchte er durch die Wolken der Atmosphäre in die Erde hinein, zoomte auf einen Kontinent, ein Land, eine Region, eine Stadt und auf eine Straße, die wirklich wie eine Straße aussah und entdeckte das gesuchte Lebewesen: Es war ein irdischer Zweibeiner namens Mensch.
    Der zweite Gott meinte zum ersten Gott: „Schau mal, dort unten ist dieser merkwürdige Zweibeiner, den wir uns merken müssen, weil er eben diese komischen Geräusche gemacht hat.“
    Es dauerte eine ganze Weile bis der erste Gott, der sich gekränkt in einen hinteren Quadranten am anderen Ende der Raumzeit zurückgezogen hatte, aus seiner dunklen Schmollecke zurückmeldete: „Ja, was gibt es denn? Warum hast du dich nicht gemeldet als ich mir dir reden wollte?“
    „Entschuldigung! Ich war dermaßen geblendet von all diesen Wundern des Weltalls, dass ich einfach alles andere total vergessen habe. Aber dafür gibt es nun die passende Entschädigung!“
    Und als erster und zweiter Gott in das Gehirn des irdischen Zweibeiners eintauchten, stellten sie fest, dass ihr Zweibeiner eigentlich eine Zweibeinerin war, den die Menschen Frau nannten. Außerdem stellten sie fest, dass diese Frau eine Geschichte über ihr irdisches Leben erzählen wollte, wobei erster und zweiter Gott nicht wussten, zu welchen Menschen die Frau jetzt sprechen sollte.
    Auf den ersten Götterblick sahen sie nur eine kleine Lichtquelle namens Lampe über einer großen Holzplatte namens Tisch. Auf den zweiten Götterblick erkannten sie ein dickes Buch namens Bibel und ein eckiges Gerät namens Computer. Die Menschen hatten dem Computer-Gerät, das über den ganzen Planeten verbreitet worden war und trotz seiner unscheinbaren Größe gigantische Auswirkungen auf das Weltgeschehen zu haben schien, viele verschiedene Namen gegeben. Kleine Computer-Geräte nannte man meistens Laptop, Tablet oder Notebook, obwohl das Gerät gar kein richtiges Notizbuch war, weil es keine Papierseiten hatte, auf denen man mit einem Stift schreiben konnte.
    Stattdessen gab es im Gerät ein verbautes Tastenbrett für sogenannte Buchstaben, Zahlen und Sonderzeichen, wobei die Buchstabentasten nicht vom ersten A-Zeichen bis zum letzten Z-Zeichen, sondern scheinbar willkürlich im QWERTZ-Format angeordnet waren. Millionen von Menschen tippten auf dem ganzen Planeten mit all ihren Fingern nach diesem System, ohne zu wissen, dass es sich um das göttliche Codierungssystem zur Einordnung eines Raumquadranten handelte.
    Nun war dieses Laptop-Gerät einfach aufgeklappt worden und die obere Innenseite des Gerätes schimmerte in einem azurblauen Farbton, der die beiden Götter an die irdische Atmosphäre erinnerte, die eigentlich nur das Blau der irdischen Ozeane gespiegelt hatte.
    Einen Moment später hörten sie wieder die seltsamen Geräusche und sahen durch die Augen der Frau, dass sie ihre Finger auf dem Tastenbrett namens Tastatur bewegte und dabei einen bestimmten Ablauf in ihrem Leben beschreiben wollte, den die Menschen Geschichte nannten.
    Sie hörten ganz genau hin, als die Frau tippte und erzählte: „Mein lieber Gott. Ich schreibe Dir hiermit einen offenen Brief, den alle Lebewesen des Weltalls lesen sollen, weil wir ein paar wichtige Fragen klären müssen, bevor ich meine endgültige Entscheidung treffen kann. Wenn man sein Leben auf der Erde erst einmal gelebt hat, dann ist es doch für immer gelebt worden. Oder sehe ich das etwa falsch? Und was wie eine banale Binsenweisheit klingt, hat jedoch gravierende Auswirkungen: Egal wie lang oder kurz, gut oder schlecht, spannend oder langweilig, sinnvoll oder sinnlos mein Leben auch immer gewesen sein mochte. Ich kann danach keine E-Mail an irgendeinen 24-7-Umtausch-Service bei der Lebenszentrale senden und schreiben, dass ich diesen oder jenen Teil meines Lebens gerne ein wenig ändern, kürzen, verlängern oder völlig neu erleben möchte. Das hattest Du in Deiner göttlichen Schöpfung – die ja eigentlich vollkommen sein sollte – bisher leider nicht vorgesehen.
    Aber nicht Gott sei Dank, sondern Mensch sei Dank hat sich bei dieser Problematik in den letzten Jahren doch einiges getan. Wenn man als Mensch nicht ewig auf die irdische Weisheit, göttliche Erleuchtung oder sexuelle Befriedigung warten will, dann gibt es seit Kurzem auch ein Leben in der Testversion. Also einem Probe-Abo für bestimmte Lebensphasen, die einmal ausprobiert werden können.
    Doch wo bekommt man so ein Probe-Abo fürs Leben? Bisher gibt es leider keine offiziellen Verkaufsstellen für derartige Dienstleistungen. Das Leben als Testversion befindet sich noch in der Testphase. Deshalb muss man erst im Internet suchen und am besten in die tiefsten Tiefen des dunkelsten Darknets tauchen, um dort einen passenden Dealer zu finden, der einem das Leben auf Probe versprechen kann. Da dieses Angebot jedoch keine gesetzliche Grundlage hat und in den meisten Ländern der Welt noch nicht zugelassen wurde, ist dieser Service eigentlich illegal. An dieser Stelle sollte man sich vorher über die Konsequenzen informieren, um sich zu überlegen, ob man ein solches Risiko für den kurzfristigen Adrenalinkick eingehen möchte oder nicht.
    Vor zwei Wochen hatte ich mich ganz bewusst für diese neue Lebenserfahrung auf Probe entschieden, weil ich das normale Leben ohne Vertragslaufzeit ja schon seit über vierzig Jahren kenne und endlich mal etwas Neues erleben wollte. Außerdem konnte ich mir nicht so richtig vorstellen, wie das mit dem Leben auf Probe genau funktionieren sollte. Schließlich machte das normale Leben ja auch keine Pause oder sagte Stopp, wir müssen mal eben auf den Probe-Abonnenten und dessen Entscheidung warten und können danach erst mit der Hauptveranstaltung weitermachen. Nein, so etwas gab es ja genauso wenig wie den Zug des Lebens, der alle drei bis fünf Minuten an einer Haltestelle hielt, damit alte Lebensgäste aussteigen und neue Lebensgäste hinzusteigen konnten.
    Frei nach dem Motto „Nächster Halt Jungbrunnen, Ausstieg in Fahrtrichtung links“ oder „Nächster Halt Seniorenheim, Ausstieg in Fahrtrichtung rechts“. Die Idee von der Lebensbahn wäre zwar originell, aber zudem ziemlich eintönig gewesen, weil das echte Leben nicht nur auf einer ein- oder zweigleisigen Strecke fuhr, um jeden Tag und jede Stunde aufs Neue an den gleichen Lebensstationen zu halten. Nein, eine passende Metapher wäre ein langer Fluss, der zwar jeden Tag in seinem Flussbett liegt, aber immer wieder frisches Wasser mit sich führt, indem ständig neue Lebewesen herumschwimmen.
    „Aus der Mitte entspringt ein Fluss!“ lautete auch schon ein passender Filmtitel. Das Leben als ewig fließender Langzeiterfahrung, die mal sanft, seicht und flachwellig durch einen lauen Frühlingstag plätschert und mal rau, tiefgründig und flutwellig durch den Sturm und die Gezeiten einer Herbstnacht donnert. Und weil das Leben als Strom völlig unberechenbar ist und nicht einfach angehalten werden kann, stelle ich mir dieses Probe-Abo wie einen Staudamm vor, der den Flusslauf des Lebens für den Probe-Zeitraum wie in einem Wasserreservoir speichern würde.
    Doch der komische oder kosmische Typ im Video-Call, der dubiose Darknet-Dealer mit seinem schwarzen Kapuzenpulli, seiner schwarzen Gesichtsmaske und seiner tiefen verzerrten Bassstimme, meinte zu mir, dass das alles mit dem Probe-Abo gar kein Problem sei: „Nein, ist kein Problem mit Abo! Kriegst Du sofort, verstehst Du? Musst Du nur gleich bei mir bezahlen und dann kriegst Du Abo von Kollegen!“ Besonders vertrauenserweckend war dieses Telefonat trotz Bildschirm nicht gewesen.
    Im Gegensatz dazu war meine Neugier besonders groß gewesen, so dass ich alle Ängste, Sorgen und Bedenken über Bord warf, um einmal in den Genuss dieses Probe-Abos kommen zu können. Schließlich hatten ja schon so viele Leute aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis von diesem Abo geschwärmt und meinten Sätze wie „Das ist wirklich extrem abgefahren und tierisch geil!“ oder „Das musst Du dringend mal machen. So einen krassen Scheiß hast Du noch nicht erlebt!“
    Und weil ich heute auch nicht mehr die Jüngste aller Dauersingles, Alltagsfliegen und Berufsjugendlichen dieser Welt bin und solche revolutionären Erfahrungen nicht erst im hohen Alter machen wollte, wenn mein fragiler Gesundheitszustand überraschende Probe-Abo-Erlebnisse und grenzwertige Last-Minute-Lebensbelastungen mit einem Schlaganfall oder Herz-Kreislauf-Kollaps quittieren würde, entschloss ich mich endgültig für ein spontanes „Ja, ich will!“ oder präziser formuliert: „Ja, ich will das Leben als Testversion im Probe-Abo für zwei Wochen ausprobieren, um dann selbstständig entscheiden zu können, ob ich das Abonnement anschließend verlängere oder nicht. Deshalb will ich auch gleich im Vorfeld sicherstellen, dass sich dieses Leben auf Probe nicht automatisch nach zwei Wochen verlängert und ich am Ende ein ganzes Lebensjahresabonnement bezahlen muss, obwohl mir die zwei Wochen Probeleben bereits das vorletzte Kleingeld und den allerletzten Nerv geraubt haben.“
    Daraufhin meinte der Darknet-Dealer am Bildschirmtelefon: „Ey, ist natürlich absolut kein Problem, weil Probe-Abo gibt’s nur für zwei Wochen und nicht mehr länger, weil dann Kunde entscheiden muss, ob er das Leben weiterleben will oder eben nicht!“
    Das war zwar kein grammatikalisch korrektes Deutsch, aber ich verstand trotzdem, worauf der Dealer hinauswollte und versuchte ihm einfach mal probehalber bedingungslos zu vertrauen. „Ok, mache ich.“, antwortete ich dann. So einfach schien das zu sein. Mal eben ein Leben auf Probe. Eine Angelegenheit, die viel komplexer war als sich der menschliche Verstand vorstellen konnte, habe ich mal eben in drei Sekunden beschlossen. War das dann nicht vielleicht doch etwas zu naiv von mir?
    Diese Bedenken kamen mir knapp zwei Minuten später und daher fragte ich den Dealer: „Ok, ich habe zwar gesagt, dass ich das mit diesem zweiwöchigen Probe-Abo jetzt durchziehen werde. Aber davor hätte ich dazu noch ein paar Fragen!“
    Der Dealer hatte seine schwarze Maske gelockert und tupfte sich die Schweißperlen von der Stirn. Dann guckte er mich aus seinen beiden Augenschlitzen an als hätte ich ihm gerade erzählt, dass ich mich in ihn verliebt hätte und ihm vor dem Probe-Abo noch dringend einen feuchten Zungenkuss geben müsste. Obwohl das physikalisch gar nicht möglich war, weil ich diesseits und er jenseits des Bildschirms war.
    „So war das nicht gemacht. Du hast gesagt, dass Du jetzt Probe-Abo für Leben willst. Und Du hast nicht gesagt, dass Du vorher noch reden willst, ob das für Dich gefällt oder nicht!“
    Wieder musste ich trotz seiner falschen Grammatik-Konstruktionen wieder lächeln und sagte: „Ja, aber nun sind mir halt noch ein paar Fragen eingefallen, die ich vorher stellen muss. Wenn ich diese Fragen nicht stellen kann, dann kann ich auch leider nicht Dein Angebot annehmen!“
    Diesmal guckte der Dealer so als hätte er irgendeinen Geist gesehen, der ihm erzählt hatte, dass er sich gerade in ihn verliebt hatte und ihm einen feuchten Zungenkuss geben wollte. Obwohl das physikalisch gar nicht möglich war, weil sich ein Geist weder diesseits noch jenseits des Bildschirms befinden konnte.
    „Also, jetzt mal konkret und korrekt! Stück für Stückchen! Du hast gesagt, dass Du Probeleben jetzt einfach mal machen willst. Korrekt oder konkret?“
    Ich nickte mit dem Kopf. „Ja, beides ist richtig!“
    Der Dealer grinste und fuhr fort. „Ok, dann hast Du jetzt gesagt, dass Du doch noch nicht weißt, ob Du Probeleben machen willst, weil Du erstmal noch was fragen musst. Konkret oder korrekt?“
    Ich nickte wieder mit dem Kopf und fügte hinzu: „Ja, aber! Das habe ich gesagt. Also darf ich jetzt bitte nun meine Fragen stellen oder nicht?“
    Der Dealer musste eine Weile überlegen, um sicherstellen zu können, dass er mir die aus seiner Sicht richtige Antwort gab und ich ihn nicht übers Ohr hauen würde. „Ok, habe ich verstanden. Dann mach mal los mit Deinen Fragen!“
    Ich musste mich kurz sammeln und den roten Faden meiner Befürchtungen wiederfinden, bevor ich ihm die korrekt-konkreten oder konkret-korrekten Fragen stellen konnte: „Ok, nun weiß ich wieder. Erste Frage: Was passiert, wenn ich das Leben auf Probe nun doch nicht ganz so toll finde und auf halbem Weg abbrechen möchte?“
    Der Dealer guckte verwirrt und versuchte zu antworten. „Weiß nicht! Dann musst halt sagen Stopp oder Halt oder Aus oder sowas eben. Verstehst Du?!“
    Ich versuchte zu verstehen: „Ok, das heißt also: Wenn ich Dir oder Deinen Kollegen ein klares Signal zum Abbruch des Experiments gebe, dann ist auch wirklich Schluss?“
    Der Dealer überlegte kurz und meinte dann knapp: „Ja, ist wohl so!“
    Ich war immer noch nicht ganz zufrieden und hatte eine zweite Frage auf den Lippen, dessen Wortlaut mir jedoch nicht mehr ganz einfallen wollte. Darum versuchte ich Frage Nummer Eins zu vertiefen: „Ok, nehmen wir mal an, dass ich das Probe-Abo auch nur dann bezahlen werde, wenn ich es voll und ganz genutzt habe. Was ist dann mit dem Abbruch?“
    Der Dealer guckte leicht genervt und überlegte noch etwas länger als zuvor, um Sekunden später eruptionsartig zu explodieren: „Was ist dann? Was ist dann? Ja, was ist dann, Frau? Sag mal, willst Du mich jetzt verarschen? Wie soll ich wissen, was dann ist und was dann kommt? Und wie willst Du wissen, was dann ist, wenn Du nicht mal weißt, was Du willst und ich nicht weiß, was Du willst, weil Du mir nicht sagst, was Du willst oder nicht willst oder ob Du überhaupt irgendwas willst. Dann soll ich was wissen, was ich nicht wissen kann, weil Du nichts weißt, was Du weißt oder was ich wissen soll, damit Du weißt was Du weißt, obwohl ich das gar nicht wissen kann? Das ist doch alles totaler Scheiß, oder?! Oder willst Du mich nur mal testen, damit Du sehen kannst, wenn ich mal richtig sauer bin?“
    Auf diese Spontanexplosion war ich wiederum nicht vorbereitet gewesen und suchte nach irgendwelchen beschwichtigenden Worten, die ihn nicht weiter verwirren würden.
    „Sorry, tut mir leid. Ich wollte Dich nicht ärgern. Ich bin halt etwas übervorsichtig, weil ich sowas noch nie gemacht habe!“ Ich konnte mir ein abschließendes „Weißt Du?“ rechtzeitig verkneifen, weil ihn diese Frage wohl wieder auf die Palme gebracht hätte.
    Deshalb versuchte ich meine nächste Frage nun umso sorgfältiger zu formulieren: „Also gut, wenn es schon keine kostenlose Exit-Option gibt, dann gibt es beim Probeleben doch bestimmt einen sicheren Ort, oder?!“
    Der Dealer hatte seinen Wutanfall noch nicht ganz verarbeitet und offenbar nur mit einem Ohr zugehört, um dann halblaut zu entgegnen: „Was ist hier ein Sicherheitsort?“
    Vor meiner letzten Frage hatte ich schon geahnt, dass er auch meine nächste Frage nicht gleich verstehen würde und suchte darum nach passenden Metaphern: „Ein sicherer Ort ist wie eine kurze Auszeit für zwischendurch, wenn man eine Pause von diesem Probeleben braucht. Oder es ist wie die Unterbrechung einer langen Weltraumreise, obwohl es nirgendwo im Kosmos einen wirklich sicheren Ort zu geben scheint, um ein kaputtes Raketentriebwerk auszuwechseln ohne dabei von der kosmischen Strahlung zersetzt zu werden. Ähnlich wie der Seitenstreifen für den Reifenwechsel an der Autobahn.“
    Der Dealer guckte mich an als ob sich der Heilige Geist höchstpersönlich in ihn verliebt hätte und ihm gesagt hatte, dass er ihm einen feuchten Zungenkuss geben wollte, um seine fröhliche Botschaft dem verliebten Papst, dem verliebten Gott und der ganzen katholischen Kirche zu verkünden, die sich ebenfalls in ihn verliebt hatte. Obwohl das physikalisch gar nicht möglich war, weil in der Kirche immer noch mit Briefen und Faxgeräten kommuniziert wurde und sich die Kirchengemeinde deshalb weder diesseits noch jenseits des Bildschirms befinden konnte.
    „Du willst Seitenstreifen für Raumschiff oder Raketenwechsel auf Autobahn? Bist Du bescheuert oder was? Wenn Du Probeleben machen willst, dann musst Du Probeleben einfach machen. Einfach so und fertig. Dann gibt’s da keine Raumschiffpause oder Reifenwechsel in Universum oder sowas. Das machst Du im echten Leben auch nicht, oder?! Bist Du etwa Astronaut? Oder hast Du Gott mal gefragt, ob er Dir mal kurze Pause von Leben oder ein paar Ersatzraketen geben kann?“
    Ich überlegte kurz und schüttelte anschließend den Kopf, weil ich eigentlich nicht an einen, sondern an viele gleichberechtigte Götter aus allen großen und kleinen Weltreligionen glaubte, obwohl jeder dieser Götter stets der Meinung war, dass er eigentlich der erste Gott sein müsste.
    „Sorry, ich habe es mir anders überlegt. Dieses Probe-Abo ist doch nicht das Richtige für mich. Irgendwie war alles mehr Schein als Sein. Es gibt ja ohnehin keinen sicheren Ort im Universum. Schon gar nicht außerhalb der Erde. Und darum verstehe ich auch nicht, warum so viele Menschen immer nach den Sternen greifen wollen. Wenn die alle wüssten wie hart, kalt, dunkel und leer der Weltraum ist und dass die Sterne viel zu groß, zu heiß und zu hell sind, dann würden sie lieber zu Hause bleiben.“
    Also blieb ich vor dem Laptop auf meinem Schreibtisch sitzen und versuchte das Probeleben zu vergessen. Denn wie sollte ich mich am Ende meines normalen Lebens ohne Vertragslaufzeit vor dem jüngsten Gericht verantworten, wenn ich meinem Gott an der Himmelspforte erzählen musste, dass er nicht der einzige Anbieter von Lebensverträgen war und es andere Götter neben ihm geben könnte?
    Stattdessen beschloss ich nach der Wahrheit hinter unserer alltäglichen Existenz zu suchen und die ganze Geschichte über den Sinn und den Zweck unseres seltsamen Lebens aufzuschreiben. Dieser Weg war vielleicht die einzige Möglichkeit, um meine chaotischen Gedanken und Gefühle zu konservieren und dadurch ein kleines Stück Ewigkeit zu erlangen. Denn wer schreibt, der bleibt! Und dafür musste ich bei den beiden Figuren am anderen Ende der Raumzeit anfangen, die für das Abenteuer namens Leben und all seine vielfältigen Existenzformen im Universum verantwortlich waren:

    „Und was soll das alles eigentlich?“, fragte der erste Gott seinen Stellvertreter, den zweiten Gott.
    „Du meinst geboren werden, das bisschen Leben und dann wieder sterben?“, meinte der zweite Gott, beobachtete irritiert die facettenreichen Formen des Lebens im Universum und hatte trotz aller göttlichen Fortbildungen keine zufriedenstellende Antwort parat. Zwar erstreckte sich das biologische Spektrum von einfachen Bakterien mit Zellmembran bis zu komplexen Säugetieren mit Gehirnmasse. Und trotzdem konnten Artenvielfalt und Populationsgrößen nicht darüber hinwegtäuschen, dass das wundersam, willkürlich und widersprüchlich wirkende Konzept des Lebens noch nicht perfekt war.

    Die Fortsetzung folgt der kontinuierlichen Wiederholung dieser unendlichen Geschichte bis in alle Ewigkeit. Amen.

  7. Professor Wackelbeins Ideenglobus

    An einem windigen Sonntagnachmittag saß Professor Fidelius Wackelbein an seinem Schreibtisch und starrte die Decke an. Es war eine komplexe Decke mit vielen Furchen, so wie seine Stirn; sie war aus grobem Holz geschnitzt, und doch konnte man bei längerer Betrachtung feine Muster darin erkennen. Und betrachtet hatte Professor Wackelbein sie inzwischen lange, das stand fest. So lange, dass er anfing, mit dem Gedanken zu spielen, damit aufzuhören. Als er jedoch den Kopf bewegen wollte, merkte er, dass sein Nacken ganz steif geworden war. Und so betrachtete er die Decke noch ein wenig länger.

    »Wie lange willst Du die blöde Decke eigentlich noch anstarren?« Das war Leopold. Er lag auf seinem gewohnten Platz unter dem Tisch, damit ihm die Decke nicht auf den Kopf fallen konnte, und rastete. Leopold war ein ausgesprochen redseliger Rauhaardackel; allerdings schien nur Professor Wackelbein ihn richtig zu verstehen. »Hat sie sich etwa bewegt?«, wollte er jetzt wissen.

    »Nein«, sagte Professor Wackelbein leicht pikiert, »ich kann bestätigen, dass sich die Decke in den vergangenen drei Stunden nicht bewegt hat.«

    »Dann ist ja gut«, brummte Leopold beruhigt und legte sich auf den Rücken. Zumindest nahm der Professor das an, genau konnte er es nicht wissen, sein Blick war schließlich noch immer auf die Decke gerichtet. Aber es hätte ihm ähnlich gesehen.

    Der Professor rieb sich den Nacken in einem Versuch, die Muskeln zu lösen. »Genau kann man es natürlich nicht wissen«, sagte er.

    »Was nicht wissen?«, fragte Leopold. Seine Stimme klang verzerrt, als wurde sie durch herzhaftes Gähnen ausgedehnt. Wahrscheinlich streckte er sich gerade, sodass seine Pfoten wie vier kleine Mützenzipfel emporreckten.

    »Ob sie demnächst herunterfällt«, sagte der Professor. Er wartete kurz, um zu hören, welche Auswirkung diese Worte hatten, aber es blieb still unterm Tisch. Also fuhr er fort: »Ich habe sie nur in den letzten drei Stunden beobachtet und kann folglich nur für diese Zeit bestätigen, dass sie sich nicht bewegt hat. Was sie aber vorher tat oder in den nächsten Minuten tun wird, sobald ich die Augen wieder abwende, kann ich nicht mit Sicherheit sagen.«

    Es blieb lange Zeit still. Dann sagte Leopold ein wenig besorgt: »Warum sollte sie herunterfallen? Ich meine, warum ausgerechnet jetzt?«

    Der Professor grinste triumphierend, nicht so sehr wegen der Besorgnis, sondern weil es irgendwo in seinem Nacken erlösend geknackt hatte. Bald würde er endlich wegsehen können von dieser blöden Decke. Zu Leopold sagte er: »Ach, das ist Wissenschaft, mein Freund. Man hat nie mit Sicherheiten zu tun, immer nur mit Wahrscheinlichkeiten. Es ist höchst wahrscheinlich, dass sich die Decke nicht rühren wird, aber es ist nicht hundert Prozent sicher, verstehst Du?«

    Leopold schwieg diesmal noch länger, und der Professor fragte sich, ob er ihn überfordert hatte. Da regte sich etwas, weiche Pfoten tappten über den Holzboden, und jetzt wusste der Professor mit Sicherheit, dass er sich streckte: Das tat er immer nach dem Aufstehen.

    »Ich gehe nach draußen«, verkündete Leopold, »dort kann mir die Decke …«

    »… wenigstens nicht auf den Kopf fallen«, seufzte der Professor, »ich weiß.«

    Leopold schüttelte sich, das hörte man an seinen Ohren, die dabei gegen seinen Kopf klatschten, als klopfe man sehr schnell einen Miniaturteppich aus. Dann ging er zur Tür, schnappte das Seil, das der Professor an der Klinke befestigt hatte, und zog daran, sodass sich die hölzerne Tür ächzend in Bewegung setzte. Als sie aufschwang, kam ein kalter Luftzug hinein.

    Der Professor wagte immer noch nicht, den Kopf zu drehen, daher verrenkte er die Augen, zwängte sie in ihren äußersten Winkel im Versuch, einen Blick auf die Tür zu erhaschen. »He, vergiss nicht, die Tür hinter Dir zuzumachen!«, rief er.

    »Ein wenig frische Luft wird Dir guttun«, rief Leopold zurück. »Bist Du übrigens sicher, dass Du nicht mitkommen willst?«

    »Ja«, sagte der Professor knurriger als beabsichtigt, »ganz sicher.«

    »Ganz sicher. Na, wie Du meinst«, sagte Leopold. Dann schob er mit der Nase die Tür zu, sodass ein schmaler Spalt offenblieb, und ging.

    Der Professor drehte seinen Kopf und blickte hinüber zur fast geschlossenen Tür, hinter der Leopold verschwunden war. Erst nach einer Weile fiel ihm auf, dass ihm der Nacken gar nicht mehr wehtat.
    ~
    Leopold kehrte erst spät am Abend wieder zurück. Er verpasste sogar das Abendessen, und das wunderte den Professor, denn er hatte Leopolds Lieblingsessen gekocht: Spaghetti mit Tomatensoße und Schinkenscheibchen. Er kochte jeden Tag Spaghetti mit Tomatensoße und Schinkenscheibchen, schon seit seiner Studentenzeit, das hatte immer prächtig funktioniert, und nach der Devise: An Formel, die Erfolg erbringt, man sich halte unbedingt, hatte er nie etwas anderes versucht. Es traf sich also hervorragend, dass ausgerechnet dies Leopolds Lieblingsspeise war; und umso wunderlicher war es, dass er heute darauf verzichtete.

    Der Professor setzte sich mit seinen Spaghetti und einem Glas Holundersaft an den Tisch. Er begann sehr langsam zu essen, so langsam wie möglich, um seinem Freund die Gelegenheit zu geben, doch noch einzutreten. Lange bevor er die Hälfte des Tellers erreicht hatte, war das Essen bereits kalt, aber er gab nicht auf: Nach jedem Bissen trank er einen Schluck Holundersaft, und am Ende aß er sogar jede Nudel einzeln. Doch aller Spaß muss enden, das gilt auch für große Teller Spaghetti, und als der Professor das letzte Nudelbändchen verschluckte und hoffnungsvoll zur Tür blickte, war Leopold immer noch nicht wiedergekehrt.

    »Ich bleibe ruhig«, sagte Professor Wackelbein laut. Zum Glück konnte er sich ablenken; er hatte noch zu tun, das war bei Professoren gottseidank immer der Fall. So stand er auf und griff nach seinem Staubwedel. Damit begann er sein chinesisches Porzellanpuzzle zu putzen. Nach seiner Schulzeit waren sein Bruder und er viel gereist; als er dann mit zwanzig zu studieren anfing, hatte sein Bruder sich für eine Karriere als Pilot entschieden und die Tradition allein fortgesetzt. Von jeder Reise hatte er ihm ein Andenken mitgebracht; und inzwischen besaß Professor Wackelbein eine beachtliche Sammlung: eine chinesische Porzellanvase, eine tibetanische Türglocke, einen Proviantbeutel aus Australien, eine Leselampe aus Island, eine finnische Elchlockpfeife, der Stachel eines nigerianischen Stachelschweines und vieles mehr. Sein wertvollster Besitz aber kam nicht aus dem Ausland. Es war ein selbstgemachtes Geschenk, das er von seinem Bruder zum zehnten Geburtstag bekommen hatte: der Ideenglobus.

    Der Ideenglobus stand auf Professor Wackelbeins Schreibtisch – nicht in der Mitte, das wäre schließlich höchst unpraktisch, wenn man schreiben wollte, sondern schräg links –; und er sah aus wie ein gewöhnlicher Globus, so einer, mit dem geduldige Lehrer gelangweilten Kindern die Welt beizubringen versuchen, nur dass ringsherum nicht die bunte Welt war, sondern blaues Krepppapier. Und wenn man an ihm drehte, brachte er einem auch nicht die Welt bei, das brauchte Professor Wackelbein nach all den exotischen Reisen und Geschenken nicht mehr, sondern etwas viel Besseres geschah: Er brachte einen auf eine Idee.

    Die Ideen waren nicht immer großartig, manchmal waren sie auch nur klein und praktisch, so wie zum Beispiel die Idee, aus der chinesischen Porzellanvase ein Porzellanpuzzle zu machen, nachdem Leopold sie versehentlich umgestoßen hatte. Man sollte den Globus auch nicht uneingeschränkt nutzen, es gab nämlich einen negativen Zusammenhang zwischen der Anzahl nacheinander folgenden Drehungen und der Qualität der Ideen. Das hatte Professor Wackelbein entdeckt, als er eines Abends auf der Suche nach Inspiration für seine Doktorarbeit zehnmal in Folge am Globus gedreht hatte: Es hatte angefangen mit der Idee, über den Einfluss von magnetischen Feldern auf Walen zu schreiben, und hatte damit geendet, dass er in einem Eisbad saß, die isländische Leselampe in der Hand, während er Walgesang hörte und Holundersaft trank. Am nächsten Tag hatte er eine furchtbare Lungenentzündung, einen Kater (der Professor vertrug Holundersaft nur bedingt, was höchst ärgerlich war, denn er liebte ihn wie andere Wein), und er fasste den Ideenglobus drei Tage nicht mehr an.

    Aber all das waren Kleinigkeiten – um ehrlich zu sein, verdankte Professor Wackelbein seine ganze Karriere dem Ideenglobus. Ja, er war dieser blauen Kreppkugel fast so zugetan wie Leopold, und so widmete er ihr auch an jenem Abend besonders viel Zuneigung, jedenfalls so viel, wie man mit einem Staubwedel widmen konnte.

    Er war soeben dabei, sie durch zärtliches Pusten von den letzten Staubresten zu befreien, als es an der tibetanischen Türglocke läutete. »Wer da?«, fragte der Professor, als könne jemand außer Leopold auf die Idee kommen, ihn zu besuchen.

    »Dackel«, kam die Antwort zurück; und der Professor eilte hin, um aufzumachen.

    Leopold stand vor der Tür, von Nase bis Schwanz durchnässt, draußen goss es in Strömen.

    Der Professor bat ihn herein. »Guck mal, ich habe Dir ein bisschen Spaghetti aufgehoben«, sagte er und zeigte auf den Topf.

    »Toll«, sagte Leopold. Dann schüttelte er sich, und zwar so heftig, dass der Professor am Ende nässer zu sein schien, als es Leopold selbst gewesen war.

    »Heilige Kürbiskugel noch mal, hättest Du das nicht draußen tun können?«, schimpfte der Professor, während er der Versuchung widerstand, sich ebenfalls zu schütteln.

    »Nein«, sagte Leopold und blickte ihn aus seinen dunklen Dackelaugen an, »da hätte es ja nichts genützt, im Regen.« Er ging zum Tisch und wartete darauf, dass ihn der Professor hochhob. Als er auf seinem Stuhl saß, sah er dem Professor zu, der ins Schreibzimmer ging, um dort das Hundekissen zu holen. »Du solltest mal hinausgehen, Du verpasst die Welt«, sagte Leopold ernst.

    »Aua!«, klang es dumpf, als sich der Professor den Kopf an der Schreibtischdecke stieß. »Nein«, sagte er schroff und kehrte zurück, »kommt überhaupt nicht infrage. Hintern hoch.« Er schob Leopold das Kissen unter den Po.

    »Danke.« Leopold blickte etwas sorglich hinunter, er hatte nämlich Höhenangst, und nun saß er ziemlich hoch, aber ohne Kissen konnte er mit dem Kopf nicht über den Tischrand blicken. Zum Glück wurde er abgelenkt von dem duftenden Teller Spaghetti.

    Der Professor setzte sich mit einem Glas Holundersaft an den Tisch und sah ihm beim Essen zu. »Wo warst Du denn so lange?«, fragte er nach zwei Schlucken.

    »Draußen«, antwortete Leopold. »Es ist wirklich schön dort; man hört die Vögel zwitschern, man riecht Eichhörnchen, Katzen und Leberwurst, und wenn man einen richtigen Dackelblick macht, kriegt man einen Happen und wird auch noch gestreichelt.« Er wollte den richtigen Dackelblick vormachen, doch dabei fiel ihm ein Schinkenscheibchen aus dem Mund, und er musste sich mit einer brüsken Schnappbewegung unterbrechen.

    »Viel ist nicht mehr da, tut mir leid«, sagte der Professor bedauernd, als er Leopold seinen Teller ablecken sah. »Warum bist Du denn nicht früher heimgekommen? Du wusstest doch, dass ich Dein Lieblingsessen machen würde.«

    Leopold zuckte die Achseln. »Ich wollte eben mal was anderes probieren«, sagte er.

    Der Professor rollte die Augen und leerte das Glas Holundersaft in einem Zug.

    »Du solltest nicht so schnell trinken«, sagte Leopold, und dann: »Könntest Du mich bitte wieder runterheben? Ich muss pinkeln.«

    Der Professor rollte erneut mit den Augen, aber er stand auf und bemühte sich, besonders gerade zu stehen, um Leopold zu beweisen, dass ihm die aktuelle Trinkgeschwindigkeit überhaupt keine Schwierigkeiten bereitete.

    »Roll bitte nicht so oft mit den Augen«, sagte Leopold besorgt, während er über dem Boden schwebte, »die können stehen bleiben, das hat meine …«

    »…das hat Deine Mutter immer gesagt, ich weiß«, seufzte der Professor und setzte Leopold auf den Boden.

    Als Leopold wieder hereinkam, war der Professor fast mit dem Geschirr fertig. Er musste mit der Hand spülen, denn die Spülmaschine war kaputt. Sie war schon drei Jahre kaputt, aber der Professor war noch nicht dazu gekommen, sich eine neue zu kaufen. Dabei gab es ganz in der Nähe einen Laden, am Ende der Straße, der Professor bräuchte nur die Tür zu öffnen und neununddreißig Dackelschritte zu tun, schon wäre er da. Aber er weigerte sich.

    An mangelndem Können lag es nicht, das wusste Leopold. Schließlich war der Professor bereits mit sechsundzwanzig Jahren mit seiner Doktorarbeit über den überraschenden Einfluss vom Nordlicht auf Pottwalgesang berühmt geworden; dagegen wäre der Kauf einer neuen Spülmaschine ein Klacks. Nein, es lag am Ideenglobus – an dem hatte er vor drei Jahren, knapp nach dem Tod seines Bruders, verzweifelt gedreht, und da war zwischen ein paar Flaschen Holundersaft die hartnäckige Idee entstanden, nie mehr hinauszugehen.

    Leopold warf einen bösen Blick zum Schreibzimmer, wo der Globus stand, und zog kurz die Lefzen hoch. Dann setzte er sich neben die kaputte Spülmaschine und starrte sie an – deutlicher traute er sich nicht zu werden.

    »Warum hast Du denn jetzt eigentlich keine Angst, dass Dir die Decke auf den Kopf fällt?«, fragte der Professor. Er sprach etwas lauter als sonst, als könne er so die Aufmerksamkeit von der Spülmaschine ablenken.

    Leopold blickte zu ihm auf und legte den Kopf schief. »Warum sollte sie mir jetzt auf Kopf fallen?«, fragte er. »Das hat sie doch noch nie nach dem Essen getan.«

    Professor Wackelbein lachte auf und verschluckte sich zugleich, weil er das Lachen nicht mehr so gewohnt war. Das muss der Holundersaft sein, diese plötzliche Heiterkeit, dachte er sich. Er tätschelte Leopold am Kopf und sagte: »Ja, so hatte ich es noch nicht gesehen.«

    Dann kniete er sich zu plötzlich Leopold hinunter und schaute ihm ernst in die Augen. »Sag mal, Leopold«, begann er, und Leopold bemühte sich, möglichst ernst zurückzuschauen, »kannst Du mir etwas versprechen?«

    »Was denn?«

    Der Professor räusperte sich. »Kannst Du mir versprechen, dass Du nie wieder so lange wegbleibst? Ich war ziemlich, also, ich weiß nicht, was ich ohne, ähm, na ja, könntest Du mir das einfach versprechen?«

    Daraufhin hob Leopold eine Vorderpfote, er hob sie so hoch wie möglich, was gar nicht so einfach war für einen Dackel, und sagte: »Ja, das verspreche ich Dir –«, er geriet ins Wackeln, »mit Sicherheit.« Da kippte er um, doch der Professor konnte die Pfote gerade noch rechtzeitig fassen und ihn aufrechthalten.
    ~
    Ab diesem Tag kam Leopold jeden Abend pünktlich wieder nach Hause. Professor Wackelbein dachte weiterhin nicht daran, die Wohnung zu verlassen, aber er beschäftigte sich mit der Wissenschaft, er las Artikel, schrieb selbst welche, die er dann per Post einsandte (Leopold trug ihm die fertigen Manuskripte zum Briefkasten an der Straßenecke; der Postbote warf sie hinein); und wenn er die Welt vermisste, griff er zum Staubwedel und widmete sich seiner Sammlung exotischer Schätze, bis alle so glänzten, als hätte er sie erst gestern von einer fernen Reise mitgebracht. Tagsüber schlief Leopold meistens unter seinem Schreibtisch, und wenn er Lust bekam, ging er hinaus, manchmal sogar stundenlang – aber er achtete stets darauf, vor dem Abendessen zurück zu sein.

    So ging das Leben einige Zeit dahin, die einzigen nennenswerten Ereignisse waren die Veröffentlichung eines Artikels über die Ähnlichkeiten zwischen Rapmusik und dem Schaukelrhythmus von Trampeltieren und das Zerlegen eines großen Rinderknochens. Doch dann kam der 13. März, der Tag, an dem Leopold Geburtstag hatte.

    Professor Wackelbein war übler Laune, wie jedes Jahr an diesem Tag. Er schämte sich, dass er kein Überraschungsgeschenk für Leopold hatte; eine Woche lang hatte er nicht am Ideenglobus gedreht, aus Angst, dass dieser ihm Geschenkideen geben würde – Ideen, die ihn hinauszwingen würden in die Welt. Dieses Jahr stand es sogar besonders schlimm um seine Laune, denn am Morgen war ihm der Staubwedel entzweigebrochen, sodass er fortan seinen ganzen Nippes mit seinem verschlissenen, wiederverwendbaren Brillenputztuch reinigen musste. Zu allem Überfluss war Leopold auch noch hinausgegangen, kurz nachdem der Staubwedel entzweiging und der Professor seinen Unmut darüber äußerte. So verbrachte er den ganzen Tag allein.

    Gegen Abend ging der Professor auf und ab in seiner Stube. Nicht nur Staubwedel und Spülmaschine waren kaputt, auch die Vorräte gingen langsam zu Ende: Nur noch zwei Dosen Tomatensoße und eine Packung Schinkenscheibchen waren vorhanden. Bald musste er Leopold wieder dazu überreden, mit dem Einkaufswagen loszufahren – und das bedeutete: eine dicke Leberwurst, zwei Stunden Bauch kraulen, Ohrenmassage und den ganzen Abend Mozart. Der Professor öffnete seufzend den nächsten Schrank und holte verdrossen die letzte Flasche Holundersaft heraus. Er trank gleich ein halbes Glas und drehte frustriert am Ideenglobus, woraufhin er prompt die Idee bekam, seine Flaschen in Zukunft einzusperren und Leopold den Schlüssel zu übergeben, aber das nützte ihm jetzt leider nichts. Außerdem war auf den blöden Hund ja kein Verlass, wie man merkte, es war bereits acht Uhr abends, draußen wurde es schon dunkel.

    »Diese blöde Wollgurke«, sagte der Professor ärgerlich, während er sich ein drittes Glas Holundersaft einschenkte. Er rührte mit dem Kochlöffel im Topf umher, als wolle er die Schinkenscheibchen zu Hackfleisch verarbeiten. Inzwischen war es fast neun, gleich war das Essen fertig, und Leopold war noch nicht da. An seinem Geburtstag. Da kam dem Professor ein schrecklicher Gedanke: Vielleicht feierte Leopold mit dieser Hundedame, von der er neuerdings geschwärmt hatte. Richtig toll war sie angeblich, schlank und groß, gebildet, bereist, besuchte regelmäßig ihre Familie in Dänemark. Wahrscheinlich saß Leopold gerade bei ihr und hatte seinen Freund völlig vergessen. »Diese treulose, haarige Salzstange«, brummte der Professor, und er schüttete noch eine Prise Salz in den Topf.

    Als die Nudeln ganz schlapp waren und die Schinkenscheibchen bereits verkohlten, schaltete er den Herd ab. Er versuchte zu essen, doch ihm fehlte zum ersten Mal in Jahren der Appetit. Um sich abzulenken, machte er sich mit dem Brillenputztuch an seiner Sammlung zu schaffen, aber seine Hände zitterten so sehr, dass er auch das aufgab.

    Professor Wackelbein ging in sein Schreibzimmer und blickte aus dem Augenwinkel zum Ideenglobus. »Was mach ich jetzt bloß?«, fragte er, ohne ihn direkt anzusehen, so wie Leopold dreinblickte, wenn er etwas angestellt hatte. Als ihm die Ähnlichkeit mit seinem Dackel bewusst wurde, blickte er rasch auf und fixierte den Globus drohend. Provozierend stand er dort, schräg links am Schreibtisch. »Glaub bloß nicht, dass ich Angst vor Dir habe«, sagte der Professor streng. Er näherte sich dem Globus langsam, vorsichtig, als habe er es mit einem nigerianischen Stachelschwein zu tun. Seine Hand schwebte eine Zeit lang über der Kugel, dann berührte er sie mit der Fingerspitze. Er holte tief Luft. »Für Dich, Leopold«, sagte er. Und drehte.

    Die blaue Kugel drehte sich läppische anderthalbmal um die eigene Achse, dann blieb sie stehen. Die Gedanken in seinem Kopf gefielen dem Professor gar nicht, und er fragte sich, ob er noch einmal drehen sollte, diesmal fester, aber dann erinnerte er sich an den negativen Zusammenhang zwischen Drehungen und Qualität und besann sich eines Besseren. Außerdem wusste er tief innen, was zu tun war; er wusste es schon die ganze Zeit. Und als sein Blick auf den australischen Proviantbeutel fiel, wusste er mit einem Mal auch, welche Sicherheitsmaßnahmen er treffen würde.
    ~
    Es war zehn Uhr dreiundzwanzig abends, als Professor Fidelius Wackelbein zum ersten Mal seit drei Jahren über die Türschwelle trat. Er stieg sofort in eine Pfütze, und sein Pantoffel sog sich mit Wasser voll (er hatte seit Jahren keine Schuhe mehr, wozu hätte er sie auch gebraucht); und fast hätte er einen Rückzieher gemacht, aber er wusste sich zu beherrschen.

    »Ich bleibe ruhig«, stieß er hervor und schwenkte die isländische Leselampe, sodass zumindest die unmittelbare Dunkelheit ihre Geheimnisse vor ihm verlor. Langsam trat er auch mit dem zweiten Fuß nach vorne, bis er endlich völlig, von Kopf bis Pantoffelspitze, draußen stand. Er atmete ein paarmal durch. Dann versuchte er die Tür mit einer Hand zu schließen, ohne sich dabei umzudrehen, was gar nicht so einfach war.

    Zum Glück hatte der Professor sich nicht umgedreht, denn plötzlich tauchte auf der anderen Straßenseite eine Gestalt auf.

    Beinah ließ er die Lampe fallen. Er griff hastig nach seiner Schulter. Dort hing der australische Proviantbeutel, und darin befand sich der Stachel eines nigerianischen Stachelschweines. Er hatte schon mit Gesindel, Räubern und Taschendieben gerechnet, nur nicht so schnell.

    »Wer da?«, krächzte der Professor, um dem mutmaßlichen Räuber gleich den Wind aus den Segeln zu nehmen.

    »Das sollte ich Sie fragen«, antwortete der Räuber. »Können Sie mal die Lampe wegmachen, Sie machen mich ja blind.«

    »Das würde Ihnen so passen«, sagte Professor Wackelbein, und er hielt seinem Gegenüber das grelle Licht ins Gesicht. Da sah er die Uniform und erkannte, dass es sich nicht um einen Räuber handelte, sondern um einen jungen Polizisten. »Oh, Verzeihung«, sagte der Professor und schwenkte die Lampe weg. »Ich dachte, sie seien ein Räuber.«

    »Ach, wo, wenn ich unterwegs bin, traut sich kein Räuber auf die Straße«, sagte der Polizist und tätschelte seinen Waffenstock. »Hübsche Lampe haben Sie da übrigens, da wäre Emma begeistert, wie hell die leuchtet. Wo haben Sie die denn her, aus dem Rossmann?«

    »Aus Island«, sagte der Professor.

    Der Polizist nickte. »Das leuchtet ein, die haben dort ja das halbe Jahr über dunkel.« Er musterte den Professor kurz. »Apropos dunkel, was machen Sie denn so spätabends noch draußen?«

    »Ich suche meinen Freund, ähm, meinen Hund«, sagte der Professor. »Mein Dackel ist seit heute Morgen verschwunden.«

    »Und Sie suchen ihn erst jetzt?«

    »Na ja, Leopold ist ein eigenständiger Hund. Der bleibt manchmal längere Zeit weg«, sagte der Professor, und er schämte sich, dass er nicht eher losgegangen war.

    »Leopold?«, rief der Polizist. »Der sprechende Dackel?« Er griff den Professor am Arm. »Moment mal – sind Sie etwa der berühmte Professor Wackelbein, der den Einfluss vom Nordlicht auf Blauwale entdeckt hat?«

    »Pottwale«, berichtigte Professor Wackelbein. »Und ja, der bin ich.«

    »Unfassbar«, sagte der Polizist, »das glaubt Emma mir nie, dass ich ausgerechnet Sie hier treffe. Emma ist übrigens meine Frau, sie hat mir vor Kurzem Ihren neuesten Artikel vorgelesen; ich muss sagen, ich war perplex.« Er lachte. »Wer hätte gedacht, dass Rapmusik und Dromedare so viele Ähnlichkeiten haben …«

    »Trampeltiere«, seufzte der Professor und rückte seine Brille zurecht.

    »Nein, so ein Zufall«, sagte der Polizist kopfschüttelnd. »Wohnen Sie hier etwa in der Nähe?«

    »Ja, das ist mein Haus«, sagte der Professor und deutete hinter sich. »Aber jetzt muss ich los, meinen Hund suchen.«

    »Das ist Ihr Haus?«, rief der Polizist. »Aber wie ist das denn möglich, ich komme hier schon ein Jahr lang fast täglich vorbei, und ich habe Sie noch nie gesehen!«

    »Ich gehe nicht oft raus«, sagte der Professor knapp. »Und nun muss ich wirklich los, guten Tag, ähm, gute Nacht noch.« Mit diesen Worten marschierte er los – der Polizist holte ihn mühelos ein. »Warten Sie, ich helfe Ihnen!«, verkündete er strahlend, als hätte er nach zwei Wochen Abstinenz am Ideenglobus gedreht und soeben eine wunderbare Idee bekommen.

    »Oh nein, das ist wirklich nicht nötig …«, begann der Professor, doch der Polizist bestand darauf. »Aber sicher doch, Sie brauchen einen Ermittler an Ihrer Seite! Wo könnte Ihr Leopold denn sein?«

    »Meinetwegen«, seufzte der Professor. »Leopold hat mir von einer Hündin erzählt, mit der er sich manchmal trifft. Eine Dänische Dogge, soweit ich verstanden habe.«

    Die Augen des Polizisten leuchteten auf. »Aha, die Schmidts haben eine Dogge!«, sagte er triumphierend und zog den Professor in eine Seitenstraße mit. Sie blieben vor einem großen Haus stehen. Doch als sie dort klingelten und nach Leopold fragten, bekamen sie zu hören, dass man, bedaure, den »lausigen Dackel, der immer um unsere Susi wirbt« heute nicht gesehen habe. Sie setzten die Suche fort; als Nächstes probierten sie den Fleischhauer, dann den Supermarkt, die Drogerie, den Bäcker, die andere Drogerie und zuletzt den Käseladen. Nichts. Der Professor kletterte sogar auf eine Leiter, die Bauarbeiter stehengelassen hatten, damit er einen besseren Überblick hatte; und er sah zwei Hunde, die sich stritten, zwei, die sich liebten, und zwei, bei denen das Verhältnis nicht ganz klar war – aber keinen Leopold. Danach versuchten sie ihr Glück im Park, der Professor holte die finnische Elchpfeife aus seinem Proviantbeutel und pfiff hinein, aber er lockte damit weder Elche noch Leopold an, bloß ein neugieriges Eichhörnchen.

    Professor Wackelbein wurde immer ratloser, er mochte sich gar nicht ausmalen, was mit Leopold passiert sein konnte. Warum war er bloß nicht früher rausgegangen, so schlimm war es doch gar nicht. Zugegeben, es war kalt und nass, aber es gab so viele Gerüche, genauso wie Leopold gesagt hatte. Er roch zwar keine Eichhörnchen und Katzen, aber Moos, Tannenbäume, Blumen; und es gab auch so viele Geräusche: ein Käuzchen, der rauschende Wind in den Blättern, eine Nachtigall … All das hatte er so lange entbehrt, und jetzt war es vielleicht zu spät.

    In dem Moment ging die isländische Leselampe kaputt. Professor Wackelbein verlor das Gleichgewicht und dabei auch seine Brille; als er nach vorne stolperte, hörte er sie unter seinem Fuß zerspringen. Da setzte er sich mitten im Park auf den Boden und begann zu weinen.

    »Na, na«, sagte der Polizist. »Kopf hoch, wir knipsen jetzt die Taschenlampe meines Handys an, und dann suchen wir weiter, im südlichen Teil waren wir ja noch nicht …«

    Er wurde von einem Piepsen unterbrochen. Es war sein Funkgerät. Der Polizist bedeutete dem Professor, zu warten, und ging ein Stückchen weg, während er mit der blechernen Stimme kommunizierte. Als er zurückkehrte, strahlte er übers ganze Gesicht. »Man hat einen Streuner gemeldet«, sagte er atemlos, »einen Dackel!«

    »Wo?«, fragte der Professor, während er aufsprang, wegrutschte und erneut aufstand.

    »Sie werden es nicht glauben«, grinste der Polizist, und er zerrte Professor Wackelbein mit sich.

    ~

    Man hörte ihn schon von weitem: Er saß vor Professor Wackelbeins Tür und zog immer wieder am Seil, das der Professor außen befestigt hatte, sodass die tibetanische Türglocke nur so bimmelte. Zwischendurch winselte er leise.

    »Leopold!«, rief der Professor. Er lief so schnell wie er konnte, was nicht sehr schnell war, denn er sah nicht viel ohne Brille, und seine Pantoffeln waren durchgelaufen, aber zum Glück führte ihn der Polizist am Arm.

    Der Dackel wirbelte herum und bellte freudig, und da wusste der Professor mit Sicherheit, dass er es war, diese Stimme erkannte er unter Tausenden. Sein Freund stürmte auf ihn zu, er hob ihn hoch und drückte ihn an sich.

    »Leopold, Du alte Wollsocke, wo hast Du bloß gesteckt?«, fragte er, während er den Hund am ganzen Leib knuddelte. Seine Finger fühlten etwas Feuchtes an Leopolds Ohr. »Du blutest ja!«

    »Halb so schlimm«, hechelte Leopold. »Mensch, bin ich froh, Dich zu riechen! Und Dich zu sehen!«

    »Ich lass Sie dann mal alleine«, sagte der Polizist, der hinter ihnen stand und etwas verlegen an seinem Waffenstock zupfte.

    »Nein, warten Sie!« Der Professor stand auf. »Ohne Sie stünde ich jetzt noch verloren im Park. Wollen Sie nicht noch kurz reinkommen und etwas trinken?«

    Der Polizist schüttelte bedauernd den Kopf. »Gerne, aber geht leider nicht. Sie wissen ja: Dienst ist Dienst, Schnaps ist Schnaps.«

    Der Professor lachte, und diesmal verschluckte er sich nicht einmal dabei. »Alkohol werden Sie bei mir nicht finden«, sagte er, »aber wie wäre es mit einem Glas Holundersaft?«

    »Na, wenn das so ist: gerne«, sagte der Polizist und rieb sich die Hände. »Mensch, Emma wird Augen machen, wenn sie erfährt, dass ich bei Professor Wackelbein zu Besuch war.«

    Wenig später saßen alle drei am Küchentisch: der Polizist mit einem Glas Holundersaft, der Professor mit einem Glas Wasser, und Leopold, der ausnahmsweise auf dem Schoß sitzen durfte, mit einer doppelten Portion Spaghetti vor der Nase, die er glücklich verspeiste. Nachdem der Professor einen Verband um Leopolds Ohr gewickelt hatte, sagt er: »So, und jetzt will ich aber mal hören, was passiert ist.«

    »Du zuerst«, sagte Leopold mit vollen Backen, »wie bist Du auf die Idee gekommen, rauszugehen?«

    »Das war ganz seltsam«, sagte der Professor. »Ich habe das Gefühl, dass es gar nicht der Ideenglobus war. Die Idee schien irgendwie aus mir selbst herauszukommen.« Er wurde ein wenig blass um die Nase, als er über die Implikationen nachdachte.

    »Dieser Holundersaft schmeckt hervorragend«, sagte der Polizist, »und was ist ein Ideenglobus, wenn ich fragen darf?«

    Der Professor wurde rot und begann herumzudrucksen, aber Leopold sah ihn eindringlich an und sagte: »Ich glaube, das spielt keine Rolle. Den brauchen wir nicht mehr, oder?«

    Zunächst wollte der Professor protestieren, doch dann dachte er an die vergangenen Jahre. Hatte er den Ideenglobus wirklich gebraucht? Waren tief in ihm nicht immer schon Ideen gewesen, auch die, wieder hinauszugehen; hatte er sie bloß verdrängt? Und dann dachte er an einen Tag, den er seit drei Jahren aus seinem Gedächtnis verbannt hatte: den Tag, an dem sein Bruder starb. Es war ein dummer Unfall gewesen: Er wollte eine letzte Reise machen, dann würde er die Pilotenkarriere an den Nagel hängen und etwas studieren, wahrscheinlich Geografie, aber zuerst noch eine Reise, nach Brasilien, um die Riesentukane zu sehen, und als er über den Amazonas flog, geriet er in einen tropischen Sturm und stürzte ab.

    Der Professor wischte sich über die Augen und senkte den Kopf. Als er wieder aufblickte, sah er, dass Leopold ihn sorgsam beobachtete. »Ich glaube, Du hast recht«, sagte er leise und streichelte den Dackel sanft, »den brauchen wir nicht mehr.«

    Leopold leckte ihm übers Gesicht, wobei ein roter Tomatensoßenstrich auf der Wange des Professors zurückblieb. »Ich bin jedenfalls froh, dass Du auf die Idee gekommen bist«, sagte er.

    »Ich auch«, sagte der Professor. Dann räusperte er sich. »Und jetzt bist Du dran: Was ist passiert?«

    Und Leopold erzählte. Er erzählte, wie leid der Professor ihm getan hatte, als sein Staubwedel kaputt ging, wie er losgelaufen war, um in der Drogerie einen neuen zu besorgen; wie er in letzter Sekunde die Leiter stehen sah und beim Ausweichen einer Dame zwischen die Füße kam; wie sie stolperte und ihren Handspiegel fallen ließ, sodass er in tausend Stücke zerbrach. Da war Leopold so erschrocken, dass er panisch wegrannte – geradewegs in eine schwarze Katze hinein. Und dann wurde alles verschwommen. Die Katze hatte ihm sein ruppiges Verhalten sehr übel genommen: Sie war mit scharfen Krallen auf ihn losgegangen und hatte ihm das Ohr zerkratzt, dann hatte sie ihn kreuz und quer durchs Dorf gejagt. Bei der siebten Runde waren sie Susi, Leopolds Freundin, über den Weg gelaufen, und die hatte ihn bellend verspottet, dreizehnmal nacheinander hatte sie gebellt, und dann war Leopold vor lauter Erschöpfung ohnmächtig geworden.

    »Was für eine Geschichte«, murmelte der Professor, und er streichelte Leopolds Kopf. »Und ich Pappkopf dachte, Du wärst bei Susi und hättest mich ganz vergessen.«

    »Ach, wo, Dich vergessen«, sagte Leopold. »Und mit Susi ist es aus«, fügte er knurrig hinzu. »Das Schlimmste weißt Du noch gar nicht: Sie hat mich angelogen. Als ich wieder zu mir kam, hab ich einen Streuner aus der Nachbarschaft getroffen, und der hat mich aufgeklärt: Ihre Familie kommt gar nicht aus Dänemark, sie ist hier in Deutschland geboren, eine ganz gewöhnliche Deutsche Dogge!«

    »Nicht zu fassen«, sagte der Professor.

    »Nicht zu fassen«, sagte der Polizist, dessen Funkgerät anfing zu piepsen. »Ich muss leider los. Vielen Dank für den Holundersaft.« Er stand auf und wandte sich an Leopold. »Falls Sie Anzeige erstatten wollen, erstelle ich gerne ein Protokoll. Könnten Sie die Katze noch einmal genau beschreiben?«

    »Schwarzes Fell, mittellange Krallen, roch nach toter Maus«, sagte Leopold. »Aber Sie brauchen nichts aufzuschreiben«, brummte er dann, »ist nur ein Kratzer. Ich bin mir übrigens zu neunundneunzig Prozent sicher, dass ich sie letzte Woche ziemlich böse verbellt habe, also jetzt stehen wir sozusagen quitt.«

    Da verabschiedete sich der Polizist herzlich von den beiden, und er versprach, bald wieder vorbeizukommen.

    Als er gegangen war, legte Leopold seinen Kopf schläfrig auf den Arm des Professors.

    »Was für ein Tag, nicht wahr?«, sagte der Professor, während er ihn am gesunden Ohr kraulte.

    Leopold nickte und schloss die Augen. »Ja. Aber es war der Mühe wert.«

    Der Professor lächelte, und obwohl Leopold das nicht wissen konnte, da er die Augen zu hatte, schien er es zu spüren, denn er wedelte leicht mit dem Schwanz. Da öffnete er die Augen doch noch einmal und seufzte: »Was mich am meisten stört, ist, dass ich nach all dieser Aufregung noch immer keinen neuen Staubwedel für Dich habe.«

    »Ach Leopold«, sagte der Professor, und plötzlich kamen ihm die Tränen, »ich hab noch nicht einmal ein Geburtstagsgeschenk für Dich.«

    Leopold drückte seine Nase gegen das Kinn des Professors, sodass ein kleiner roter Tomatensoßenabdruck blieb. »Mein lieber Fidelius, das schönste Geschenk hast Du mir doch schon gemacht, als Du mich heute suchen kamst«, sagte er. »Eine bessere Idee hättest Du nicht haben können.«

    Der Professor schniefte und wartete, bis er wieder sprechen konnte. Dann sagte er: »Weißt Du was? Morgen gehen wir beide spazieren. Zuerst gehen wir in den Park – Du wirst sehen, dort gibt es Eichhörnchen –, und dann gehen wir zum Polizeirevier und besuchen den netten Polizisten, und zum Schluss gehen wir in den Laden und kaufen uns einen neuen Staubwedel. Was meinst Du?«

    »Und eine neue Spülmaschine«, sagte Leopold.

    »Und eine neue Spülmaschine«, lächelte der Professor, »ganz bestimmt.«

    Leopold wedelte mit dem Schwanz. »Tolle Idee«, sagte er und hechelte den Professor an. Dann sagte er verschmitzt: »Und falls ich Dir doch noch eine Geschenkidee für meinen Geburtstag geben darf: Wie wärs mit einer extra großen Leberwurst?«

    »Abgemacht«, sagte der Professor, »und ich kraule Dir den Bauch und Du kriegst eine Ohrenmassage. Aber keinen Mozart.«

    Und dann lachten sie beide, und der Professor verschluckte sich, doch diesmal nicht, weil er das Lachen nicht mehr gewohnt war, sondern weil er plötzlich tausend Ideen in sich hochsprudeln fühlte, die alle nur auf ihren Weg nach draußen warteten.

    Ende

  8. Kindergarten Sonnenschein

    Unsere Kindergartenbetreuerin, Frau Meinhold, hatte für den Tag Spazieren und Spielen im Schlosspark geplant. Aber … das Wetter spielte nicht richtig mit, es regnet in Strömen, „Wir müssen im Hause bleiben.“ Sie schaltete schnell um und schlug uns eine Märchenstunde vor. Wir waren sofort begeistert und rückten fleißig Stühle, die wir im Kreis aufstellten und nahmen ordentlich unsere bekannten Plätze um den Erzähler herum ein. „Wer möchte uns denn heute ein Märchen vortragen.“ Fragt sie in die Runde. Ohne lange zu zögern, meldet ich mich „Hier ich, ich möchte eine erzählen, eine wahre Geschichte.“ Schön Erik, dann setz dich sogleich auf das Erzählerstühlchen und beginne.
    „Es war einmal, so könnte meine Erzählung beginnen. Aber es ist eine Geschichte und kein Märchen, weil sie wirklich wahr ist, nicht gesponnen, könnt ihr mir glauben, Indianerehrenwort“, beteuerte ich gleich, um meiner Geschichte das Wahrheitssiegel aufzudrücken und von den Hörern Aufmerksamkeit abzufordern.
    „Also das war so, wenn meine Schwester zur Schule geht, nimmt sie mich immer ein langes Stück Weg mit und bringt mich in den Kindergarten. Doch an diesem Tag im Mai war es anders. Unsere Katze, die Minka, die wir schon einige Tage vermisst hatten, war plötzlich, pünktlich wie sonst immer, leise miauend zum Frühstückstisch, an dem wir saßen, gekommen. Zögerlich, langsam, kam sie heran. Sie sah nicht gut aus, müde und matt schlich sie sich heran. Meine Schwester sagte gleich, die hat gewiss Hunger. Stand auf und holte ihr eine Schale mit Milch und etwas weiches Brot und fragt sie, Minka, was ist mit dir los, kleiner Liebling? Doch Minka gab keine Antwort. Sie machte sich sogleich an die warme Milch und das Brot. Das war ihr sehr wichtig. Nachdem sie als verschlungen hatte, kam sie zu mir und kuschelte sich an meine Beine. Das hatte sie bisher noch nie gemacht. Minka zog nun unsere ganze Aufmerksamkeit auf sich und wir vergaßen die Schule und den Kindergarten. Bis unsere Mutter rief: Kinder, es wird höchste Zeit, die Schule ruft, ihr müsst gehen, sonst kommt ihr zu spät. Und du bekommst eine schlechte Note. Aber unsere Ohren waren für solche Worte geschlossen, sie waren nur für die Klagetöne von Minka offen. Die war aufgestanden und lief auf den Hof in Richtung Heuschober. Wir sind ihr langsam hinterher. Die Katze schaute sich dabei immer wieder mal um. Sie wollte sicher wissen, ob wir nachkommen. Im Schober verschwand sie in eine Ecke, in der einige leere Gemüsekisten stehen. Wir schlichen leise hinterher und entdeckten in einer der Kisten winzige Wollknäuel. Jetzt war uns das sonderbare Verhalten von Minka klar. Sie wollte uns ihre Neugeborenen zeigen. Sie legte sich gleich zu ihnen und leckte sie ab. Das machen Katzenmütter immer so mit ihren Kindern. Minka machte jetzt für uns einen fröhlichen Eindruck. Ich glaube, sie war richtig stolz, uns ihre Kinder zeigen zu können. Sie war glücklich und um nichts in der Welt von ihrem Gelege wegzubringen. Als wir näher an das Nest herantraten, stellten wir fest, dass es vier unterschiedlich gefärbte Winzlinge waren. Wir haben uns darüber sehr gefreut und liefen eilig zu unserer Mutter, um ihr davon zu berichten. Doch unsere Mutter war darüber gar nicht so richtig erfreut. `Ach du meine Güte`, rief sie aus, und wer soll diese kleine Rasselbande versorgen?“ „Ich will mich darum kümmern“, rief ich gleich. „Mein lieber Erik, stell dir das nicht so leicht vor. Fünf Kätzchen zu versorgen, ist keine leichte Aufgabe.“
    Da meldete sich spontan die Gisela, die neben mir saß „Kann ich nicht solch ein Kätzchen haben?“
    „Ich auch.“ „Ich auch.“ Riefen auf einmal mehrere Kinder.
    „Die müssen doch erst einmal etwas größer werden und ohne Mutter auskommen können. Das dauert paar Wochen, dann können wir darüber reden, ob wir welche abgeben“, habe ich sie beruhigt. „Mindestens sechs Wochen müsst ihr schon warten.“
    Ich habe mich sehr um die Kleinen gekümmert und ihnen jeden Tag frisches Futter hingestellt. Die haben sich prachtvoll entwickelt. Inzwischen konnten wir auch ihre Farben besser erkennen. Es waren zwei richtig schwarze Kater, eine dunkelbraune und eine schwarz-braun-weiß gefleckte Mieze.
    Als die Zeit heran war, haben sich unsere Familie von den beiden Katern und der dunkelbraunen Mieze getrennt. Die bunte habe ich behalten und Hildegard getauft. Mit ihr habe ich mich oft abgegeben. Ihre Mutter, die Minka war damit einverstanden. Wir kannten uns ja und waren schon lange gute Freunde. Hildegard hat sich hervorragend entwickelt, sie musste sich auch gegenüber den anderen Tieren auf unserem Hof behaupten können. Auch mit unserem kleinen Hund, dem Reiner, kam sie schließlich nach einigen Rangeleien klar. Nur vor dem großen Dobermann hat sie Respekt und duckt sich, wenn er ihr in die Nähe kommt. Mit den Hühnern macht sie kurzen Prozess, wenn sie sich in die Quere kommen. Ein kurzes Fauchen und das Hühnervolk sucht das Weite. Wenn der Hahn ihr begegnet, duckt sie sich, wie zum Sprung und schleicht ihm ohne Angst entgegen, bis er den Weg oder das Futter freigibt, das sie sich beide ausgesucht haben. Das sieht aus wie ein lustiges Spiel, das ist es wohl auch, denn noch nie hat es eine ernstliche Auseinandersetzung gegeben zwischen den beiden.
    Auch mein Vater hat sich über die Entwicklung der Katzen sehr gefreut. Von dem lustigen Verhalten von Hildegard war er begeistert und hat dazu ein Gedicht geschrieben und das geht so:

    Hildegard

    Die Miezekatze Hildegard
    hat alles was sie gerne hat
    weit hinten tief im Sand verscharrt
    hier findet’s keiner.

    Das glaubt nur sie,
    doch nicht das Hündchen Reiner.

    Der hat den Sandberg längst geseh`n.
    Und riecht den Duft der Katze
    Hier ist doch `was gescheh`n.
    Er macht gleich kratze, kratze.

    Und Wupdiwup im Handumdreh’n
    hat er die fette Beute
    Nun muss er schnellstens stiften geh’n
    Die Beute reicht für heute.

    Doch Hildegard die Schlaue
    Sieht, was ihr getan
    Sie holt mit ihrer Klaue
    Zurück sich, was sie kann.

    Zuerst die Maus und dann der Braten
    Der war dem Koch so gut geraten
    Der ist nun fort um drei, vier Ecken
    Hilde weiß ihn zu verstecken.

    Sie ist in Eile und sieht nicht
    des Kochs gehob’ne Kelle

    Es macht Kling-klong, das ging daneben
    die Hilde konnte noch entflieh’n
    es war ihr wie ein Erdenbeben
    sie warf die Beute ängstlich hin.

    Das fiel dem Hofhund Schnuffel auf
    Als Dobermann der schnellste
    Schnappt sich den Braten gleich im Lauf
    Er glaubt, er sei der Hellste.

    Jetzt fing das große Jagen an
    Der Koch, der Hund, die Katze
    Am nahsten war der Dackel dran
    Jetzt hat er eine Glatze.

    Die Rauferei nimmt Maße an
    Es ist kaum noch zu fassen
    Die Maus, die ist nun ohne Schwanz.
    Den Braten frisst die Katze.

    „So, das war meine wahre Geschichte, die euch gern einmal erzählen wollte. Ich hoffe, sie hat euch gefallen. Und inzwischen hat es auch aufgehört zu regnen und wir können unseren Spaziergang am Nachmittag nachholen.“

    Bertas Vögel

    Arno und Berta haben seit Kurzem, zum x-ten Male eine neue Wohnung bezogen. Sie sind dabei sich einzurichten, das heißt, den Raum zwischen den vier neuen Wänden, für sich gemütlich zu gestalten. Nach etlichen Versuchen haben sie die richtige Stellung für die Möbel gefunden. Doch Bertas Fantasie gebiert immer wieder neue Varianten und Verbesserungsvorschläge. Kaum, dass sie mal Zeit hätten sich etwas auszuruhen, meint Berta: „Arno, wie wäre es, wenn wir das Tischchen, die Stehlampe, den Ledersessel und die Vitrine genau umgekehrt hinstellen würden. Also mir gefiele das besser. Was meinst du, Arno?“ Ihr wird zwei Tage später sicher ein anderes Szenario noch besser gefallen.
    Arno reagiert gelassen. Ihm sind solche Gefühlssprünge seiner Berta für Neues und Außergewöhnliches noch von den vorherigen Umzügen bekannt. Er schiebt das Tischchen in die Fensterecke, die Stehlampe daneben, die Vitrine gegenüber, den Ledersessel vor die Stehlampe. Berta betrachtete das neu geordnete Ensemble und hat schon wieder ihre Zweifel, ob es die richtige Konstellation sei. „Na, gut, lassen wir es erst einmal so stehen und ließ damit eine nächste baldige Veränderung offen.“
    Arno geht zum Kühlschrank, holt sich ein gut gekühltes und versucht in seinem Plüschsessel, vor dem Fernseher, Entspannung zu finden. Nach wenigen kräftigen Zügen aus der Pulle schläft er mit den Gedanken ein. >Die hat doch een Vogel<. Die halb leere Flasche hält er in der Hand, schräg neben dem Sessel. Bertas wachsamer Blick alarmierte Hirn und Hände und verhütete somit Schlimmes.
    Während der emsigen kräftezehrenden Bewegungen mit dem Inventar hat sich Pfiffi, Bertas zweiter Lieblingsvogel, mit ausdrucksstarken Freuden- oder Beschwerde Gepiepe in der neuen Wohnung umgeschaut und nach Verstecken außerhalb seines Käfigs gesucht. Zurzeit hängt er kopfunter in der Gardine und lärmt mächtig, weil er sich mit seinen spitzigen Krallen in einer Masche verfangen hat. Nicht nur er schreit um Erlösung, auch Berta hat Angst um ihren blauen Liebling. Er könnte sich erhängen und sterben. Sie ruft nach Arnos Hilfe. Der schreckt aus seinem Nickerchen auf, stößt an den Couchtisch, die Blumenvase kippt und wässert den Täppisch. Es bahnt sich ein Chaos an. Der Papagei gerät in Panik, flattert erregt hin und her, kommt nicht aus der Masche und zerreißt dabei die edle Gardine. Berta, einer Ohnmacht nahe, fällt ihrem Arno in die Arme und mit ihm in den Ledersessel. Nur gut, dass die Möbel noch ungeordnet im Zimmer herumstehen. Vom ungewohnten häuslichen Lärm aufgescheucht, kommt das liebe Kätzchen Hildegard angeschlichen, betrachtet das Chaos und zieht sich geräuschlos wieder zurück. Sie sucht ihren neuen Schlupfwinkel am Fenster unter der Heizung, als wolle sie sagen – nein, damit will ich nichts zu tun haben. Arno hat dorthin das ihr wohlbekannte, kuschlige und bereits mächtig in die Jahre gekommene Körbchen hingestellt. Kein Wunder also, dass sie sich dort am wohlsten fühlt. Ob auch sie dabei mit ihrem Kopf schüttelte, ist nicht eindeutig auszumachen.
    Parallel zu diesen lärmgeschwängerten Ereignissen stehen der Nachbar, Meier zwei, mit dem Briefträger Hugo vor Clausens Tür. Sie diskutieren über die Bedeutung von drei Buchstaben am großen blank geputzten Türschild aus echtem Messing. Da ist zu sehen A., B.-Clausen „Die sind erst vor einige Tagen hier eingezogen. Das Namensschild haben sie sofort angebracht. Ich habe mich auch gewundert, was dies heißen soll. Ich kann es ihnen sagen. Das soll heißen: Arno und Berta Clausen.“ Herr Clausen meint, ABC reicht aus und deshalb steht „-lausen“ ganz kleingeschrieben neben dem Großen C.
    „Ich glaubte schon, es wäre eine der geheimnisvollen Briefkastenfirma der hiesigen Mafia“, entgegnet Hugo.
    Meier zwei sagt ihm, „Ich habe mich mit Arno bekannt gemacht und ihn zu einem Bierchen eingeladen. Dabei hat er mir erzählt, dass „Sie“ die Veränderung liebt und immer mal etwas anderes ausprobiert. Sie hat sich schon um eine andere Gegend bemüht.“
    „Komisches Volk. Aber nun will ich doch mal klingeln, um den Einschreiber bei ABC loszuwerden.“
    Auch nach wiederholtem Klingeln kommt niemand zur Tür. „Aber Nach den Geräuschen zu urteilen, ist jemand in der Wohnung. Ich höre lautes Vogelgekreische und Wehklagen“, sagt Hugo, als er sein Ohr an die Tür presst.
    Meier zwei kommt auf die Idee, bei Clausens anzurufen. Tatsächlich wird das erhört. Arno steht in der Tür und staunt den Briefträger an. „Ich habe für ABC ein Einschreiben, wollen sie das in Empfang nehmen und können sie sich ausweisen? Die Anschrift ist etwas ungewöhnlich. „Eigentlich wollte ich den Brief wieder mitnehmen deswegen“, sagt Hugo zu ihm.
    „Natürlich, ich nehme ihn an. Wir warten schon seit einigen Tagen darauf. Das wird die Bestätigung für unsere nächste Wohnungsbewerbung sein. Vielleicht sogar der Bescheid zum Umziehen, das wäre gut, es würde mir das weitere Hin- und Herschieben der Möbel ersparen. Meine Frau hat das aber so gern, mal wieder etwas Neues. Umziehen ist ihr zweiter Vogel.“
    Somit wären also die Charaktere und ihre Wahnsinnssucht sowie die Leiden der beiden neuen Mieter für die Öffentlichkeit dargestellt. Briefträger wissen von nichts und das „Nicht“ sagen sie auch nicht weiter.
    Hildegard hat die große Chance der offenen Wohnungstür geschickt ausgenutzt und hinausgeschlüpft. Nach kurzer Zeit kommt sie wieder, von den drei Männern unbemerkt, mit einer bluttriefenden Maus im Katzenschnäuzchen. Diese legt sie behutsam auf dem nassen Teppichboden ab, umschleicht ihre Beute noch einmal begutachtend und zerreißt sie endlich zähnefletschend in kleine blutige Stücke; was dem Teppich eine besonders exotische Note verpasst. Bertas Ohnmachtsanfall wiederholt sich, als sie vom Ersten erwachte und das Massaker erblickte. Dabei löst sich aus ihrer Kehle ein ohrenbetäubender Schrei. Hildegard zieht ihren Schwanz ein und sucht, ob des Höllen Lärms das Weite, was im Schlafzimmer von Meier zwei unter dem Bett liegt.
    Arno, von Bertas Schrei aufgerüttelt, will ihr zu Hilfe eilen, stolpert über Hildegard und kommt kurzzeitig auf ihr zu liegen. „Verdammtes Mistvieh“, schreit er seinen Liebling an, rappelt sich wieder auf und eilt zu Berta, die ihre zweite Ohnmacht sanft, in Arnos Plüschsessel liegend, genießt.
    Als Arno das Malheur im Wohnzimmer zu Gesicht bekommt, meint er lakonisch „endlich bekommt der fade, helle, nach nichts aussehende Teppich eine bunte Auffrischung.“ Das ist leuchtend helles Feuer für Bertas Kunstsinn. Sie hat sich dieses Dessin ausgesucht. Er hatte dabei nur lächelnd mit dem Kopf genickt, ob des naiven Geschmackes seiner Berta.
    Das mehrmalige Geschrei von Berta hat ihr zweiter Lieblingsvogel Pfiffi als neues Vogel, stimmliches Korrespondieren mit ihm gewertet. Er versucht nun dieses lautstark naturgetreu nachzuahmen, was ihm auch recht gut gelingt. Seine kräftige, Wände durchdringende Stimme übertönt jedes Familiengespräch. „Wir müssen ihn wegsperren“ ist die einhellige Meinung von Arno und Berta. „Er schreit uns das ganze Haus zusammen. Wir bekommen großen Ärger.“
    Worauf Arno lakonisch antwortet: „Macht gar nichts, wir ziehen doch bald wieder um.“

    Albträume

    Ein trüber Tag. Es wird schon früh dunkel, mir zieht es die Augen zu.
    Schwarz ist es um mich. Totale Dunkelheit und Stille. Ich habe die Orientierung verloren. Wo bin ich hier? Ich fasse nach vorn. Nichts. Dies ist ein Griff in die Leere. Ein Griff nach links, nach rechts und nach hinten. Nichts. Steh’ ich im leeren Raum? Was heißt –ich „steh-“ ich spüre – auch nach unten keinen Widerstand – „leer-“ ich schwebe. Nach oben ist’s das Gleiche. Wo bin ich hier, stell’ ich mir nochmals die Frage. Keine Antwort – Stille. Ich gehe zwei Schritte und fühle mich eingeengt. Bin ich in einem Hohlraum, in einer großen Röhre? Ich kann nichts fühlen, alles ist taub. Schwebt über mir eine Decke, die mir die Luft beschränkt? Das Atmen fällt mir schwer. Dunkelheit umklammert mich. Ich möchte etwas sehen. Mir schwinden die Sinne. Ich zünde eine Zigarette an. Wieso? Ich bin doch Nichtraucher. Das Streichholz entzündet die Lunte und erlischt anschließend. Das schwache Glut-Licht der Zigarette reicht nicht aus, um meine Umgebung zu erhellen. Ich habe immer noch keine Ahnung, wo ich bin. Es ist notwendig, noch ein paar Schritte zu gehen. Das funktioniert nicht, bin ich gelähmt? Meine Beine sind gefesselt, steif. Werde ich abstürzen? Wohin werde ich fallen? Ins Wasser oder in ein tiefes Loch? „Hallo!“ Rufe ich, „Hilfe“, doch keiner hört. Meine Stimme verhallt ins Leere. Ein erneutes Tasten nach allen Seiten ist erfolglos. – Nein, hier ist etwas Weiches –Teddy Peterle – du hier? – Geh weg, es gibt noch kein Frühstück – es ist nicht fassbar. Wann wird die Dunkelheit enden? Jetzt übermannt mich Angst – ich fühle, wie ich in mich zusammenschrumpfe. Mich friert, – mir wird warm, – heiß, – ich schwitze. Noch einmal versuche ich dem Übel zu entgehen. Ich möchte mich wehren, schlage nach allen Seiten und puffe überall in die Leere. Etwas bremst meine Bewegungen, meine Beine und Arme sind wie gefesselt, Angstschweiß rinnt mit über den Rücken.
    Endlich höre ich von ganz weit hinten eine Stimme, wie aus einem Hohlraum, kaum zu verstehen. Ich antworte stimmlos, „hier bin ich, rette mich!“
    Da, wieder die fremde Stimme, jetzt etwas lauter, es klingt träge und lang gezogen, wie „Auferstehen – das Frühstück steht auf dem Tisch.“
    Durch meinen Kopf läuft ein Film im Schnelldurchlauf „– jetzt nicht – das wird nicht gehen. Ich bin gebadet, liege in einer feuchten Kuhle am Wiesenhang.“ — Das ist kein Schweiß, schießt es durch meinen Kopf. Wenn ich jetzt aufstehe, macht es Tropf, Tropf, Tropf –. Ich wache entsetzt auf. Das Deckbett ist verrutscht. Mein linkes Bein ist kalt, es baumelt aus dem Bett. Meine Schlafanzughose ist nass. Ich laufe, ich stolpere im Wald über Wurzeln und Steine – am Ufer liegt erschöpft Egon im Sand, er ruft um Hilfe, seine Stimme klingt matt. Eine Welle hat ihn an den Strand gespült.
    Ich sitze am Fuße einer Straßenlaterne, eine Ratsche in der Hand, sie bleibt stumm. Regentropfen glitzern im Schein der Laterne – wo ist Heinz, war ihm der Ast im Wege? Meine Füße werden vom Regenwasser, das im Schnittgerinne die Schleusenöffnung sucht, überspült. Der Fluss schwillt an, die Wellen schaukeln das Boot hin und her, ich benötige ein Paddel. Der Ast von Heinz bremst meine Flussfahrt. Ich steige aus.
    Taumelnd schleppe ich mich unter die kalte Dusche. Die Nacht ist bislang nicht überstanden. Halb wach, halb träumend ziehe ich das Deckbett wieder über mich und begegne Heinz. Er hat eine Leiter über der Schulter, eine Säge in der Hand und ruft: Der Ast muss weg, der Ast muss weg. – Es kracht, unter dem Baum liegt die Säge, der Ast, die Leiter und obenauf Heinz. Es regnet, ringsum alles glitschig, meine Beine sind steif – ich komme nicht zu Heinz. Ich werde an der Schulter herumgerissen, weg von Heinz, der liegt auf einer Trage im roten Auto. Ich will hinterherrennen – meine Beine sind gelähmt – ich schwitze und wehre mich – reiße die Bettdecke weg – ich friere – wache auf, vom Sonnenstrahl geküsst.
    Doch ich bin erschöpft und könnte weiterschlafen. Aber …

    Moses Weg durch die Wüste.

    Mistwetter, Sauwetter, Ekelwetter. Diese Worte hörte man des Öfteren in den vergangenen Tagen bei Begegnungen der Leute. Sie versuchen, ihren unumgänglichen Begleiter, ihren Regenschirm, gerade zu halten, während der scharfe Wind sich bemühte, das Gegenteil zu bewirken. Nässe, Kälte, seit Tagen die ständigen Begleiter. Es nervt! Oma Ida kämpft sich durch das Unwetter in Richtung Konsum, weil ihr ein Stück Brot und Eier und ein kleiner Napf Senf fehlen. Der Schirm ist ihr schon zweimal umgeknickt, während sie sich krampfhaft am Rollator mit der anderen Hand hält. Grund zu schimpfen. Dieses unangenehme Wetter muss doch ein Ende haben, sonst kann man nicht mehr nach draußen gehen, um einzukaufen. Ich will doch nicht verhungern. Helfen, dazu hat auch niemand echte Lust. Da muss etwas Teuflisches los sein, da „Oben“, sagt sie zu sich.
    Mittlerweile sind noch dickere Wolken aufgezogen, die nichts Gutes prophezeien. Blitz und Donner geben dieser Voraussage ihre Unterstützung. Sie kommt von ihrer Einkaufstour zurück, bugsiert ihren Rollator über die Türschwelle in den Hausflur, hat die Haustür hinter sich geschlossen und setzt ihre volle Tasche ab, als nach einem Blitz und lautem Knall auch schon Wasser aus den Wolken fällt, wie aus einer Wanne. Alles auf einmal. Und schon wird das Rinnsal von Bächlein hinter ihrem Häuschen zum reißenden Strom, der allerlei Unrat mit sich schleppt. „Was die da oben treiben, das ist mir ein Rätsel.“ Sie entledigt sich der nassen Kleidung, ich will mich doch nicht noch erkälten, sagt sie, wie zu ihrem Karl, der es leider nicht mehr hören kann. Ja, wenn mein Karl noch da wäre, der hätte diesen Gang, mir zuliebe, selbst gemacht. Ihm hat solches Wetter immer noch Spaß bereitet. Dabei lächelt sie, in Erinnerung an ihn. Ich muss noch ein paar Scheite Buchenholz in den Ofen schieben, damit meine Kleidung wieder trocken wird. Zu meinem Glück sind noch einige unter dem Ofen zum Trocknen vorhanden. Ein Weg über den nassen Hof durch den Regen wäre sehr unangenehm.
    Was wird sich da noch entwickeln? Von physikalischen Zusammenhängen keinerlei Ahnung, glaubt sie fest, dass alles Geschehen von dem da „Oben“ geplant und befohlen wird. Sie weiß nicht im Geringsten, was dort oben im Himmel im Augenblick geschieht. Auch dort wird gezankt und gestritten, wie und was da „Unten“ geschehen soll.
    Bei der letzten Generalversammlung im göttlichen Olymp stellte man fest, dass die Normen des menschlichen Zusammenlebens auf der Erde nicht mehr eingehalten werden. „Doch der Oberste der Oberen sagte, es müsse wieder Ordnung einkehren. „Ich werde einen meiner jüngsten Jünger mit der Aufgabe betrauen, die ständigen Rangeleien zu inspizieren und geeignete Gegenmaßnahmen vorzuschlagen. Moses wird dies ausführen. Petrus, du stattest ihn mit allen Fähigkeiten aus, die er benötigt. Packe seine Koffer und geleite ihn zur Himmelspforte. Sollte er nicht den Mut aufbringen, selbst zu springen, gib ihm einen göttlichen Impuls und schubse ihn abwärts. Du solltest seine Reise von hier verfolgen und ihm Hilfe zukommen lassen, wenn er derer bedarf.“
    Moses wird über Nacht mit der Botschaft beauftragt, die irdische Wüstenei zu durchqueren und sich zu erkundigen, wie es den Menschen geht, die ständig dort wohnen. Achte auf die feinsten und kleinsten, angenehmen und unangenehmen Dinge, die es gibt, und sprich den Einwohnern Mut zu. Sie mögen ausharren, bis wieder einmal andere Witterungsbedingungen vorherrschen. Achte auf deine eigene Gesundheit, denn du wirst eine Menge Unannehmlichkeiten und Verführungen für deinen Körper vorfinden. Rüste dich. Solltest du doch einst wieder zurückkommen können, dann berichte mir recht ausführlich vom Gehorsam und den ehrlosen Umtrieben der Lebewesen. Ich werde es dir danken mit einem Schluck meines edlen Messweines vom Jahrgang -3035 vor meiner Zeit. So gehe dahin, mein Sohnemann.“
    Dieser Auftrag traf den jungen Moses gänzlich überraschend, als er gerade sein Frühstück zu sich nahm. Er, der es gewohnt war, vollkommen unbelastet, unbescholten und gelangweilt über die Wolkenstraßen zu schlendern, bekam einen solch bedeutungsvollen Auftrag. Ist das Bevorzugung, Strafe oder Wohlwollen? Er war nicht in der Lage, diese Situation richtig einzuordnen.
    Als er diese Botschaft hörte, verschluckte er sich, hustete und musste diese und den Rest Hirtenbrot, den er im Halse stecken hatte, erst einmal mit einem Schluck Gänsewein hinunterspülen und verdauen. Die Schwere dieser Last, welche er auf sich nehmen sollte, war ihm bewusst. Er zögerte noch mit der Zusage. Eine Absage gegenüber dem Obersten würde sicher nicht gut für seine Karriere sein. Nach einigen Überlegungen witterte er jedoch die Chance, auf der Himmelsleiter nach oben steigen zu können, wenn er diese Aufgabe erfolgreich bewältigte. Von da an war er vom Versprechen des Herrn entzückt, frohlockte des versprochenen Schluckes Messwein aus der Urzeit und begann sofort mit den nötigen Vorbereitungen für den schweren Gang. Die Benutzung seines fahrbaren Untergestelles war ihm nicht möglich, denn der Wüstensand setzt sich in die Getriebe fest und ein Weiterkommen ist dann unmöglich. So viel war ihm aus dem Physikunterricht der himmlischen Grundschule noch bekannt. Es wäre auch nicht möglich gewesen, das Vehikel durch die Wüste zu schieben. Und so ölte er seine Gelenke dick mit Sonnenschutzcreme ein und war bereit.
    Der Flug verlief ohne Zwischenfälle. Er genoss es, sanft durch die Lüfte zu fliegen, die Ozonschicht zu durchqueren und den Knall des Schallmauerdurchbruchs zu vermeiden. Leider schlug er unsanft und knapp neben einem Riesenkaktus auf. Moses hörte seinen Steiß „Au“ jubeln. Dabei entglitt seinem Mund ein unfeines Wort. Doch Moses, jung, wie er war und forsch, stand behände auf, zog einen langen Stachel aus der hintersten Stelle seines Körpers und trat in die Wüste ein. Er ahnte nicht, dass er bald alt aussehen würde, denn der Wüstensand war mächtig heiß. So ging er einige Schritte zurück und zog sich seine schützenden Sandalen an. Moses gab seinem Körper eine straffe Haltung und ging los. Aus Vorsicht hatte er sich einen Lederbeutel mit frischem Trinkwasser umgehängt, um nicht zu verdursten, denn auch die Luft war sehr trocken und die wenigen Gräser dürr. Er hatte sich gerüstet, da er wusste, dass in den großen Weiten der Wüstenei kaum ein Mensch anzutreffen sei, der ihm eventuell in der Not Erste Hilfe leisten könnte. Nach sieben Stunden Lauf begann er zu ermatten. Er suchte sich eine der vielen Sandwechten, die der Wind mit Wüstensand gebildet hatte, und legte sich dort nieder, um ein wenig zu schlafen. Erschöpft und ausgetrocknet, bemerkte er nicht, wie sich ganz langsam schleichend, ein von Petrus gesteuertes Hilfs-Ungeheuer näherte.
    Er träumte von einem Lappen, der ihm über das Gesicht streifte, den er als erfrischend empfand. Er wachte auf und sah zwei weiche, schlabbernde Fleischgebilde direkt vor seiner Nase, die sein Gesicht feucht benetzten. Als er dessen gewahr wird, fegte schon ein heißer Luftstrom die willkommene Feuchtigkeit hinweg. Empört wollte er protestieren, doch da sah er vor sich zwei große, eklig anzusehende gelbbraune Zahnreihen, die ihm das Gesicht hätten zermalmen können. Die Erinnerung an die alten Raucher, die er in der Hafenkneipe bei seiner Anreise unweit von Daressalam am vergangenen Freitag kennengelernt hatte, tauchte sofort wieder auf. Moses unterdrückte den Drang, sich zu übergeben. Der Luftstrom roch unangenehm wie eine lang nicht geleerte Kloake, der es ihm unmöglich machte, ausreichend zu atmen. Er hätte in Ohnmacht fallen können, doch er lag noch im Wüstensand. Moses wandte sich mit einem schnellen Ruck zur linken Seite, um diesem Ekel zu entgehen. Voll bei Sinnen kam er erst nach einer langen Rollkur wieder zur Ruhe. Er war von der Sanddüne abgerollt, die während seines Schlafens durch den Wüstensturm gewandert war. Das Kamel, das ihn geweckt und abgeschleckt hatte, stand noch getreu auf dem Gipfel der Düne. Es wartete oben auf Moses, weil es sich sagte, dem armen Himmelsgeschöpf muss geholfen werden. Als Moses sich mühsam die Düne wieder hinauf gequält hatte, kniete es sich nieder und Moses konnte bequem aufsteigen. So wurde ihm sein Weiterkommen erleichtert und damit Kräfte für die geforderte Erforschung des Erdenlebens gespart. Auch in diesem Falle war deutlich die geleitende Hand von Petrus zu spüren.
    Auf dem tagelangen Ritt durch die Wüstenei, von Oase zu Oase, von McDonald zu McDonald, hatte er die Möglichkeit, sich und sein Kamel ausreichend zu laben und die da lebenden Menschen nach ihrem Befinden zu befragen. „Um des Himmels willen“, rief er laut, als er das Neueste vom Neuen erfuhr, wovon der Himmel keinerlei Ahnung hatte. Er war ganz erstaunt, als er hörte, dass es sogenannte Raketen gibt, die rasant durch den Himmel fliegen und dabei mit langen Ohren die göttlichen Geheimnisse erlauschen können. Moses glaubte bisher noch, dass es eine GVS, eine göttliche Vertrauenssache gibt. Alles Lüge, konstatierte er. Andere, etwas gelblich aussehende menschliche Lebewesen, machen so etwas mit einem Riesenballon und senden das Erkundete sofort nach Hause, bevor er abgeschossen wird. Der Olymp wird entsetzt sein. Unvorstellbar, Katastrophe. Wenn diese Erdenbürger dahinterkommen, dass es uns im Himmel gar nicht gibt, dass wir das mit dem Glauben nur für uns tun, um Kirchensteuergeld aus ihnen herauszupressen. Dann ist es um uns geschehen. Soll ich diesen Aspekt in meinem Bericht erwähnen? Moses zweifelt. Lieber nicht. Von den zu erwartenden Folgen der Wahrheit hatte er mehr Angst als vor den sporadisch auftauchend berittenen beduinischen sudanesischen Räuberbanden. Doch wie von einer vorhersehenden Hand gesteuert pustete der Wüstensturm in den entscheidenden Momenten der zu erwartenden Begegnungen größere Sandwolken auf, welche undurchschaubare Sandsturmwände entstehen ließen. Dadurch konnten keinerlei Schaden jeglicher Art an Menschen und Tieren entstehen, denn sie konnten einander nicht sehen. Man kann mit Gewissheit behaupten, dass auch hier Petrus am Werke war, die Konfrontationen zu mildern. Einige solcher Begegnungen waren so hart, dass sich Moses wünschte, Petrus würde ihm eine Eskorte der himmlischen Heerscharen mit gepanzerten Leoparden schicken.
    Moses wollte mehr von den Menschen erfahren. Es gibt so viele von ihnen, braune, weiße, gelbe, rote und andere, egal ob sie gläubig sind oder nicht. Mehrere von ihnen sind schon dahintergekommen, dass der Glaube nur ein Glaube ist und nicht die tatsächliche Tatsächlichkeit, die bewiesen ist und die jeder anfassen kann. Keiner, der ungläubigen Gläubigen sollte es je wagen, mich anzufassen, wehe, sonst würde ich ihnen beweisen, dass ich über das Wasser laufen kann und untergehe, so wie sie es glauben, oder auch nicht.
    Aber in der weiteren Erforschung der Menschheit merkte Moses nach vielen Jahren, dass diese Lebewesen in ihren Glauben geteilt sind. Einige glauben dies, andere glauben es nicht. Es existiert keinerlei Einigkeit, also bleibt es, wie es ist, und wir haben Ruhe. Unsere Vorfahren haben vorausschauend gehandelt und rechtzeitig Unordnung unter den geistig minderbemittelten Menschen gestiftet.
    Mit stark bemoostem Bart kommt der junge, nun alte, Moses zurück zu seinem Auftraggeber. Er will berichten. Doch der „Oberste“ hebt beide Arme in die bekannte Pose, um anzudeuten: „Fang nicht erst an, mein Sohn, uns, dem Olymp, ist im Verlaufe der Zeit klar geworden, alles bleibt beim Alten.“ Die sehr unterschiedliche Intelligenz der Erdenbewohner bleibt uns erhalten. Wenn es uns möglich wäre, würden wir die menschlichen Lebewesen mit einem Chip versehen. Dieser könnte ferngesteuert so manche Unsinnigkeiten in deren Gehirnen korrigieren. Nimm jetzt hier den von mir versprochenen Schluck vom edlen uralten Messwein. Leider ist er in den vielen Jahren deiner Abwesenheit etwas eingetrocknet. Lass dir den Rest gut bekommen. Du darfst dich in Zukunft auf der Treppe zu meinen Füßen auf Stufe drei setzen. Aber wasche dir vorher die Beine. Ich dulde keine Schlamperei im Olymp, obwohl es auch hier zuweilen recht unruhig zugeht und schon mächtig stinkt.“
    Moses, der inzwischen klüger geworden war, lauschte den Worten seines Beherrschers und sah die Chance, hier einzusteigen. „Für die Leistungen, die ich unter den gräulichen Bedingungen erbracht habe und erdulden musste, sollte ich mindestens drei bis vier Stufen höher stehen. Beobachte deine zwölf faulen Jünger, die nur herumsitzen und ihre Bäuche massieren, um die Schmerzen der Prasserei zu lindern. Die sitzen auf der siebten Stufe.“ Er kam so richtig in Fahrt mit seinem Unmut. Die riesigen grünen Demonstrationen der Irdenen haben ihn zu seiner Entscheidung inspiriert. Moses, unzufrieden mit der geringen Abfindung für seinen gefährlichen Einsatz auf Erden, erinnert sich an die Maßnahmen, die die Menschen in ähnlichen Situationen ergriffen haben. „Wir streiken!“, rief er in die Versammlung hinein.
    „Wer sind ‚Wir'?“ Will der Oberste wissen.
    „Das sind alle göttliche Bediensteten, die die Drecksarbeit auf dem Olymp verrichten müssen und nur bis zur dritten Stufe vorwärtskommen dürfen.“
    Der Oberste erhob wieder seine Hände und sagte: „Gemach, gemach, mein Sohn.“ Es ist bis jetzt nicht aller Tage Abend! Deine Forderung zu einer Höherstufung ist leicht übertrieben. Du kennst den vorübergehenden Rückgang der Steuern, die wir den Irdenen auferlegt haben. Wir müssen uns besonders auf den unteren Ebenen erheblich einschränken.“
    „Tinnef!“ Entrüstete sich Moses, „Ich habe die protzigen kirchlichen Paläste gesehen und deren goldene Ausstattung. Mit dem Kapital kann den Menschen ein menschliches Leben ermöglicht werden; dann enden Neid und Hass und die Kampfeslust, die lediglich der Eroberung der Güter der anderen dient. Den Rückgang der Einnahmen habt ihr selbst verschuldet. Viele Kirchenaustritte wegen der Sauereien einiger deiner hörigen Diener werden nicht geahndet, sondern geduldet. Der Olymp sollte sich vorsehen, denn die Kampfbereitschaft, welche die Menschheit zeigt, ist nicht zu verachten.“
    „Mein Sohn, du vergisst, dass die Kampfbereitschaft nur ein Ausdruck des Lebenswunsches der Menschen ist, ihre Rasse zu erhalten. Das, was im Weg steht, muss weichen. Die Ellenbogentaktik ist die beste Methode, um das zu erreichen. Lass dir gesagt sein, bei einer Revolte kehrt sich das Theater meist recht bald um, denn dann neiden die zuvor Besser stehenden den Neureichen die Beute. Das, zu deiner Belehrung, du kleiner Revoluzzer. Über deine Beförderung werden wir noch zu reden haben. Das aber später. Jetzt wechsle deine Kutte und nehme deinen Stammplatz im Lachkabinett wieder ein. Dort bleibst du, bis du wieder einmal gerufen wirst.“
    „Amen!“ Er klatschte dabei zweimal in seine Hände und Moses stand auf seinem alten Platz.
    „Klatsche nicht zu früh, Alter“, wollte er noch rufen, doch da war es auch schon um ihn geschehen. Moses stand schon fast wieder ausgehärtet auf seinem Podest, schrie er aus den restlichen noch gebliebenen Leibeskräften, schwach: „Du wirst sehen und fühlen, unsere Macht und unser Kampfeswille sind größer. Ich rufe unseren Größten zu Hilfe.“

    „Arthur hilf!“

    Welch‘ ein Erstaunen unter den himmlischen gepanzerten und beflügelten Heerscharen. Der geliebte Arthur der Engel erschien und spannte seinen schützenden Schirm über das himmlische Volk.

    Amen

    Ungeheuerliches

    Heute trieb es mich aus dem Haus. Die Sonne schien verführerisch, ein laues Lüftchen wehte über die Bergwiese und brachte einen erfrischenden Duft herbei. Frisches Heu, ich liebe dieses Aroma. Es entspannt mich. Ich genieße die alte Bank am Waldrand – nicht allein, ein kleiner Junge hat sich zu mir gesellt – er hatte mich höflich gefragt, ob er sich zu mir setzen darf. Selten bemerke ich. Ein höflicher Bursche, der sich mir als Eddi vorstellt. „Und wie heißen Sie“, will er keck wissen.
    „Ich bin der Oskar.“ Eddi beginnt auch gleich ein Gespräch mit mir. „Haben Sie schon das Neueste gehört? Ich habe es heute in der Schule von meinem Banknachbarn, der es von seinem Cousin aus der höheren Nachbarschule hat, der soll jemanden kennen, der es genau weiß. Er hat es schon mal im Radio gehört, vor ein paar Tagen. Was uns bedroht, ist doch die Ozonschicht und der Kohlenstoff, die uns alle unterdrücken werden. Damit das nicht geschieht, gibt es neue Anordnungen. Man hat festgestellt, dass besonders die Kühe in ihren Ställen sehr viel von diesen Gasen erzeugen, beim Pupsen. Das Gas muss also schleunigst weg, in den Weltraum. Dort kann es bleiben, weil dort niemand lebt, der sich damit vergiften könnte. Nun ist endlich eine Maschine erfunden worden, die diese Gase auffängt, in große Säcke presst. Das Gas wird dann in einer Fabrik verflüssigt und in riesigen Behälter nach oben gebracht und oberhalb des Weltalls freigelassen. Dort kann es ruhig stinken.“
    Ich habe meinen Spaß bei der Geschichte und gehe auf seine Version ‚Vergiftung im Weltall‘ ein. „Ja, ich habe schon vor langer Zeit mal etwas Ähnliches gehört, wollte es aber nicht glauben. Jetzt, nach deiner Schilderung, scheint es mir doch wahr zu sein. Ich denke aber man wird das Gas noch bis zum Letzten ausnutzen wollen. Gas ist doch brennbar, entweder man benutzt es zum Heizen in den Wohnungen oder man nimmt es zum Antrieb der Raketen, die es in das Weltall befördern sollen. Ich glaube, das Gas zum Heizen zu verwenden, wäre die bessere Lösung. Was meinst du?“
    „Ja, zum Heizen schon, aber dann stinkt es doch in der Wohnung!“
    Wir diskutierten fantasievoll ein Weilchen hin und her und kamen zu dem Schluss, es sollte lieber oberhalb des Weltalls verbleiben.
    „Aber wussten Sie auch, dass jede E-Mail, die Sie speichern, Strom kostet, und wer Strom produziert, der stößt letztlich auch Gase ab, die uns niederdrücken wollen. Zusammengerechnet, wie viel Strom gebraucht wird, um die Billionen von Mails zu speichern, die täglich geschrieben werden, erhält man eine hübsche Menge Gas.“
    „Da hilft weiter nichts als alle nicht mehr aktuellen und unnützen Werbemails zu löschen, löschen, löschen.“
    „Aber nicht, dass sie gleich einen Eimer Wasser über ihren PC kippen. Sie können die ja spämmen.“
    „Was ist denn das nun wieder ‚spämmen‘?
    „Da müssen sie die Werbemails nur in den Spamordner ziehen, dann kommen die vielleicht nie wieder.“
    Wir haben uns beide lachend voneinander verabschiedet.
    „Tschüss Oskar.
    „Tschüss Eddi““

    Um fünf in der Glocke

    „Um fünf in der Glocke.“ Für sechs Männer ist das Gesetz. Da ist noch Zeit, um sich für das Abendbrot daheim genügend Appetit und Mut anzutrinken und ein wenig zu quatschen. Gegessen wird bei Frau und Kind.
    Horst regt sich auf: „So geht’s nicht weiter. Wir versauern hier noch vollkommen. Seitdem der Hannes nicht mehr bei uns ist, herrscht Ruhe, Sense. Der hatte wenigstens noch Ideen, aber mit euch ist nichts los im Laden. Wir benötigen einen mit Visionen im Kopf.“
    „Hast recht, Horst. Wenn wir dich nicht hätten, würden wir das gar nicht merken. Setze dich hin und trink dein Hefeweizen“, lässt Kuno seine Weisheit blitzen.
    Arno, der ausgewiesene Träge in der Runde, fragt „Und – warum – machst – du – da – nicht – den – Anführer – von – uns?“
    „Da müsste er sich aber mächtig engagieren und aus seiner Haut herausgehen. Das schafft der nicht“, meint Harro. Horst hat sich doch auch immer nur auf Hannes Ideen eingelassen, damit er nicht selbst aktiv werden muss.“
    „Und was soll nun werden? Gehen wir jeder wieder nach Hause legen die Beine hoch und lassen uns von den Frauen dirigieren: »Mache den Keller frisch; bewege dich im Garten, dort wachsen die Radieschen schon zum Himmel hoch; ziehe die große Leine, ich will waschen; Kehre mal die Straße damit die Leute nicht über den Dreck stolpern müssen«.“ Macht sich Erwin Luft.
    Kuno sagt: „Ich schlage vor, dass Benno das Zepter in die Hand nimmt. Der war schon immer scharf drauf, was zu sagen zu haben.“
    Als Benno zur Stammtischrunde kommt und von dieser Festlegung erfährt, will er protestieren, nimmt aber augenblicklich den Anlauf zurück und stimmt fröhlich zu. „Einverstanden, ich werde es euch schon zeigen“ und hat dabei einiges im Hinterkopf. „Ich werde mich engagieren.“
    Arno der Träge meint „Da – sehe – ich – schon – Übles – auf – uns – zukommen. Ich – kenne – dich – Burschen, dich – Hinterlistigen.“
    Benno sollte Recht behalten. „Ich werde mir ernsthaft Gedanken machen, bei mir daheim und euch dann meinen Plan vortragen, wie wir mit unserer Freizeit umgehen können“, sagte er entschlossen.
    „Du gehst ziemlich forsch ran. Werden wir da auch mal Zeit zum Lachen haben?“, fragt Horst.
    „Sogar zum Biertrinken, Horst.“

    „Das geht doch garantiert wieder schief.“ Meint der Arno und lässt betont seinen Kopf auf die Tischplatte knallen.
    „Du alter Miesmacher. Lass ihn doch mal machen. Vielleicht kommt mal etwas Gutes aus ihm raus. Und außerdem hat der doch seinen ‚Petro‘, den Alleskönner und Muntermacher.“
    „Den könnte Arno gebrauchen, damit der ein wenig aufgefrischt wird.“
    „Nee, nee, den behalte ich für mich, auf Petro lasse ich nichts kommen. Der hat mich bisher aus jedem Tief herausgeholt.“ Protestiert Benno sogleich und wundert sich. „Sag mal, woher weißt du von meinem Petro?“
    „Hier am Tisch. Zum letzten Aschermittwoch warst du mehr als ‚Hin‘ und hast dabei mit deinem Petro gemurmelt, Trost suchend.“
    „Ach ich weiß, da hatte mir meine Frau zum Frühstück einen Vortrag gehalten zu meinen Essgewohnheiten. Der verlief etwa so.“
    „Du mit deiner ollen Jacke, die ausgeleierten Ärmel hängen in die Marmelade! ″
    „Hm.“
    „Nimm nicht so viel Butter! ″
    „Hm.“
    „Du isst zu fett! ″
    „Hm!“
    „Wie dick du den Quark streichst, du wirst zu sauer! ″
    „Hm!“
    „Du isst zu süß, entschieden zu viel Honig! ″
    „Hm!!“
    „Weiße Semmeln jeden Tag ist ungesund! ″
    „Hm!!“
    „Schwarzbrot ist gesünder! ″
    „Hm!!!“
    „Der Kaffee ist heute wieder mal sehr stark! ″
    „Hm!!!“
    „Und schon haste wieder einen Fleck auf der Jacke!“
    „Hm!!!“
    „Jeden Tag das Gleiche!“
    „Hm!!!!“
    „Du änderst dich nie!“
    „Hm!!!!! Mir schmeckt es nun nicht mehr. Der Tag ist hin. Guten Morgen, liebe Frieda.“

    „Das ging mir damals durch den Kopf, als ich Daune war. Ich fragte mich, wie wird es morgen früh sein? Da konnte mir nur Petro helfen.“

    „Da haben wir volles Verständnis für, da benötigt man einen Petro.“ Äußerten sich die anderen.
    Von Kuno war zu zerknirscht zu hören: „Ich will auch einen Petro haben!“
    Harro will wissen: „Wie bist du eigentlich zu deinem Petro gekommen?“
    „Den habe ich schon seit meiner Kindheit. Ich trage ihn immer mit mir herum. Er ist ständig bei mir, ich kann ihm alles anvertrauen, ihn nach allem fragen. Mit ein klein wenig Überlegung finde ich meist eine gute Antwort. Wollt ihr ihn einmal sehen?“ und zieht dabei einen kleinen Teddybären aus der Jackentasche heraus, hält ihn hoch. Die anderen rufen erstaunt: „Das ist dein Petro?“
    „Ja, was habt ihr denn gedacht, wer Petro ist?
    Da fällt mir eben ein Gedicht ein, was in solchen Fällen recht zutreffend ist. Ihr werdet mir gewiss zustimmen. Meint Benno.

    Einfach so.
    Wenn ich könnte, wie ich wollte,
    wenn ich dürfte – einfach so,
    Würde ich viele Dinge ändern.
    ohne Skrupel – einfach so.
    Statt zu streiten, würde ich lachen.
    und mich freuen – einfach so.
    Statt zu schimpfen, würde ich loben.
    nicht mehr tadeln – einfach so.
    Statt zu hassen, würde ich lieben.
    meine Feinde – einfach so.
    Wenn ich könnte, wie ich wollte –
    doch was hält mich davon ab?
    Ich kann einfach heute beginnen.
    Einfach so, weil ich es mag.
    (unbekannt)

    „Und das ist nicht von dir?“ „Leider ja.“

    Der kleine Ermittler

    Hansi hat sich mit seinen Freunden ausgetobt. Müde sitzt er am Abendbrottisch. Er hat Hunger, aber keinen Appetit.
    „Trink erst einmal deinen Tee, dann kommt auch der Appetit“, lockt ihn die Mutter. „Du wirst heute bestimmt erholsam schlafen und das ist gut, denn morgen müssen wir zeitig aus den Betten, weil wir zur Oma und Opa fahren wollen. Da möchtest du doch ausgeschlafen sein.“
    „Oh ja, das ist schön, dass wir zu Opa fahren, aber schlafen geht nicht. „Nein, nein, das geht nicht, ich muss munter bleiben, mindestens bis kurz nach Mitternacht. Dann ist es vorbei.“
    „Was ist dann vorbei und warum erst nach Mitternacht?“, will Vati wissen. „Was gibt es denn bis dahin so wichtiges, das du unbedingt aufbleiben musst?“
    „Na, weißt du denn das nicht? Kurz vor Mitternacht, so gegen halb zwölf-Uhr, kommt doch immer der Herr Meier aus der 12 nach Hause. Schwer bepackt mit zwei großen Taschen, die er manchmal absetzen muss, um sich zu erholen, so schwer sind die. Und dann geht er nach Hause in die 12 hinein.“
    „Das ist bestimmt der Herr Meier, kannst du das denn erkennen in der Dunkelheit? Du weißt, im Dunkeln sind alle Katzen grau.“
    „Na klar, die Hausnummernbeleuchtung macht alles bis zu einem gewissen Grad hell. Der läuft doch auch so komisch, der hinkt mit dem rechten Bein. So läuft nur Herr Meier. Der zieht das Bein so hinter sich her. Das kann nur Herr Meier sein.“
    „Beobachtest du da schon lange?“
    „Vor drei Wochen etwa, ich konnte nicht einschlafen, habe ich mich ans Fenster gestellt und den Vollmond betrachtet. Da sah ich ihn zum ersten Male. In der vergangenen Woche habe ich ihn vermisst. Nun ist er wieder da, der Nachtgänger, mit den schweren Taschen. Ob der etwas schmuggelt oder bringt der sein Diebesgut in Sicherheit. Vielleicht Silbergeschirr oder gar Goldgeschmeide?“
    „Hm, das ist schon sonderbar, was du da so beobachtet hast. Das sieht fast so aus, als ob da eine Straftat dahintersteckt. Wir werden die Polizei informieren.“
    „Nein, das will ich doch selbst ermitteln. Festnehmen kannst du ihn ja dann später und der Polizei übergeben. Und ich bin der Detektiv dabei und habe alles aufgeklärt. Ist das nicht toll?“ Da bekomme ich vielleicht sogar noch einen Orden und eine Belohnung dafür. Eintausend Euro sind mindestens fällig. Wir teilen natürlich. Das Geld können wir gut für unseren Urlaub nützen. Ich bin schon ganz gespannt, wie der Krimi ausgeht.“
    Vati sieht seinen Sohn von der Seite an, „und dafür opferst du Nacht für Nacht deinen Schlaf? Ich glaube, deine Fantasie geht mit dir durch.“
    Hansi dreht sich zu Vati um „du bist wohl nicht dafür, dass wir den Verbrecher festnehmen?“
    „Ich meine, ehe es zu einer Festnahme kommt, sollten wir uns mit Herrn Meier unterhalten und ihn fragen, was er da so Geheimnisvolles nach Hause schleppt, mitten in der Nacht. Vielleicht ist es ganz harmlos, was dahintersteckt.“
    „Und wenn nicht?“
    Mutti kommt zu den beiden hinzu, die am dunklen Fenster stehen und wie gebannt auf das wichtige Ereignis warten, sie fragte sich, wo die geblieben sind und hört die letzten Worte. „Das kann ich euch sagen. Herr Meier arbeitet im Schichtdienst. Die Nachmittag-Schicht geht bis Elf-Uhr. Er verrichtet in der Kokerei eine sehr schmutzige Arbeit. Seine Dreckklamotten bringt er jedes Mal mit nach Hause, damit sie seine Frau für den nächsten Einsatz waschen kann. So einfach ist das, ihr Kriminalisten. Aber nun schnell in die Betten.“
    Der enttäuschte Hansi kann gar nicht gleich schlafen.

    Ernüchterung

    Als Hansi aus dem Urlaub zurückkommt, erfährt er von den letzten Ereignissen, die sich in seiner Wohnumgebung zugetragen haben. Erstaunt ist er, dass der Verbrecher aus Haus 12 wieder auf freiem Fuße ist und sich auch noch mit seinen Freunden unterhalten hat, als wäre nichts geschehen. Karl, sein bester Freund, sagt ihm, dass er, der Verbrecher, heute am späten Nachmittag erzählen will, wie es ihm im Gefängnis ergangen ist. Da würde es ihm am besten passen, weil er diese Woche Frühschicht und schon etwas geschlafen hat.
    Sie treffen sich, genau um fünf Uhr auf dem Spielplatz am Tor. Sieben, für Krimis immer offene Jungen sind pünktlich da, um sich die spannende Geschichte nicht entgehen zu lassen.
    „Ja Jungs, das war gar nicht so einfach im Knast“, beginnt Herr Meier.
    „Also wenn man da in das Gefängnis »eingeliefert« wird, so nennt man das in der Gefängnissprache, muss man alles abgeben, was man am Körper trägt. Ich ziehe mich aus und stehe erst mal nackt vor den Beamten. Meine Kleidung wird in der Kleiderkammer verstaut. Über den Tresen schiebt man mir eine alte Kiste herüber, mit Kledasche des Hauses. Schuhe, Mütze, quer gestreiften Anzug, dazu gibt es das Essbesteck, eine Schüssel, einen Trinkbecher. Eine eigene Zahnbürste durfte ich mitbringen. Dann wird man in die Zelle geführt, in der man so lange allein ist, bis die Haftzeit vorüber ist. Das kann dauern. Einige Gefangene können auch zu zweit in einer Zelle wohnen. Ich hatte Einzelhaft. Das ist elend langweilig, immer allein zu sein. Geweckt wird ganz früh, halb sechs Uhr, durch mehrere große Doppelwecker im Gang. Wenn das Signal ertönt, wird jeder munter, so laut ist das. Dazu brüllt einer der Aufseher ganz laut »aufstehen«. Du musst dich waschen, anziehen und mit den Essutensilien hinter der Zellentür bereitstehen, bis die Tür von außen geöffnet wird.“
    „Und wenn du mal aufs Klo musst?“
    „Eine Klo-Schüssel ist in der Zelle aufgestellt, wo man seine Notdurft verrichten kann.“
    „Und wie kannst du dich waschen?“
    „In der Zelle befindet sich auch ein kleines Waschbecken, mit kaltem Wasser natürlich. Dann wird die Zellentür geöffnet und alle Gefängnisinsassen stellen sich vor ihrer Zelle auf, bis das Signal kommt »rechtsum, Abmarsch«. Klaps, klapp, klapp. Die Holzpantinen geben den Takt an. Im Gänsemarsch marschieren wir dann zum Speisesaal. An der Tür dazu steht der Essenausgeber, meist einer der Gefangenen und füllt dir deine Schüssel und den Trinkbecher. Ein zweiter Helfer, der gleich neben ihm steht, reicht dir ein Brotkanten und ein Stückchen Wurst. Weiter geht es im Gänsemarsch zu den Tischen. Alle fangen zur gleichen Zeit an zu essen und hören zur gleichen Zeit damit auf. Das geschieht weitgehend geräuschlos. Nur der Aufseher brüllt auf, wenn etwas nicht nach seinem Willen abläuft. Nach dem Essen heißt es: »Geschirr aufnehmen«. Die gleiche Prozedur zurück in die Zelle. Die Türe schnappt zu, du bist allein, legst dich auf deine Pritsche und starrst an die Decke, weil du Freizeit hast.“
    „Haste da nichts zum Lesen oder zum Basteln?“, fragt einer der Kinder.
    „Nein. Manchmal ist Sport, oder Ausgang im Hof angesagt. Da gehen wieder alle im Gänsemarsch unter strenger Aufsicht einiger Aufsichtsbeamter, immer im Kreise, über den Hof. Mittags und abends läuft die gleiche Folge ab, wie zum Frühstück. Manchmal wirst du geholt vom Aufseher zum Verhör, immer das Gleiche fragen die, als wenn sie sich nichts merken könnten.“
    „Das ist ziemlich blöde.“
    „Das würde ich nicht mitmachen.“
    „Ich würde mich beschweren bei der Regierung.“
    So reagieren die Kinder auf die Erläuterung ein es Aufenthaltes im Knast.
    „Habt ihr euch das so vorgestellt?“, fragt Herr Meier.
    „Nein, kommt einstimmig die Antwort der jungen Zuhörer. Das ist doch eine richtige Strafe.“
    „Da hast du wirklich recht, mein Junge. Aber das soll es doch auch sein.“
    „Kannst du uns noch mehr erzählen vom Knast, darf man da rauchen, Bier trinken, und wie ist es mit Drogen?“
    „Das berichte ich euch ein anderes Mal. Für heute erst einmal so viel. Tschüss, bis übernächsten Mittwoch, wenn ich wieder Frühdienst habe, an gleicher Stelle.“
    Die Jungen diskutieren auf dem Heimweg noch kräftig und aufgeregt weiter.

    Am angekündigten Tag, als die Runde wieder auf dem Spielplatz zusammen gekommen ist, warten sie gespannt auf Herrn Meier, den Verbrecher. Der kommt lachend angeschlendert. Er freut sich auf die Gesichter der Kinder, wenn er ihnen gleich eine Offenbarung macht.
    „Na Jungs, wie habt ihr meine Geschichte verdaut?“
    „Knast ist große Scheiße“ meint Rolf.
    „Da kann ich dir nur zustimmen. Nun seid nicht enttäuscht, wenn ich euch jetzt sage, das stimmt so gar nicht, wie ich es geschildert habe. Es war etwas anders. Nämlich so: Am Tag, an dem ich mich im Gefängnis einfinden musste, klingelte es an meiner Haustür. Als ich die Tür öffnete, steht mir ein gut gekleideter Mann gegenüber und sagt: »Guten Morgen Herr Meier, ihr Taxi für die Fahrt zum Gefängnis ist da«. Ich war schon vorbereitet, mein Koffer stand im Flur, worauf ich ihm zeigte. Er nahm ohne weitere Worte meinen Koffer und trug ihn zum Taxi. Dort legte er ihn in den Kofferraum, ging zur hinteren Tür des Wagens, die er öffnete und mich bat einzusteigen.
    Die Fahrt dauerte nur fünfzehn Minuten. Das große Gefängnistor öffnete sich von allein. Das Taxi fuhr mich bis vor die Eingangspforte, in der bereits der Direktor der Verwahranstalt auf mich wartete. Er begrüßte mich sehr höflich, bat mich herein und wünschte mir einen angenehmen Aufenthalt in seinem Hause. „Bitte genießen Sie den vor ihnen stehenden Cocktail zur Begrüßung und warten sie hier im Salon. Ihr Etablissement wird für sie noch frisch renoviert.“ Dann verschwand er. Mein Koffer stand wie von einer Geisterhand bewegt neben mir. Ich vermute, der Taxifahrer hat ihn mir nachgetragen. Kaum hatte ich den leckeren Cocktail intus, wurde ich gebeten, mitzukommen. Ein Bediensteter geleitete mich in die gezielt für mich neu hergerichtete Zelle. Was heißt Zelle, es war ein Doppelzimmer – Wohnraum – Schlafraum getrennt -, mit Bad und WC, mit einem großen Aussichtsfenster, LED-Fernseher, Telefon und einer kleinen Hausbar voll mit lustigen Getränken. Kostbare Ölgemälde an den Wänden. Im Fernseher lief ein Filmchen zu meiner Begrüßung mit der Musik »Einzugsmarsch, aus der Oper Aida« Auf einem kleinen Tischchen vor der Couch befand sich eine große Schale mit Obst. Mein Begleiter wünschte mir einen angenehmen Aufenthalt und war urplötzlich aus dem Doppelzimmer verschwunden. Punkt zwölf Uhr klopfte es an der Tür, ein Gehilfe des Kochs stand davor und fragte mich, was ich zu Mittag begehre, reichte mir eine umfangreiche Menükarte und welchen Wein ich bevorzuge.“
    „Hör auf, hör auf, das ist doch alles gelogen. So kann es niemals gewesen sein. Das ist doch keine Strafe.“
    „Wie könnte es dann gewesen sein, nach eurer Meinung?“, fragte der vermeintliche Verbrecher Herr Meier nach.
    „Ich könnte mir eine Mischung zwischen den beiden Erzählungen vorstellen, aber so niemals.“ War Rudolfs Meinung.
    „Genau, ich war gar nicht im Gefängnis. Ich musste nur vierzehn Tage wegen Virusverdacht daheim bleiben. Einmal war ein Polizist bei mir und hat mich zu der gegen mich vorliegenden Anzeige befragt. Ich weiß nicht, wer da eine Anzeige gestartet hat. Jedenfalls war sie seine fantasievolle Auslegung meiner nächtlichen Heimkehr. Es hat mir aber auch gezeigt, wie wahr der Spruch ist.“
    „Was du über andere falsches oder schlechtes hast gehört
    Sollst du weiter nicht verkünden
    Denn schnell ist Menschenglück zerstört
    Doch schwer ist es, Menschenglück zu gründen.“

    „Darüber solltet ihr nachdenken.“

  9. Der Termin
    „Guten Morgen, Herr Mayer. Kommen Sie bitte nach Unterrichtsschluss zu mir ins Büro.“
    „Mach’ ich“, erwiderte Ingo Mayer und noch ehe er die Schulleiterin fragen konnte, worum es gehen würde, war sie schon in einem Gespräch mit dem neuen Informatiklehrer, den sie immer so überaus freundlich behandelte.
    Was wollte sie bloß von ihm? Hatte er etwas falsch gemacht? Hatte ihn ein Schüler oder gar ein Kollege angeschwärzt? Aber weswegen?
    Er musste unbedingt herausfinden, was los war, um sich zu wappnen. Doch nun ging er erst einmal in die 12/1, sein Tutorium. Er liebte seinen Deutschleistungskurs mehr als alle anderen Klassen. Hier kamen oft echte Diskussionen zustande, nicht nur Ping-Pong – Frage-Antwortgespräche. Wie immer begrüßte er seine Schüler mit einem Lächeln. Sie hatten in der vergangenen Stunde eine Assoziationskette zu Schillers „An die Freude“ zusammengetragen. Nun sollten – den elenden Lehrplan ein wenig modulierend – ihre Gedanken zu Kurzgeschichten werden. Diese waren noch nicht ganz fertig geschrieben und er gab ihnen noch etwas mehr Zeit.
    Zeit für ihn, über den Grund für den Termin mit Frau Q. zu grübeln. Er schaute sich die jungen Menschen vor sich an. Sie vermittelten ihm das Gefühl, das sie eigentlich ganz gern in seinen Stunden saßen, wenn man mal von den leidigen Klausuren absah.
    Allerdings gab es bei mindestens zwei dieser jungen Fast-Erwachsenen auch immer wieder Ärger. Die eine, die so oft fehlte und deren Entschuldigungen mehr als fragwürdig daherkamen – die konnte unverschämt werden, wenn er sie darauf ansprach; sollte sie darin noch einen Gang hochgeschaltet haben, und bei der Schulleitung …? Dann wäre das Gespräch nicht schlimm. Er wusste, dass die Schulleiterin ihn diesbezüglich eher unterstützen, denn kritisieren würde. Das Thema Fehlstunden häufte sich seit einiger Zeit.
    Oder waren es Antons Eltern? Sie legten sich, seit ihr Sohn in die Sekundarstufe II aufgenommen wurde, mit fast jedem Naturwissenschaftslehrer an. Ihrer Meinung nach wurde keine Arbeit richtig bewertet, man stritt um Folgefehler, Formfehler, … . Bisher hatte sich Ingo immer raushalten können. Die Eltern akzeptierten das – aber vielleicht nicht mehr? Antons letzte Deutschklausur bei ihm war auch nur noch im Dreierbereich gewesen. Anton müsste eben mal weniger Handy und mehr Hefter … Auch hier sah Ingo nicht, was zu dem Termin mit der Schulleitung geführt haben sollte.
    Oder war es seine gelegentliche Laxheit gegenüber dem Lehrplan, der gerade in der Oberstufe seiner Meinung nach nicht durchgängig das war, was man jungen Menschen nahebringen sollte, geschweige denn, was sie zu Literaturliebhabern machen würde. Wusste Frau Quaß davon?
    Der Rest der Stunde verlief so, dass Ingo seine ganze Aufmerksamkeit dem Stoff und den Diskussionen in der Gruppe widmen musste. Erst, als die letzten beiden 12er das Wochenende planend das Zimmer verlassen hatten und er selbst in Richtung Lehrerzimmer schritt, begann Ingo wieder zu sinnieren: Wollte die Schulleiterin ihm seine Theaterfortbildung streichen? Vielleicht hatte sich der Planer darüber aufgeregt, dass deshalb schon wieder in der Fünften Klasse etwas ausfiel? Die Fünften waren immer die ambivalentesten Klassen. Einerseits gelang es hier am ehesten, Begeisterung für etwas zu schaffen, aber auf der anderen Seite beschlich Ingo immer der Gedanke, dass sobald in der Fünften mal etwas nicht so lief, alle Eltern in Panik das Abitur in Gefahr sahen! Er schüttelte automatisch den Kopf.
    Das hatte Anna gesehen, eine seiner Sportkolleginnen. „Was hast du denn gerade Schreckliches gedacht?“, wollte sie wissen. „Ach nichts. Ich soll heute Nachmittag zur Schulleitung und gehe gerade mein Sündenregister durch.“ „So ist sie, unsere Frau Q.! Ich finde es furchtbar, dass sie nie sagt, worum es geht!“ Dem pflichteten, im Lehrerzimmer angekommen, noch drei Mitstreiter bei. Nur die Sturek, die Fachleiterin, sagte nichts und verschwand schnell. „Weiß die was?“ Ingo fühlte sich echt unwohl. Er goss sich einen Kaffee ein und verschwand im nächsten Unterrichtsraum. Das laustarke Gewusel der Kinder, die rennend, schubsend, streitend oder plaudernd das Zimmer betraten würden ihn für die folgenden 90 Minuten keine Zeit für düsteres Nachdenken lassen.
    In der Mittagspause saß Ingos Lieblingskollegin Andrea schon am Tisch. Nach einem kurzen Umweg über die Anzahl von Fleischstücken im Goulasch – nämlich genau vier – erzählte Ingo Andrea sofort, dass er zur Schulleiterin müsse und keine Info habe, warum. „Du hast doch sicher was ausgefressen! Gib zu, du hast endlich das Handy von Anton aus dem Fenster geschmissen und nun gibt es eine Schadensersatzklage!“, Andrea lacht und hat auch schon die nächste Vermutung. „Nee, ich weiß, du hast gestern in Sport schon wieder verlangt, dass die armen Kinder zehn Minuten lang draußen laufen müssen, obwohl es nur PLUS 18 Grad Celsius sind und es vorige Woche geregnet hat!“ Beide lachten laut. Und als noch Chris (Mathe/Physik) und Karen (Kunst/Geschichte) sich zu ihnen gesellten und erfuhren worum es ging, wurden die Vermutungen immer skurriler. Im Gehen rief Andrea Ingo noch zu, er solle sich keine Gedanken machen. Er wisse ja, wie die Q. sei. Doch leichter fühlte er sich dadurch nicht.
    Die letzten 90 Minuten vor seinem Schulleitergespräch verbrachte Ingo in der Turnhalle. Die Jungs aus der Achten brachten all ihre Überzeugungskünste zusammen, um ihn dazu zu bringen, heute mal wieder Basketball zu spielen. Ingo gab gern nach, denn dabei müsste er gut aufpassen und könnte ganz sicher nicht ins Grübeln verfallen.
    Laut, spannend und gottlob verletzungsfrei verging die Zeit. Nur noch umziehen und dann hoch ins Sekretariat. Ingo verspürte kurz den Drang, den Termin einfach zu vergessen und nach Hause zu fahren, aber dadurch würde er nur noch länger nicht wissen, was los war. Also riss er sich zusammen, flitzte, immer gleich zwei Treppen auf einmal nehmend, hoch und betrat schwungvoll das Vorzimmer. Keiner da. Er hatte so gehofft, dass Frau Wobel ihm einen kleinen Hinweis geben könnte. Die Sekretärin war eine Perle, immer ruhig und freundlich. Wie schaffte sie das bei so einer Chefin im Nachbarzimmer?
    Ingo straffte sich und klopfte. Wartete. Ging erneut alle Fehler, die er gemacht haben könnte, durch. Er klopfte erneut. Wieder keine Antwort. Er überlegte, ob er die schalldichte Tür öffnen sollte. Zögerte. Da betrat Frau Wobel hinter ihm den Raum.
    „Ach, Herr Mayer! Frau Quaß musste heute schon früher weg. Sie lässt sich entschuldigen. Sie wollte ihnen jetzt nur sagen, dass sie Ihrer Theaterfortbildung zustimmt und sie sich freuen würde, wenn Sie für die Abiturfeier noch die Laudatio für den besten Schüler des Jahrgangs, der vermutlich aus Ihrem Tutorium stammen wird, übernehmen würden.“
    „Das war’s? Mehr nicht?“ Ingo stand noch immer vor der Schulleiterzimmertür und war gefühlt einige Zentimeter kleiner. Frau Wobel lächelte. Diese Reaktion war ihr bekannt. Und dann sagte sie den Satz, den er heute schon ein paar Mal gehört hatte: „Sie wissen ja, wie sie ist.“

  10. Jetzt formatiert – Entschuldigung für die Doppelung

    Der Termin
    „Guten Morgen, Herr Mayer. Kommen Sie bitte nach Unterrichtsschluss zu mir ins Büro.“ „Mach’ ich“, erwiderte Ingo Mayer und noch ehe er die Schulleiterin fragen konnte, worum es gehen würde, war sie schon in einem Gespräch mit dem neuen Informatiklehrer, den sie immer so überaus freundlich behandelte.
    Was wollte sie bloß von ihm? Hatte er etwas falsch gemacht? Hatte ihn ein Schüler oder gar ein Kollege angeschwärzt? Aber weswegen?
    Er musste unbedingt herausfinden, was los war, um sich zu wappnen. Doch nun ging er erst einmal in die 12/1, sein Tutorium. Er liebte seinen Deutschleistungskurs mehr als alle anderen Klassen. Hier kamen oft echte Diskussionen zustande, nicht nur Ping-Pong – Frage- Antwortgespräche. Wie immer begrüßte er seine Schüler mit einem Lächeln. Sie hatten in der vergangenen Stunde eine Assoziationskette zu Schillers „An die Freude“ zusammengetragen. Nun sollten – den elenden Lehrplan ein wenig modulierend – ihre Gedanken zu Kurzgeschichten werden. Diese waren noch nicht ganz fertig geschrieben und er gab ihnen noch etwas mehr Zeit.
    Zeit für ihn, über den Grund für den Termin mit Frau Q. zu grübeln. Er schaute sich die jungen Menschen vor sich an. Sie vermittelten ihm das Gefühl, das sie eigentlich ganz gern in seinen Stunden saßen, wenn man mal von den leidigen Klausuren absah.
    Allerdings gab es bei mindestens zwei dieser jungen Fast-Erwachsenen auch immer wieder Ärger. Die eine, die so oft fehlte und deren Entschuldigungen mehr als fragwürdig daherkamen – die konnte unverschämt werden, wenn er sie darauf ansprach; sollte sie darin noch einen Gang hochgeschaltet haben, und bei der Schulleitung …? Dann wäre das Gespräch nicht schlimm. Er wusste, dass die Schulleiterin ihn diesbezüglich eher unterstützen, denn kritisieren würde. Das Thema Fehlstunden häufte sich seit einiger Zeit.
    Oder waren es Antons Eltern? Sie legten sich, seit ihr Sohn in die Sekundarstufe II aufgenommen wurde, mit fast jedem Naturwissenschaftslehrer an. Ihrer Meinung nach wurde keine Arbeit richtig bewertet, man stritt um Folgefehler, Formfehler, … . Bisher hatte sich Ingo immer raushalten können. Die Eltern akzeptierten das – aber vielleicht nicht mehr? Antons letzte Deutschklausur bei ihm war auch nur noch im Dreierbereich gewesen. Anton müsste eben mal weniger Handy und mehr Hefter … Auch hier sah Ingo nicht, was zu dem Termin mit der Schulleitung geführt haben sollte.
    Oder war es seine gelegentliche Laxheit gegenüber dem Lehrplan, der gerade in der Oberstufe seiner Meinung nach nicht durchgängig das war, was man jungen Menschen nahebringen sollte, geschweige denn, was sie zu Literaturliebhabern machen würde. Wusste Frau Quaß davon?
    Der Rest der Stunde verlief so, dass Ingo seine ganze Aufmerksamkeit dem Stoff und den Diskussionen in der Gruppe widmen musste. Erst, als die letzten beiden 12er das Wochenende planend das Zimmer verlassen hatten und er selbst in Richtung Lehrerzimmer schritt, begann Ingo wieder zu sinnieren: Wollte die Schulleiterin ihm seine Theaterfortbildung streichen? Vielleicht hatte sich der Planer darüber aufgeregt, dass deshalb schon wieder in der Fünften Klasse etwas ausfiel? Die Fünften waren immer die ambivalentesten Klassen. Einerseits gelang es hier am ehesten, Begeisterung für etwas zu schaffen, aber auf der anderen Seite beschlich Ingo immer der Gedanke, dass sobald in der Fünften mal etwas nicht so lief, alle Eltern in Panik das Abitur in Gefahr sahen! Er schüttelte automatisch den Kopf.
    Das hatte Anna gesehen, eine seiner Sportkolleginnen. „Was hast du denn gerade Schreckliches gedacht?“, wollte sie wissen. „Ach nichts. Ich soll heute Nachmittag zur Schulleitung und gehe gerade mein Sündenregister durch.“ „So ist sie, unsere Frau Q.! Ich finde es furchtbar, dass sie nie sagt, worum es geht!“ Dem pflichteten, im Lehrerzimmer angekommen, noch drei Mitstreiter bei. Nur die Sturek, die Fachleiterin, sagte nichts und verschwand schnell. „Weiß die was?“ Ingo fühlte sich echt unwohl. Er goss sich einen Kaffee ein und verschwand im nächsten Unterrichtsraum. Das laustarke Gewusel der Kinder, die

    rennend, schubsend, streitend oder plaudernd das Zimmer betraten würden ihn für die folgenden 90 Minuten keine Zeit für düsteres Nachdenken lassen.
    In der Mittagspause saß Ingos Lieblingskollegin Andrea schon am Tisch. Nach einem kurzen Umweg über die Anzahl von Fleischstücken im Goulasch – nämlich genau vier – erzählte Ingo Andrea sofort, dass er zur Schulleiterin müsse und keine Info habe, warum. „Du hast doch sicher was ausgefressen! Gib zu, du hast endlich das Handy von Anton aus dem Fenster geschmissen und nun gibt es eine Schadensersatzklage!“, Andrea lacht und hat auch schon die nächste Vermutung. „Nee, ich weiß, du hast gestern in Sport schon wieder verlangt, dass die armen Kinder zehn Minuten lang draußen laufen müssen, obwohl es nur PLUS 18 Grad Celsius sind und es vorige Woche geregnet hat!“ Beide lachten laut. Und als noch Chris (Mathe/Physik) und Karen (Kunst/Geschichte) sich zu ihnen gesellten und erfuhren worum es ging, wurden die Vermutungen immer skurriler. Im Gehen rief Andrea Ingo noch zu, er solle sich keine Gedanken machen. Er wisse ja, wie die Q. sei. Doch leichter fühlte er sich dadurch nicht.
    Die letzten 90 Minuten vor seinem Schulleitergespräch verbrachte Ingo in der Turnhalle. Die Jungs aus der Achten brachten all ihre Überzeugungskünste zusammen, um ihn dazu zu bringen, heute mal wieder Basketball zu spielen. Ingo gab gern nach, denn dabei müsste er gut aufpassen und könnte ganz sicher nicht ins Grübeln verfallen.
    Laut, spannend und gottlob verletzungsfrei verging die Zeit. Nur noch umziehen und dann hoch ins Sekretariat. Ingo verspürte kurz den Drang, den Termin einfach zu vergessen und nach Hause zu fahren, aber dadurch würde er nur noch länger nicht wissen, was los war. Also riss er sich zusammen, flitzte, immer gleich zwei Treppen auf einmal nehmend, hoch und betrat schwungvoll das Vorzimmer. Keiner da. Er hatte so gehofft, dass Frau Wobel ihm einen kleinen Hinweis geben könnte. Die Sekretärin war eine Perle, immer ruhig und freundlich. Wie schaffte sie das bei so einer Chefin im Nachbarzimmer?
    Ingo straffte sich und klopfte. Wartete. Ging erneut alle Fehler, die er gemacht haben könnte, durch. Er klopfte erneut. Wieder keine Antwort. Er überlegte, ob er die schalldichte Tür öffnen sollte. Zögerte. Da betrat Frau Wobel hinter ihm den Raum.
    „Ach, Herr Mayer! Frau Quaß musste heute schon früher weg. Sie lässt sich entschuldigen. Sie wollte ihnen jetzt nur sagen, dass sie Ihrer Theaterfortbildung zustimmt und sie sich freuen würde, wenn Sie für die Abiturfeier noch die Laudatio für den besten Schüler des Jahrgangs, der vermutlich aus Ihrem Tutorium stammen wird, übernehmen würden.“
    „Das war’s? Mehr nicht?“ Ingo stand noch immer vor der Schulleiterzimmertür und war gefühlt einige Zentimeter kleiner. Frau Wobel lächelte. Diese Reaktion war ihr bekannt. Und dann sagte sie den Satz, den er heute schon ein paar Mal gehört hatte: „Sie wissen ja, wie sie ist.“

  11. René und Barbara

    «Ich glaube, jetzt reicht es.» Ihre Stimme klang sanft und bestimmt. Dann legte sie ihre Hand auf seine und zwang ihn, die Flasche zurück auf den Tisch zu stellen.

    René spürte, wie Wut in ihm aufglomm. Was erlaubte sich Barbara da?

    Er stemmte sich mit beiden Händen nach oben, sein Stuhl kippte um. Noch nie in seinem ganzen Leben hatte es eine Frau gewagt, ihm vorzuschreiben, wie viel er zu trinken hatte. «Was glaubst du eigentlich, wer du bist?», brüllte er los. (…)

    Barbara erschrak. Noch nie hatte René sie angeschrien. Er war so super-smart, charmant und liebenswert, dass sie damit gar nicht gerechnet hatte.

    René kam langsam näher, sein Gang war nicht mehr sicher. Mit seinen Armen ruderte er, um sein Gleichgewicht auszubalancieren. Seine Augen glänzten, sein Adamsapfel war geschwollen, das Gesicht glühte. Er wirkte so bösartig, dass Barbara die Schultern zusammenzog und sich ganz klein machte, so als wäre sie nicht mehr da.

    „René!“, flüsterte sie. „Ich bin es doch, Barbara.“

    Er stand vor ihr und zog sie auf die Beine. Dann schlug er ihr mit der Hand so fest ins Gesicht, dass ihr Kopf zur Seite fiel. Sie konnte es nicht fassen, fühlte den Schmerz und fragte sich, ob sie wohl in einem falschen Film gelandet wäre, da schlug er nochmals zu, bevor er sie zurück stieß.

    Wimmernd ließ sie sich auf einen Stuhl sinken, die schmerzenden Wangen in den Händen verborgen.

    „Das ist deine Schuld. Versuch nie wieder, mich zu belehren!“ Mit kalter Wut schrie er ihr die Worte entgegen, dann verließ er das Zimmer.

    Es klopfte an der Tür. Barbara wusste nicht, was sie tun sollte. Er war so wütend. Sie stand auf, sah ins Nebenzimmer, wo René auf dem Sofa lag und friedlich schlief. Dann schlich sie zur Tür und horchte.

    „Hallo, ich bin die Nachbarin. Kann ich irgendwie helfen?“, hörte sie eine vorsichtige Stimme durch das Holz hindurch.
    „Nein, danke, es ist alles in Ordnung. Uns geht es gut. Mein Freund schläft gerade. Vielen Dank, dass sie gekommen sind!“

    Am nächsten Morgen war René ein Häufchen Elend. Er saß auf dem Küchenstuhl und weinte. „Es tut mir so leid!“, schluchzte er, ich schwöre, das passiert nie wieder, bitte verlass mich nicht, ich brauche dich!“

    Barbara ging langsam auf ihn zu und streichelte ihn über den gesenkten Kopf. „Du hattest zu viel getrunken, das muss aufhören.“

    „Ja“, schluchzte er, „ich gehe zu einer Beratung, ich mache alles, aber bitte, verlass mich nicht!“
    Er zog Barbara auf seinen Schoß und küsste ihre beiden Wangen, ihre Stirn, ihre Augen. „Es tut mir so leid!“, murmelte er dabei immer wieder.

    Barbara ließ sich fallen. Er konnte so zärtlich sein und er brauchte sie. Ihr Verlangen erwachte. Die Küsse gingen tiefer, seine Hände wurden fordernder, er riss ihr die Kleidungsstücke förmlich vom Leib, bis sie schließlich gemeinsam im Schlafzimmer landeten.

  12. Der Zug aus dem Nichts

    Wie aus dem Nichts war er aufgetaucht. Nun stand er da, dampfend und fauchend.
    Torben sah zu den anderen Kindern. Doch keiner außer ihm schien den Zug zu bemerken.
    Er sah aus, als wäre jemand direkt aus der Vergangenheit hierher gereist, nach Trostbüttel, um mitten auf dem Schulweg neben den Tischtennisplatten zum Stehen zu kommen. Dabei gab es hier nicht einmal Gleise.
    Ein Schaffner lehnte sich aus der Tür und winkte. Torben drehte sich um, doch hinter ihm stand keiner. Meinte der etwa ihn?
    „Na los, worauf wartest du noch“, rief der Schaffner, „steig ein!“

    Zehn Jahre war das jetzt her. Torben wusste, dass das nicht wirklich passiert war. Ein psychotischer Schub, hatte man gesagt. Ungewöhnlich in diesem jungen Alter. Aber nach dem Tod seines Vaters, hatte man gesagt, sei es nicht kaum verwunderlich, dass er einen Zusammenbruch erlitt.
    Zehn Jahre. Fünf Klinikaufenthalte. Unzählige Psychopharmaka. Eigentlich müsste Torben geheilt sein.
    Und doch stand der Zug von damals jetzt genau vor ihm.
    Es war die gleiche altmodische Dampflock. Das gleiche schwarze Gehäuse, die gleichen roten Räder und der gleiche Rauch, der aus dem Schornstein über der Fahrerkabine in die Luft stieg.
    Wie angewurzelt stand Torben da. Etwas in seiner Brust zog sich zusammen. Die Hände in seinen Hosentaschen wurden feucht.
    Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein.
    Es sollte doch vorbei sein. Ihm sollte es gut gehen.
    Am liebsten hätte Torben laut geschrien. Stattdessen konzentrierte er sich auf seine Atmung, wie so viele Therapeuten es ihm beigebracht hatten.
    Ein … aus … ein … aus …
    Der Zug war nicht real. Er würde gleich wieder weg sein, sobald er sich beruhigte und die Panikattacke runterschluckte.
    Ein … aus … ein … aus …
    Torben schloss die Augen, um das dampfende Ungetüm vor sich nicht mehr sehen zu müssen.
    Ein … aus …
    Es war ein beschissener Zeitpunkt, um wieder in die alte Krankheit zu verfallen. So kurz vor seinen Prüfungen.
    Ein … aus …
    Immerhin war er diesmal allein und stand nicht vor ganz Trostbüttel als kompletter Idiot dar, weil er von einem Zug erzählte, den sonst niemand sehen konnte.
    Ein … aus …
    Er hatte noch fünf Stunden, bis seine Geschichtsprüfung begann. Danach hatte er es geschafft. Der Lernstress, die Anspannung und der Schlafmangel forderten ihr Tribut. Doch sobald er morgen die Klausur abgab, würde es ihm besser gehen.
    Ein … aus …
    Dann würde er diesen vermaledeiten Zug nie wieder sehen.
    Ein … aus …
    Er würde ein ganz normaler junger Mann sein.
    Ein … aus …
    Mit dem Abi in der Tasche und einer ganzen Welt voll Möglichkeiten vor sich.
    Ein … aus …
    Er würde-
    „Willst du mich hier schon wieder einfach so stehen lassen? Ich kann nur alle zehn Jahre in deine Welt kommen. Ich dachte, das wüsstest du.“
    Torben schlug die Augen auf.
    Vor ihm lehnte der Schaffner aus einer Tür des Zuges. Es war genau wie damals. Der Zug stand mitten im Weg, auf der nächtlichen Hauptstraße Trostbüttels, die er in seiner Schlaflosigkeit entlanggeschlendert war. Der Schaffner trug eine altmodische Uniform, die perfekt zu den Farben des Zuges passte. Er hatte eine Zigarre im Mund und hielt sich mit einer Hand am Türrahmen fest.
    Torben schluckte. Was hatte er falsch gemacht? Normalerweise halfen die Atemübungen. Es hatte ein paar Jahre gedauert, aber inzwischen konnte er sich auf diese Weise immer beruhigen.
    „Komm schon, Junge. Die Feen werden ungeduldig, wenn wir wieder Verspätung haben. Ich muss meinen Fahrplan einhalten.“
    Er würde gleich umkippen, dachte Torben. Wie damals. Oder aus einem bösen Traum erwachen und sich dann in aller Ruhe für die Prüfung fertig machen. Das hier war nicht real. Es geschah nur in seinem Kopf.
    Der Schaffner nahm einen Zug von seiner Zigarre. Dann trat er aus der Tür heraus und sprang auf die gruselig leere Straße.
    Unwillkürlich wich Torben einen Schritt zurück, als er auf ihn zukam.
    „Du hast keine Ahnung, oder?“ Der Schaffner zog die Brauen hoch und sah ihn mit großen Augen an. „Du weißt es nicht.“ Er lachte und schüttelte den Kopf. „Du weißt nicht, dass dein Vater der Feenkönig war.“
    „Was?“
    Torben wollte ihm nicht antworten. Er wollte nicht mit diesem Trugbild interagieren, es nicht realer machen als es war. Aber das, was der Schaffner gesagt hatte, war zu absurd, um die Klappe halten zu können.
    Der Kerl trat seine Zigarre aus und nahm die Schaffnermütze vom Kopf. Er sah Torben so mitleidig an, dass dieser unruhig von einem Bein aufs andere trat.
    „Es ist noch nicht zu spät, weißt du? Zehn Jahre hier bedeuten zehn Monate in der Anderswelt. Sie haben deinen Vater noch nicht gehängt. Du kannst ihn retten. Seinen guten Namen wieder herstellen. Seine Vertreibung rückgängig machen. Vielleicht könnt ihr dann sogar in die Anderswelt zurückkehren.“
    Es war, als hätte ihm jemand ins Gesicht geschlagen. Torben gab sich keine Mühe mehr, seine Atmung zu kontrollieren. Er verstand nicht einmal die Hälfte von dem, was der Schaffner gesagt hatte.
    Doch was er verstand, war genug, dass seine Beine sich in Bewegung setzten. Er dachte nicht einmal darüber nach.
    Wie mechanisch lief er zu der offenen Zugtür und stieg ein.
    Sein Vater lebte noch.
    Es war egal, was der Schaffner von einem Feenkönig oder einer Hängung erzählt hatte. Es zählte nur eins: Sein Vater lebte.
    Ungeduldig drehte Torben sich zu dem Schaffner um, der noch immer auf der Straße stand und den Kopf fragend auf die Seite gelegt hatte.
    „Na los, worauf wartest du noch“, rief Torben ihm zu. „Steig ein!“

  13. Der Zug aus dem Nichts

    Wie aus dem Nichts war er aufgetaucht. Nun stand er da, dampfend und fauchend.
    Torben sah zu den anderen Kindern. Doch keiner außer ihm schien den Zug zu bemerken.
    Er sah aus, als wäre jemand direkt aus der Vergangenheit hierher gereist, nach Trostbüttel, um mitten auf dem Schulweg neben den Tischtennisplatten zum Stehen zu kommen. Dabei gab es hier nicht einmal Gleise.
    Ein Schaffner lehnte sich aus der Tür und winkte. Torben drehte sich um, doch hinter ihm stand keiner. Meinte der etwa ihn?
    „Na los, worauf wartest du noch“, rief der Schaffner, „steig ein!“

    Zehn Jahre war das jetzt her. Torben wusste, dass das nicht wirklich passiert war. Ein psychotischer Schub, hatte man gesagt. Ungewöhnlich in diesem jungen Alter. Aber nach dem Tod seines Vaters, hatte man gesagt, sei es nicht kaum verwunderlich, dass er einen Zusammenbruch erlitt.
    Zehn Jahre. Fünf Klinikaufenthalte. Unzählige Psychopharmaka. Eigentlich müsste Torben geheilt sein.
    Und doch stand der Zug von damals jetzt genau vor ihm.
    Es war die gleiche altmodische Dampflock. Das gleiche schwarze Gehäuse, die gleichen roten Räder und der gleiche Rauch, der aus dem Schornstein über der Fahrerkabine in die Luft stieg.
    Wie angewurzelt stand Torben da. Etwas in seiner Brust zog sich zusammen. Die Hände in seinen Hosentaschen wurden feucht.
    Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein.
    Es sollte doch vorbei sein. Ihm sollte es gut gehen.
    Am liebsten hätte Torben laut geschrien. Stattdessen konzentrierte er sich auf seine Atmung, wie so viele Therapeuten es ihm beigebracht hatten.
    Ein … aus … ein … aus …
    Der Zug war nicht real. Er würde gleich wieder weg sein, sobald er sich beruhigte und die Panikattacke runterschluckte.
    Ein … aus … ein … aus …
    Torben schloss die Augen, um das dampfende Ungetüm vor sich nicht mehr sehen zu müssen.
    Ein … aus …
    Es war ein beschissener Zeitpunkt, um wieder in die alte Krankheit zu verfallen. So kurz vor seinen Prüfungen. Immerhin war er diesmal allein und stand nicht vor ganz Trostbüttel als kompletter Idiot dar, weil er von einem Zug erzählte, den sonst niemand sehen konnte.
    Ein … aus …
    Er hatte noch 5 Stunden, bis seine Geschichtsprüfung begann. Danach hatte er es geschafft. Der Lernstress, die Anspannung und der Schlafmangel forderten ihr Tribut. Doch sobald er morgen die Klausur abgab, würde es ihm besser gehen.
    Ein … aus …
    Dann würde er diesen vermaledeiten Zug nie wieder sehen.
    Ein … aus …
    Er würde ein ganz normaler junger Mann sein.
    Ein … aus …
    Mit dem Abi in der Tasche und einer ganzen Welt voll Möglichkeiten vor sich.
    Ein … aus …
    Er würde-
    „Willst du mich hier schon wieder einfach so stehen lassen? Ich kann nur alle zehn Jahre in deine Welt kommen. Ich dachte, das wüsstest du.“
    Torben schlug die Augen auf.
    Vor ihm lehnte der Schaffner aus einer Tür des Zuges. Es war genau wie damals. Der Zug stand mitten im Weg, auf der nächtlichen Hauptstraße Trostbüttels, die er in seiner Schlaflosigkeit entlanggeschlendert war. Der Schaffner trug eine altmodische Uniform, die perfekt zu den Farben des Zuges passte. Er hatte eine Zigarre im Mund und hielt sich mit einer Hand am Türrahmen fest.
    Torben schluckte. Was hatte er falsch gemacht? Normalerweise halfen die Atemübungen. Es hatte ein paar Jahre gedauert, aber inzwischen konnte er sich so beruhigen.
    „Komm schon, Junge. Die Feen werden ungeduldig, wenn wir wieder Verspätung haben. Ich muss meinen Fahrplan einhalten.“
    Er würde gleich umkippen, dachte Torben. Wie damals. Oder aus einem bösen Traum erwachen und sich dann in aller Ruhe für die Prüfung fertig machen. Das hier war nicht real. Es geschah nur in seinem Kopf.
    Der Schaffner nahm einen Zug von seiner Zigarre. Dann trat er aus der Tür heraus und sprang auf die gruselig leere Straße.
    Unwillkürlich wich Torben einen Schritt zurück, als er auf ihn zukam.
    „Du hast keine Ahnung, oder?“ Der Schaffner zog die Brauen hoch und sah ihn mit großen Augen an. „Du weißt es nicht.“ Er lachte und schüttelte den Kopf. „Du weißt nicht, dass dein Vater der Feenkönig war.“
    „Was?“
    Torben wollte ihm nicht antworten. Er wollte nicht mit diesem Trugbild interagieren, es nicht realer machen als es war. Aber das, was der Schaffner gesagt hatte, war zu absurd, um die Klappe halten zu können.
    Der Kerl trat seine Zigarre aus und nahm die Schaffnermütze vom Kopf. Er sah Torben so mitleidig an, dass dieser unruhig von einem Bein aufs andere trat.
    „Es ist noch nicht zu spät, weißt du? Zehn Jahre hier bedeuten zehn Monate in der Anderswelt. Sie haben deinen Vater noch nicht gehängt. Du kannst ihn retten. Seinen guten Namen wieder herstellen. Seine Vertreibung rückgängig machen. Vielleicht könnt ihr dann sogar in die Anderswelt zurückkehren.“
    Es war, als hätte ihm jemand ins Gesicht geschlagen. Torben gab sich keine Mühe mehr, seine Atmung zu kontrollieren. Er verstand nicht einmal die Hälfte von dem, was der Schaffner gesagt hatte.
    Doch was er verstand, war genug, dass seine Beine sich in Bewegung setzten. Er dachte nicht einmal darüber nach.
    Wie mechanisch lief er zu der offenen Zugtür und stieg ein.
    Sein Vater lebte noch.
    Es war egal, was der Schaffner von einem Feenkönig oder einer Hängung erzählt hatte. Es zählte nur eins: Sein Vater lebte.
    Ungeduldig drehte Torben sich zu dem Schaffner um, der noch immer auf der Straße stand und den Kopf fragend auf die Seite gelegt hatte.
    „Na los, worauf wartest du noch“, rief Torben ihm zu. „Steig ein!“

  14. Die Anmache
    Anton blickte auf. Was war das denn gewesen?
    «Na, Süßer», wiederholte die Stimme.
    Doch Anton begriff nicht, woher sie kam. Er wandte seinen Kopf von links nach rechts. Seine Augen hatte er zusammengekniffen, da ihn die Sonne blendete.
    Von den Sonnenstrahlen eingerahmt entdeckte er sie. Das gleisende Licht, das ihre blonden Locken aufleuchten ließ, erinnerte ihn an einen Engel mit Heiligenschein.
    Ihre Stimme ertönte erneut, als sie sich auf ihn zubewegte und in den Schatten des Sonnenschirms trat.
    «Süßer! Erkennst du mich nicht?» Ihr herzliches Lachen ließ ihr Gesicht erstrahlen.
    Antons Gehirn lief auf Hochtouren. Wer zur Hölle war sie? Die Stimme und diese Grübchen … er kannte sie. Aber woher?
    «Hallo?! Hat es dir die Sprache verschlagen?» Frech grinsend hatte sie ihm gegenüber ungefragt auf dem leeren Stuhl Platz genommen, schob seine halbvolle Kaffeetasse zur Seite und bestellte bei der gerade vorbeilaufenden Bedienung einen Milchkaffee.
    Die Gehirnwindungen in Antons Kopf glühten. Wer war diese schöne Unbekannte? Nein, unbekannt war sie ja nicht!
    Sie drehte sich wieder in Antons Richtung und wickelte dabei eine Locke um ihren Zeigefinger.
    Da fiel der Groschen endlich! Natürlich!
    «Anne?!» Sein Mund war trocken und seine Stimme ganz rau, als er ihr tief in ihre blauen wunderschönen Augen sah.
    «Na, das hat ja ewig gedauert, bis du mich erkannt hast! Bin ich in den letzten fünfzehn Jahren so gealtert?» Fröhlich lachte Sie und wickelte dabei unaufhörlich die eine Locke um ihren Zeigefinger.
    «Nein! Du siehst umwerfend aus. Sind es wirklich schon fünfzehn Jahre seit unserem Abitur?»
    «Ja! Verrückt wie die Zeit vergeht, oder nicht?» Sie plapperte weiter und erzählte von ihrem abgebrochenen Studium, ihrer Weltreise und dass sie ganz überrascht gewesen war, ihn hier in ihrem alten Stammcafé zu sehen.
    Anton hing an ihren Lippen und konnte es nicht fassen, dass sie ihm hier gegenübersaß. Das ganze letzte Jahr vor dem Abitur hatte er sie angehimmelt und war unsterblich in sie verliebt gewesen. Den Mut, ihr von seinen Gefühlen zu erzählen, hatte er nie aufbringen können. Und dann … dann war sie plötzlich verschwunden gewesen.
    Jetzt schien es ihm wie ein Geschenk des Himmels, dass sie wieder in sein Leben getreten war. Er sehnte sich nach einer Frau an seiner Seite. Der Schmerz über den tragischen Unfalltot seiner Frau im letzten Jahr war endlich erträglich geworden.
    Anne knuffte ihn in die Seite und trällerte fröhlich: «Hey? Hörst du mir überhaupt zu? Sorry, ich plappere schon wieder zu viel!»
    «Nein, nein. Entschuldige. Ich bin ganz Ohr. Dich hat es nach der großen weiten Welt nun also wieder in die alte Heimat verschlagen?»
    Sie unterhielt sich, bis der Kellner anfing die Stühle an den Nachbartischen nach oben zu stellen und bereits die Lichter im Inneren ausgeschaltet wurden.
    Anton wusste eines … dieses Mal würde er mutig sein und sie nicht für immer gehen lassen.

  15. Eine besondere Hausaufgabe

    «Und nun die Hausaufgabe!», rief der Philosophielehrer begeistert. «Führt bis nächste Woche mit mindestens fünf Personen eurer Wahl ein Interview zum Thema Glück!» Lisa stöhnte. Hausaufgaben?! Doch in Gedanken ging sie bereits Nachbarn, Freunde, Bekannte und Verwandte durch. Wen könnte sie um ein Interview bitten? Wie den Fragenkatalog aufbereiten, um eine Vergleichbarkeit der Antworten zu ermöglichen. Und wie würden die Antworten wohl lauten?

    Obwohl sie unmittelbar damit begonnen hatte, die gestellte Aufgabe im Kopf zu bewegen, bereute Lisa, sich in dem Kurs eingetragen zu haben. Sie wollte so wenig Zeit wie möglich darauf verwenden, schließlich hatte sie sich nicht aus Interesse eingeschrieben, sondern einzig auf Madeleines Drängen. Die hatte die Philosophie-Vorlesungen im vergangenen Semester belegt – und war nachhaltig begeistert.
    Zu Madeleine passte das einfach. Sie war kommunikativer. Und durchlässiger für Themen wie das Wesen des Seins oder die Ethik. Madeleine wurde nicht müde, ihr wortreich davon vorzuschwärmen. “Lisa, Du musst diesen Kurs besuchen! Wirklich. Der Professor ist einzigartig. Eloquent und geistreich. Und er führt die Studierenden ganz unbemerkt und irgendwie zufällig an die großen Fragen heran, die die Menschheit von jeher beschäftigen und faszinieren: Sinn des Lebens, menschliche und göttliche Existenz. Das Universum. Freude, Glück. Er ist einfach grandios – und hat in seinen Vorlesungen noch jeden Empiriker geknackt!” Dabei lachte sie herzlich. “Ich bin sicher, er wird auch Dich begeistern und es wird Dir gut tun, Dich mal von Deinen Statistiken und Daten zu lösen und eine neue Sicht auf die Welt kennenzulernen. Bin gespannt, welche neuen Erkenntnisse du gewinnen, verzeih, generieren kannst.” Dabei zwinkerte sie aufmunternd. Madeleine war überzeugend und Lisa alsbald in die Kursliste eingetragen.
    Tatsächlich war Professor Maadson großartig. Charismatisch. Belesen. Und seine Vorlesungen, die Lisa bisher besucht hatte, waren weit interessanter und inspirierender, als sie vermutet hätte. Aber Hausaufgaben?! Schnellstmöglich wollte sie den lästigen Arbeitsauftrag hinter sich bringen und fertigte gleich nach Rückkehr in ihre Studenten-WG einen Interview-Plan. Sorgfältig trug sie Wochentage, potentielle Ansprechpartner und Gesprächszeiten in eine Tabelle und ergänzte in Stichpunkten, was sie sich von den einzelnen Interviews erhoffte. Erster Kandidat war ein Mitbewohner im Studentenwohnheim, dessen Zusage sie bereits am Vormittag auf dem Campus eingeholt hatte. Sie notierte “Marius/Treffen, heute/18.30, WG“, danach folgte: “Mama/anrufen, morgen/14.15, anschließend: Oma/Pflegeheim (Kuchen besorgen!), Madeleine/Treffen, Mittwoch, 18.00/Brasserie, Fr. Sauter/Mensa-Leitg., Donnerstag, 15.30/Mensa“. Lisa schätzte Frau Sauter sehr. Augenscheinlich managte sie ihre zahlreichen Aufgaben immer unverdrossen, war fröhlich und zugewandt, hatte immer ein nettes Wort auf den Lippen. Sie strahlte irgendwie etwas Glückliches aus und schien Lisa damit perfekt für ein Interview.
    Lisa blickte auf ihre Armbanduhr, legte die Tabelle zur Seite, griff Stift und Notizblock und marschierte über den Flur hinüber zu Marius. Er öffnete im zerknitterten Leinenhemd die Zimmertür, bat Lisa herein und reichte ihr eine Büchse Bier. Mit leisem Zischen öffnete er eine weitere Büchse, die er in großen Zügen hinunter stürzte.
    “Tja, Lisa, was soll ich Dir erzählen, über das Glück? Für mich bedeutet es, dass ich mein Abitur trotz aller Widrigkeiten durchgezogen und geschafft habe.” Marius grinste breit. “Und dass ich meinen Erstwahl-Studienplatz bekommen habe. Das war bis zum Schluss alles andere als sicher.” Marius verdrehte die Augen und erzählte Lisa all die Geschichten und Anekdoten, die ihm widerfahren waren, bis er endlich seine Abiturprüfungen schreiben konnte. Vom Snowboardunfall, gleich zu Beginn der Oberstufe, der ihn – schwerverletzt – für viele Monate aus dem (Schul-)Verkehr gezogen hatte, von schlechten Leistungen und Klausuren, von körperlichen und seelischen Hochs und Tiefs und von der Trennung seiner Eltern während der Prüfungsphase. Marius berichtete von seinen Anstrengungen, trotz mittelmäßigem Notenschnitt an eben dieser Uni angenommen zu werden und von dem Glück, das ihn durchströmte, als er die Aufnahmebestätigung in seinen Händen hielt.
    Lisa kritzelte eifrig in ihr Notizbuch. “Ich denke, Glück hat vor allem mit dem Erkennen zu tun, dass Vieles nicht so selbstverständlich ist, wie wir es meist nehmen“, resümierte Marius. “Wie auch immer, ich muss langsam wieder los, Lisa. Ich hoffe, meine Antworten helfen Dir bei deiner Hausarbeit?! Falls Du mal mit jemandem sprechen willst, der weiß wie sich das richtige Glück anfühlt, stelle ich dir gerne Johann vor. Johann ist ein Kumpel von meinem Vater und hat neulich groß abgeräumt in irgendeiner Lotterie.” Lisa zögerte. Das war so in ihrem Interview-Plan nicht vorgesehen – und sie bearbeitete ihre Aufgaben gerne konzentriert und der Reihe nach. “Ach was soll’s – prima Gelegenheit für ein Interview mit jemanden, der richtig Glück hatte!” entschied sie spontan und sagte zu Marius gewandt: “Sehr gern, klingt toll. Könntest Du es kurzfristig arrangieren?” Damit verabschiedeten sie sich und Lisa ging hinüber in ihr Zimmer, wo sie ihre Notizen in ihren Laptop übertrug und das Gespräch mit einem kleinen Häkchen in der Tabelle versah.
    Am darauffolgenden Tag brach sie direkt nach den Vorlesungen mit ihrem Fahrrad auf zu der Adresse, die Marius ihr geschickt hatte. Bald schon stand sie vor einem hübschen Einfamilienhaus am Rande der Stadt. “Hallo, ich bin Johann, schön Dich kennenzulernen, Lisa“, begrüßte ein hochgewachsener Mann mit leicht ergrautem Haar sie am Gartentörchen. “Marius erzählte, Du schreibst eine Hausarbeit über das Glück? Nun, das scheint mich auf den ersten Blick tatsächlich getroffen zu haben”, er lachte. “Doch auf den zweiten eher ein oberflächlicher Streifschuß, möchte ich sagen. Aber komm erstmal rein!” Bei einer Tasse duftenden Kaffee stellte Lisa ihre Fragen: was Glück für Johann bedeute, ob er seinen Lotteriegewinn als Glück bezeichnen würde oder eher das, was er sich damit leisten und verwirklichen könne.
    Johann erzählte von den Dingen, die sich seither für ihn verändert hatten, von vielen Problemen und Schwierigkeiten, die er durch das viele Geld hatte lösen können, doch irgendwann verdunkelte sich sein Blick. “Weißt Du, Lisa, vieles ist einfacher, wenn Du viel Geld hast. Doch das bedeutet nicht unbedingt, dass Du glücklich bist.“ Damit kam er auf seine Schwester Maria und ihren fünfjährigen Sohn Leon zu sprechen, der schwer an Leukämie erkrankt war. “Mit all meinem Geld kann ich hier nichts ausrichten. Reich sein bedeutet nicht zwangsläufig ‘Glück’.”
    Johann schlug Lisa vor, sich mit seiner Schwester Maria zu treffen und bemerkte, dass Lisa zögerte. Schnell fuhr fort: “Es tut Maria gut, darüber zu sprechen. Sie geht offen mit diesem Schicksal um. Ich könnte mir vorstellen, dass sie gerne ein Interview mit Dir führen würde. Ich rufe sie später an, wenn du möchtest?” Lisa nickte verhalten. Nachdem sie sich von Johann verabschiedet hatte, fühlte sie sich beklommen. Und die Dinge, die er über das Glück erzählt hatte, hallten nach in ihr.
    Im Studenten-Wohnheim angekommen, strich sie den Namen ihrer Mutter und Oma in der Tabelle durch, überschrieb sie mit “Johann” für den heutigen und mit “Maria” für den folgenden Tag. Sie setzte sich an ihren Laptop und hielt alles fest, was Johann ihr erzählt hatte. Kurz darauf piepte ihr Handy, um den Eingang einer neuen Nachricht anzuzeigen. “Liebe Lisa. Maria freut sich, dich zu treffen und ein Gespräch mit Dir zu führen. Du kannst morgen ab 15.00h zu ihr kommen, wenn das für Dich passt? Die Anschrift lautet: Kinderhospiz ‘Arche’, Am Waldrand 10-21, Hamburg. Anbei ihre Handynummer, falls Du den Termin verschieben möchtest!” Die Zahlen verschwammen vor Lisas Augen, die sich unbemerkt mit Tränen gefüllt hatten. Sie legte ihr Telefon zur Seite, um ihre Aufzeichnungen zu beenden, klappte den Laptop jedoch wieder zu und brühte sich stattdessen einen Kräutertee. Lisa war zerrissen, den Termin wahrzunehmen. Zwar wollte sie Johanns Schwester gerne treffen, doch war sie unsicher, ob sie dem gewachsen war und ob sie an einem solchen Ort ein Gespräch über ‘Glück’ würde führen können. Es fühlte sich irgendwie falsch an für sie.
    Der nächste Morgen war vorlesungsfrei und Lisa übertrug die restlichen Aufzeichnungen ihres Gesprächs mit Johann. Anschließend öffnete sie die Website der “Arche”, die in zarten Pastelltönen gehalten war. Vieles, das sie dort las, stimmte sie traurig. Doch zugleich konnte sie all die Liebe und Zuwendung spüren, die aus den offenen und ehrlichen Worten hervorging.
    Schnell schickte sie eine Kurznachricht an Maria, um die Verabredung zu bestätigen und machte sich alsbald auf den Weg, sie persönlich kennenzulernen.
    Die weißlasierte Zimmertür wurde von innen geöffnet, kurz nachdem sie leise angeklopft hatte. Ihr gegenüber stand eine zarte Frau die sich ihr als Maria vorstellte. Sie hatte lange dunkle Haaren, die sie zum Zopf zusammengebunden hatte. Maria wirkte zerbrechlich und müde, doch gleichzeitig sehr stark. Sie schaute Lisa direkt in die Augen und streckte ihr mit einem Lächeln im Gesicht die Hand zur Begrüßung entgegen. Marias Händedruck war fest und verbindlich. Es war von Beginn an ein herzliches Gespräch, das sie miteinander führten, offen und intensiv. Leon lag unter einer aufgeplusterten Daunendecke, atmete tief und regelmäßig: er schlief ganz fest. Maria sprach leise über die Dinge, die sie früher als “Glück” bezeichnet hatte: dass ihre kunstvolle Steckfrisur den Regenschauer überstanden hatte, dass es ihr gelungen war, die letzten Flugplätze nach Spanien zu ergattern. Dass die Milch nicht übergekocht war, die sie für einen Moment auf dem eingeschalteten Herd vergessen hatte. Oder dass sie es geschafft hatte, das Chaos im Haus zu besiegen und für einen kurzen Augenblick Ordnung herrschte.
    “Zwar sind es tatsächlich oft die kleinen Dinge, die Glück bedeuten, doch es geht viel tiefer als ein geputztes Haus oder ein neuer Pullover. Heute bedeutet Glück für mich, dass es hier im Hospiz nicht unsere Zimmertür ist, vor der eine Kerze angezündet wird als Zeichen, dass der kleine Bewohner dieser Stube gegangen ist. Glück ist für mich jeder Morgen, an dem ich mit Leon noch einmal hinausgehen kann in den weitläufigen Park. Wenn er mich fragt, welcher Vogel da gerade singt und immer wieder darüber lachen kann, dass es stets ‘die Amsel’ ist, egal wie der Vogel klingt. Oder wie er aufmerksam den glänzenden Käfer betrachtet, der auf seinem kleinen Händchen gelandet ist. In diesen Momenten empfinde ich tiefes Glück. Und tiefe Demut, vor dem Leben und dem Tod. Dankbarkeit für die Zeit, die wir miteinander hatten und jeden Augenblick, den wir noch haben. Ich denke, diese Empfindungen sind untrennbar miteinander verwoben: Glück und Demut und Dankbarkeit!” Entgegen ihrer sonstigen Arbeitsweise hatte Lisa längst aufgehört, mitzuschreiben. Es lenkte sie ab und sie wollte sich unbedingt auf jedes einzelne Wort konzentrieren, das Maria sagte. Über ihr Gespräch war es Abend geworden. Freundschaftlich verabschiedeten sich die beiden Frauen und Lisa verließ tapfer das kleine Zimmer, in dem Leon noch immer fest schlief. Erst, als sie den langen Gang zum Ausgang des Hospiz hinunterlief und zwei brennende Kerzen vor zwei weißlasierten Zimmertüren entdeckte, brach sie in lautes Weinen aus.
    Zuhause angekommen, war ihr überhaupt nicht danach zumute, auch nur einen Satz aufzuschreiben. Wieder und wieder erschien ihr in Gedanken das freundliche, traurige Gesicht der Mutter, die ihr Kind in den Tod begleitete und jeden einzelnen Tag davon als Glück bezeichnen konnte. Irgendwann schlief sie über ihre Gedanken ein.
    Erst bei Durchsicht ihrer Notizen am nächsten Vormittag erinnerte sich Lisa an Frau Daume, von der ihr Maria erzählt hatte: Eine alte Dame, die sie seit mehr als drei Jahren im Alltag betreute. Obwohl sie im Pflegeheim lebte, erledigte Maria kleine Besorgungen mit Frau Daume, half ihr bei der Körperpflege und leistete ihr so manchen Nachmittag Gesellschaft. Maria hatte Lisa vorgeschlagen, Frau Daume über das Glück zu befragen, blickte diese doch auf ein langes Leben und einen reichen Erfahrungsschatz zurück. Lisa war längst nicht nach einem weiteren Interview zumute, trotzdem fingerte sie ihr Telefon aus der Jackentasche und wählte die Nummer, die Maria ihr aufgeschrieben hatte. Bereits nach dem ersten Läuten hob Frau Daume ab – und Lisa war kurz überrascht, dass sie den Grund ihres Anrufes bereits kannte. “Maria hat mich gestern Abend angerufen und informiert”, erklärte Frau Daume, “Ich freue mich sehr auf Ihren Besuch, Lisa. Wann darf ich mit Ihnen rechnen?”
    Schnell war die Verabredung getroffen und Lisa machte sich auf den Weg zur Universität. Nach der letzten Vorlesung stieg sie in den Bus, der sie ans andere Ende der Stadt brachte. Von der Haltestelle waren es nur wenige Gehminuten zur Pflegeeinrichtung von Frau Daume. Hübsch frisiert, im dunklen Faltenrock und dezent gemusterter Bluse, saß sie an dem kleinen Holztisch vor dem Fenster und erwartete Lisa. Höflich stellten sie einander vor und Lisa erklärte ihr noch einmal, was sie vorhatte und wofür. Frau Daume lächelte. “Das Glück lebt und atmet, Kindchen”, begann sie mit brüchiger Stimme. “Es verändert sich, so wie das Leben selbst.“ Frau Daume erzählte von Krieg. Von all den Entbehrungen, die sie und ihre Familie hatten erleiden müssen. Und dem kleinen Glück, einen Acker zu entdecken, auf dem sie Kartoffeln sammeln und davon einige Wochen leben konnten. Sie erzählte von Abschied und Tod – und dem Glück, dass sie empfand, als ihr Mann irgendwann aus Gefangenschaft zurückkehrte. Und von ihrer Einsamkeit, seit er vor einigen Jahren verstorben war. Im Verlauf des Nachmittags entführte Frau Daume Lisa auf eine Reise durch ein langes Leben, das sich allmählich dem Ende entgegen neigte. Und trotzdem strahlten ihre Augen, als ihre Erzählungen irgendwann bei ihrer Urenkelin endeten, die sie dann und wann besuchen kam – und die nun ihr größtes Glück war. “Sie werden Jana noch kennenlernen, Lisa. Meine Enkelin bringt sie später vorbei. Darauf freue ich mich sehr! Noch ein Stück Kuchen?” Lisa bejahte und die beiden Frauen saßen einen Augenblick schweigend nebeneinander. “Glück ist Ihrer Auffassung nach also nicht statisch, sondern beweglich?” fasste Lisa noch einmal zusammen, was sie all den Schilderungen entnommen hatte. “So ist es, Lisa. So beweglich, dass es uns entgleitet, wenn wir versuchen, es festzuhalten!” Die alte Dame lächelte. Da klopfte es leise an ihre Zimmertür, die schon im selben Augenblick aufgestoßen wurde. Ein kleines Mädchen stürmte herein und flog Frau Daume entgegen. “Uromeliiii” rief es vergnügt und schlang seine kurzen Ärmchen fest um Frau Daumes runzeligen Hals. “Langsam, langsam, Du kleiner Wirbelwind”, lachte Frau Daume und Lisa, die die Situation beobachtete, fuhr es durch den Kopf “ja, das ist das Glück!”
    Hinter dem Mädchen war eine junge Frau eingetreten, die schwer an einem mächtigen Babybauch trug. „Hallo, ich bin Christin, Mutter von Jana“, stellte sie sich vor “und meine Enkeltochter”, beendete Frau Daume stolz den Satz. Es war schöne Atmosphäre, hier in dem hübschen, kleinen Zimmer, in dem gerade drei Generationen versammelt waren. Während die Damen nett miteinander plauderten, saß Jana zu ihren Füßen auf dem Teppichboden und war völlig versunken in ihr Spiel mit den kleinen Holzfiguren, die Frau Daume in einem großen Karton unter dem Bett aufbewahrte und jetzt für ihre Urenkelin hervorgezogen hatte. “Entschuldigung Christin, ob ich Ihre Tochter Jana kurz zum Thema Glück befragen dürfte?” “Ich bitte Sie, Lisa, selbstverständlich dürfen Sie!! Ich bin sehr gespannt, was Ihnen meine Tochter antworten wird!” Lisa hockte sich neben Jana auf den Fußboden, um in das Spiel mit den Holzfiguren einzusteigen. Sie schnappte sich ein kleines Holztier, bewegte es vorwärts und ahmte dabei das Geräusch von Pferdehufen auf Asphalt nach. Jana blickte überrascht auf und rief empört “hey, das ist ein Schwein!” Sie alle lachten laut auf und Lisa entschuldigte sich bei Jana für ihre Unwissenheit. “Du Jana, sag mal, was bedeutet Glück für Dich?”, fragte Lisa die spielende Vierjährige. “Dass ich eine Uromeli habe, die ich immer besuchen kann, wann ich will und so viel Schokolade und Kakao bekomme, wie ich mag!” kam prompt ihre Antwort. Frau Daume lachte. Lisa lachte. Und Christin.
    Als Lisa an diesem Abend nach Hause kam, kramte sie zum ersten Mal seit Tagen ihren Interview-Plan hervor und legte ihn vor sich auf den Tisch. Sie musste unwillkürlich lächeln, als sie erkannte, wie wenig sie sich an ihre Tabelle gehalten hatte. Von der ursprünglichen Planung war nur Marius geblieben, alle anderen Gesprächspartner hatte sie nach und nach durchgestrichen und durch andere ersetzt. Gleiches galt für ihre Notizen, die sie zur Vorbereitung fein säuberlich in die letzte Spalte eingetragen hatte, weil sie ihr Stütze sein sollten, die jeweiligen Interviews zu führen. Nun war alles anders gekommen, sie hatte laufen lassen. “Das eine Glück gibt es nicht” begann Lisa nun mit ihrer Hausaufgabe.
    Als sie ihr Laptop zuklappte, wurde es bereits hell draußen. Sie war zufrieden mit ihrer Ausarbeitung, die sie mit der Feststellung beendete: “…und möchte – wie im Wörterbuch beschrieben – festhalten, dass Glück tatsächlich ein ‘Ergebnis des Zusammentreffens besonders günstiger Umstände ist’. Was diese jedoch auszeichnet, obliegt individuellen, ganz subjektiven Lebensumständen, Wahrnehmungen und Erfahrungen. Das Glück liegt auch im Kleinen, doch kommt es stets von innen. Es ist ein innerer Zustand, der sich maßgeblich unterscheidet von dem flüchtigen, rasch vergänglichen Gefühl, etwas anzuschaffen oder zu besitzen. Das ist Freude, nicht Glück. Glück atmet. Glück lebt.”
    Professor Maadson trat an Lisas Pult und überreichte ihr die kartonierte Mappe, die sie vor dem Wochenende in sein Postfach eingeworfen hatte. “Ich habe Ihre Hausarbeit mit Begeisterung gelesen, Lisa, sie ist nicht nur gut und ausgewogen, sie ist sehr berührend. Die Auswahl Ihrer Interviewpartner ist facettenreich und sehr speziell, Ihre Schlussfolgerungen sind überzeugend. Allerdings möchte ich Ihnen abschließend gerne eine Frage stellen.” “Ja natürlich”, gab sie schnell zurück. “Was bedeutet Glück für Sie, was verstehen Sie darunter?” Lisa überlegte. So intensiv hatte sie sich in der vergangenen Woche mit dem Glück auseinandergesetzt, darüber gesprochen, nachgefragt und zugehört. Vieles hatte sie tief berührt und sich nachhaltig in ihre Gedanken eingegraben. Und doch war ihr nicht aufgefallen, dass sie selbst sich diese Frage nicht beantwortet hatte.
    Lange Sekunden verstrichen. Der Professor blieb gelassen. Unaufgeregt. Wartete geduldig ab, während Lisa ihre Gedanken zu sortieren versuchte. “Glück bedeutet für mich, sich auf Dinge außerhalb der eigenen Erfahrungswelt einzulassen und sich selbst nicht zu beschränken. Das macht das Leben wertvoll und unerwartet. Das ist mein Glück“, antwortete Lisa mit einem Lächeln im Gesicht, das ein klein wenig weise war.

  16. Eine besondere Hausaufgabe (Geschichten über das Glück)
    «Und nun die Hausaufgabe!», rief der Philosophielehrer begeistert. «Führt bis nächste Woche mit mindestens fünf Personen eurer Wahl ein Interview zum Thema Glück!»
    Anja stöhnte. Noch eine Aufgabe! Doch im Kopf ging sie schon Nachbarn, Freunde, Bekannte und Verwandte durch. Wen sollte sie um ein Interview bitten? Ein paar Leute fielen sofort als Interviewpartner raus. In ihrer WG würde sie ganz sicher nicht fragen. Da wäre wieder mindestens eine ganze Nacht weg – und ob sie die durcheinander geredeten Gedanken überhaupt zu Papier bringen könnte, war mehr als fraglich.
    Ihre Eltern könnte sie fragen. Oder weiß sie deren Antwort schon? Sollte sie die beiden Interviews faken? Dann bräuchte sie nur noch drei. Aber da sie am Wochenende sowieso nach Hause fahren wollte, würde sie mit ihren Eltern sprechen. (Das Wort „Interview“ kam ihr in Verbindung mit „Eltern“ extrem unangenehm vor.) Sie könnte, nein, muss auch noch Tia, ihre beste Freundin fragen. Und Paul??? Das wäre doch endlich mal eine Gelegenheit, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Dieser hübsche, große Kerl mit seinen langen dunklen Haaren, der montags immer in der Bibliothek saß – sie riss sich von dem Bild los und überlegte, dass sie wegen eines guten Altersquerschnitts der Interviewpartner auch noch Frau Sauer von der Wohnung im Erdgeschoss fragen könnte. Sie nannte sie in Gedanken immer Omi. Manchmal hatte Anja ihr beim Tragen von Einkäufen geholfen und danach bei ihr eine Tasse Kaffee trinken „müssen“ und bei dieser Gelegenheit wurde oft über früher philosophiert. Aber Frau Sauer war zum Glück nicht von der Kategorie: Früher war alles besser! Zum Glück – das passte. Wenigstens war es Anja nicht so schwergefallen, die Auswahl zu treffen.

    Am Sonntagabend traf Anja beschwingt wieder in ihrer WG ein. Die Gespräche über Glück mit ihren Eltern waren unerwartet tief und schön gewesen. Sie freute sich, morgen nach dem ersten Seminar Tia zu treffen und mit ihr bei einem Cappuccino die Philosophieaufgabe zu bequasseln. Außerdem wird sie dabei noch die neuesten Infos zu den bevorstehenden Erstsemesterbegrüßungspartys bekommen, die ab nächster Woche starten werden. Im Moment lief alles und mit diesem guten Gefühl plante Anja nun den aufregendsten Teil ihrer Interviewreihe: Paul. Sie würde ihn am Nachmittag in der Bibo suchen und ihn einfach ansprechen. Zu Frau Sauer könnte sie dann am Dienstag noch gehen und somit war ihre To- do-Liste schon viel kürzer.

    Professor Müller kam wieder einmal zu spät. Das verlängerte die Zeit, in der alle über ihre Interviewerfahrungen berichteten. Allen voran: Stichi, eigentlich Klara Stichlik. Diese stetige Beststudentin ging Anja nun schon über zwei Semester gegen den Strich. Immer aufgeregt, immer nur mit Lernaufgaben beschäftigt, immer diese Untertreibungen („Ich habe gar nicht so viel gemacht / geschrieben / gelernt“), die nur bedeuteten, dass sie besonders viel gearbeitet hatte und ihr Geschnatter nur betonen wollte, wie gut sie war. Das ging so weit, dass sie die Lehrer und Professoren sogar auf Hausaufgaben ansprach, wenn diese sie nicht am Anfang der Seminare abfragten oder vielleicht zu vergessen „drohten“. Mit diesem Gehabe hatte Stichi schon den einen oder anderen Kommilitonen in unangenehme Situationen gebracht.

    Naja, heute würde das Anja kalt lassen, sie war vorbereitet, wenn sie auch seit Montag nicht mehr scharf darauf war, ihre Interviews zu präsentieren.
    Als Professor Müller kurz vor Ablauf des akademischen Viertels im Seminarraum erschien und erwartungsvoll seine Studenten ansah, tippte Stichi aufmerksamkeitsheischend auf ihrem Laptop herum. Anja widerstand dem Impuls, nachschauen zu wollen, was Stichi da schrieb, sie stellte sich vor, dass das nicht mehr als eine Reihe von Y oder anderer Buchstaben sein konnte. Stichi wollte ganz sicher ihre Hausaufgabe zuerst vorzutragen. Prof Müller verstand dies und bat „Fräulein Stichlik“ zu beginnen.
    Stichi hatte ebenfalls ihre Eltern als Interviewpartner gewählt, dann noch ihren älteren Bruder und ihre Tante und eine Freundin. „Na, mal sehen!“, dachte Anja und nahm sich vor, vorurteilsfrei zuzuhören. Schon nach den ersten Worten ging dieser Vorsatz den Bach hinunter. Anstatt mit den Interviews zu beginnen, fasste Stichi erst einmal alle Definitionen, die sie in diversen Medien zum Thema Glück gefunden hatte, zusammen. Das machte Anja fertig. Dieses: „Ich bin besser als ihr!“ Natürlich hatten vermutlich alle Kommilitonen genau damit angefangen, aber niemals hätte irgendjemand, den Anja kannte, derart anmaßend und, was den Umfang betraf, zeitfordern damit begonnen. Nun wurde es sogar Prof. Müller zu viel. „Kommen Sie bitte zu den Interviews und danach zu ihrem Fazit, Klara“, bat er. Wenn es überhaupt noch einen Grund gebraucht hätte, Stichi nicht zu mögen, dann kam er jetzt: „Fazit??? Ich habe kein Fazit ausgearbeitet. Sie sagten doch nur, wir sollen Interviews durchführen!“ Es fehlte nur noch, dass Stichi anfing zu heulen. Anja merkte, wie nicht nur ihr so langsam der Geduldsfaden riss.
    „Klara, tragen Sie uns jetzt doch bitte die Ergebnisse Ihrer Interviews vor und versuchen Sie, kurz zu formulieren, was Sie daraus gelernt haben. Vergessen Sie dabei Ihre gefundenen Definitionen und nehmen Sie die Aufgabe mal ganz persönlich.“
    Das saß! Anja freute sich über die Anweisung des Professors, wie wohl jeder im Raum. Stichi sammelte sich. Sie war wohl nervig, überehrgeizig, aber blöd war sie nicht. Manch einer hätte an dieser Stelle vielleicht aufgegeben, nicht so Stichi. Sie fasste ihre Interviews sachlich zusammen und was sie da sagte – sorgte für eine unheimliche Stimmung bei Anja und wenn sie so in die Gesichter der anderen schaute, auch bei der Mehrzahl der Anwesenden. Anjas Widerwillen gegen Stichi verwandelte sich in Mitleid.
    Anja verglich die Gespräche mit ihren Eltern mit denen von Stichi. Bei Stichi waren es wirklich Interviews. Die Sachlichkeit und Distanz, die dieses Wort „Interview“ beinhaltete und die Anja im Zusammenhang mit ihren Eltern gestört hatte, die war bei Stichi völlig normal! Da ging es nur um Leistung, der beste, erfolgreiche Papa, der die besten Kinder großgezogen hat, die Abiturnote, die natürlich nur bei 1,0 liegen durfte, das Studium, welches selbstverständlich bis zur Promotion fortgesetzt werden muss, … Glück ist gleich intellektuelle Leistung.
    „Oh mein Gott“, dachte Anja, „kein Wunder, dass Stichi so ist, wie sie ist.“ Vater, Mutter Bruder, Tante und in Ansätzen sogar die Freundin – alle hatten Glück dahingehend empfunden, dass man ehrgeizig seine Karriere aufbauen müsse und Glück es sei, wenn man es allen zeigt und alle genau so denken und handeln. Unwillkürlich schüttelte Anja den Kopf. Professor Müllers Blick ruhte eine Weile auf ihr, sodass Anja befürchtete, dass sie jetzt vortragen müsse. Erstaunlicherweise aber fragte er jetzt Leon, wie dessen Interviews ausgefallen wären. Das sorgte für eine guttuende Erleichterung. Denn wenn Easy Going eine Personifikation gebraucht hätte, dann wäre es Leon. Seine Interviewpartner bestanden

    hauptsächlich aus Kumpels, seiner Freundin und einer Oma. Und seine sorglose und humorvolle Art, die Gespräche – Anja registrierte schon wieder den Unterschied in der Wortwahl – zusammenzufassen, vertrieben Stichis steife Darstellungen und als Leon mit einem großen Schalk im Nacken resümierte, dass Glück für seine Befragten wäre, dass es ihn gäbe, lachte sogar Prof. Müller mit den Anwesenden.
    Anja lachte auch, und obwohl Eigenlob nicht unbedingt als Ergebnis der Aufgabe zu erwarten gewesen war, gab es nichts dagegen einzuwenden, hatte es Leon doch mit wenigen Sätzen geschafft, die steife Stimmung nach Stichi aufzulösen.
    „Sie haben jetzt 15 Minuten Zeit, sich Interviews Ihrer Kommilitonen anzuschauen. Wenn es jemandem im Raum unangenehm ist, dann muss er seine Aufzeichnungen auch nicht teilen und wenn jemand noch schnell Teile anonymisieren will, dann kann er das gern tun.“ Zunächst passierte nicht allzu viel, dann aber scholl der Geräuschpegel im Raum an. Man lachte, diskutierte, verglich. Anja schaffte in der Viertelstunde nur je ein Interview von vier Mitstudenten. Erstaunlich, wie unterschiedlich und gleich in einem die Ansichten über Glück doch waren.
    Ein Klopfen auf den Tisch von Prof. Müller signalisierte das Ende der Arbeitszeit. Die Gespräche und Witzeleien hörten auf. Stichi meldete sich. „Darf ich zusammenfassen?“
    „Klara, ich möchte keine Zusammenfassung im klassischen Sinn. Ich möchte, dass Sie nun alle eine Metapher, ein Bild, ein Gleichnis entwerfen, dass Ihre ganz persönliche Sichtweise auf „Glück“ für alle deutlich macht“, stellte Prof. Müller klar. „Machen Sie sich Notizen, damit Sie Ihre Gedanken folgerichtig darstellen können. Ich denke, fünf bis zehn Minuten sollten hier reichen.“
    Stille. Damit hatte niemand gerechnet. Nur vereinzelt tippte jemand ein paar Wörter. Auch Anja war von der Aufforderung überrascht. Doch, als ob die Sonne hinter den Wolken hervorkäme, entwickelte sich ein Bild in ihr. Schnell flogen die ihre Finger über die Tastatur. Egal, ob groß oder klein, ob Tippfehler, ob mit oder ohne Satzzeichen, sie musste es ganz schnell festhalten, dieses Bild. Und als Prof. Müller das Ende der Arbeitszeit anmahnte, war es zum ersten Mal Anja, die sich sofort meldete – und auch antworten durfte:
    „Stellt euch einen See vor. Einen großen See mit ein paar Inseln. Die sind so verteilt, dass man sie alle schwimmend erreichen kann, ohne vor der Entfernung Angst haben zu müssen. Im See sind aber auch viele, teils wackelige Flöße, ein paar schicke Schnellboote und es gibt alte Anlegestellen. Das Wasser des Sees ist nicht überall klar, es gibt auch einige Strömungen und Schlingpflanzen. Glück ist, schwimmen zu können – da bin ich bei Klara, denn etwas zu können, macht froh. Auch dass man so gesund und körperlich fit ist, um im See zu schwimmen, ist Glück. Und selbst zu erkennen, wo man lieber nicht hinschwimmt, weil es dort gefährlich sein wird, ist auch eine Form von Glück. Genau wie es Glück bedeutet, wenn einem Krankheiten – die Strömungen – nichts Ernsthaftes anhaben können. Hier und da gibt es auch Seerosen – stellt euch vor: so wie Leon. Die sieht man und freut sich und hat ein gutes Gefühl.“
    Alle lachten. Auch Leon, der zudem noch den Daumen hoch zeigte.
    „Ganz wichtig jedoch sind die Inseln. Das sind zum Beispiel meine Eltern, die ich immer sicher erreichen kann, die mich zu jeder Zeit aufnehmen, wärmen, Stärkung bieten, heilen, ohne Bedingung, zum Beispiel nachdem mich vielleicht eines dieser schicken, aber

    gefährlichen Schnellboote verletzt hat oder droht, mich zu überfahren.“ Diesmal gab Anja das Beispiel nicht laut an, aber sie dachte voller Wut an Paul, dem schon Anjas erster Satz gereicht hatte, ihr unverblümt einen „Sextermin“ zu geben und der die Frage nach Glück gar nicht beantwortet hatte, weil er über „solchen philosophischen Mist“ sowieso nie nachdenken würde. Was für ein Hohlroller, wenn auch ein wirklich gutaussehender!
    „Die Flöße stehen für die Freunde. Manche sind fest und genauso wertvoll wie die Inseln. Aber manche wackeln und lassen einen auch mal wieder ins Wasser plumpsen.“ Hier machte Anja eine Pause und dachte an Tia, die sie dieses Mal so enttäuscht hatte, weil sie nur von ihrem neuen Typen erzählte und von den ganzen Partys, die sie jetzt mit ihm besuchen würde und die ihre Frage nach dem Glück fast so idiotisch wie Paul beantwortet hatte.
    „Sie haben die Anlegestellen vergessen“, mahnte Prof. Müller an.
    „Die alten Anlegestellen, die stehen zum Beispiel für die Omas und Opas, die dir mit ihrer Lebenserfahrung Halt geben, aber die dich auch immer wieder wegschwimmen lassen und sich freuen, wenn du wiederkommst und das eine oder andere an ihnen reparierst – ich meine das so, dass sie auch von dir lernen. Ich finde, auch das ist Glück. Das sind nicht die, die denken, dass früher alles besser war. Die gehen in meinem Bild als Anlegestellen ganz und gar kaputt, weil dort niemand etwas reparieren kann.“ Anja dachte liebevoll an Frau Sauer, die zu den ersteren gehörte und die nach dem Desaster mit Paul lächelnd zugehört und dann augenzwinkernd gefragt hatte, ob der Kerl immer noch so gut aussähe. Jetzt lächelte Anja wieder.
    „Und wenn ich dann in meinem Bild einmal selbst eine Insel werde, dann ist das wirklich großes Glück.“
    Eine Weile herrschte Schweigen. Anja blickte in die Gesichter ringsherum. Alle gedankenverloren. Leon, natürlich Leon, regte sich zuerst. „Mensch Anja, du solltest Philosophie studieren oder Therapeutin werden. Zu dir käme ich!“ Alle lachten und Professor Müller schloss das Seminar: „Dem kann ich nichts hinzufügen. Nur noch eine Hausaufgabe!“
    Stöhnen aus allen Mündern!
    „Die Aufgabe lautet: Spüren Sie Ihrem Bild von Glück nach. Termin: lebenslänglich.“

  17. TOTE FRAUEN TRÄUMEN NICHT

    »Niemals tut man so vollständig
    und so gut das Böse, als wenn
    man es mit gutem Gewissen tut.«
    Alexander Mitscherlich
    (1908 – 1982)
    deutscher Arzt, Psychoanalytiker,
    Hochschullehrer und Schriftsteller

    Es sollte ein fröhlicher Sommertag werden draußen am See mit der ganzen Familie und Johnny. Endlich könnten ihn alle kennenlernen, ganz wundervoll würden sie sich verstehen, da war sich Hermine sicher gewesen. Und nun das!

    * * *

    ›Was für ein Scheiß!‹

    Rhaana konnte nicht länger hinsehen.

    Dieser Rückseitentext auf dem Umschlag des Buches war doch voll der Noob.

    ›So fangen sie an, diese beschissenen Kurzromane in der BRIGITTE, gleich nach Muttis Sommerblitzdiät‹, schalt sie sich selbst. ›Während du hier davor stehst, deinen Kopf zum Wohl der ganzen Menschheit zu riskieren. Hast du nichts Besseres zu tun?‹

    Sie wandte den Blick ab von dem Taschenbuch mit einem quietschbunten Leuchtturm als Titelbild, das, in der Mitte aufgeschlagen und mit den Seiten nach unten, auf dem zerwühlten Krankenbett lag.

    Eigentlich hätten dessen Laken weiß sein sollen.

    Aber die Neonröhre an der Zimmerdecke tauchte mit ihrem Schein alles in diesem Raum in galliges Gelb: den Teller (halb gefüllt mit etwas, das die Krankenhausleitung schönfärberisch ein Mittagessen nannte), der auf dem abgewinkelten Tablett neben dem Bett stand; ebenso die verschachtelten Türmchen aus allerhand medizintechnischem Gerät, das gut die Hälfte des Raumes neben dem Bett ausfüllte. Irgendeines davon piepte wie blöde vor sich hin; leise und nervtötend.

    Derweil traute sich das staubgraue Tageslicht kaum durch den Fensterspalt und war keine Konkurrenz für die Neonröhre.

    ›Was für ein Loch!‹, wiederholte Rhaana im Geiste jene Feststellung, die sie vor dreißig Sekunden schon einmal regelrecht angesprungen hatte. Da hatte sie sich gerade erst unbemerkt vom Eingangsbereich in diesen Flur geschlichen und von dem aus in dieses Kabuff.

    Es war das erstbeste Versteck, das sie finden konnte.

    Unwillkürlich holte sie tief Luft. Der Mief von Desinfektionsmittel, Urin und kaltem Sauerkraut, der ihr dabei mit Übermacht in die Nase stieg, ließ ihren angestauten Fluchtwunsch schier ins Riesenhafte wachsen. Zugleich zerstob ihre Furcht vor dem, wegen dem sie überhaupt hier war.

    Hastig fuhr sie in die Höhe. Die Hochglanzoberfläche der Zimmertür zeichnete ein Spiegelbild von ihr. Unscharf und bleich, aber brauchbar. Zwischen zwei Wimpernschlägen prüfte sie ein letztes Mal, wie überzeugend ihre Maskerade wirken würde: Schwesternanzug (lichtblau eigentlich, aber nun so blassgelb wie alles andere hier in dieser Zelle), Clogs an den Füßen, Klemmbrett in der linken Hand.

    Perfekt: Von den Krankenausangestellten, die draußen auf den Fluren anzutreffen waren, unterschied sie sich in nichts.

    Bis auf diese Sache mit ihrem Auge. Dessen Farbe wich auffällig von der seines linken Gegenstücks ab.

    Was an der Mikrokamera lag, die auf der Iris ihres rechten Sehorgans schwamm wie eine Kontaktlinse. Der neueste Clou chinesischer Überwachungstechnik. Frisch aus dem TEMU-Shop.

    Leider gab es das raffinierte kleine Stück Hightech nur in Dunkelbraun, passend für kontrollbesessene chinesische Parteikaderaugen. Ihre eigenen Augen schimmerten wasserblau. Mitteleuropäisch halt.

    Braun und Blau, passte das zusammen? Nein, es passte nicht. Aber ihr hatte die Zeit gefehlt, um diese unerwartete Schwachstelle im Plan noch rechtzeitig auszubügeln.

    Sei’s drum. ›Wenn mich jemand darauf anspricht‹, hatte sie sich gesagt, ›erzähl‘ ich denen einfach was von Heterochromie. Das sollte einem Arzt ja etwas sagen.‹

    Vorsichtig näherte sie sich der spaltweit geöffneten Tür, vergewisserte sich mit zwei raschen Blicken in die Flurenden, dass dort niemand war, und schlüpfte behänd hinaus wie ein Geist.

    ›Bleib ruhig‹, schärfte Rhaana sich ein, während sie die ersten Meter den Flur entlangeilte. ›Nicht auffallen. Du bist eine ganz normale Krankenschwester Ende zwanzig auf dem Weg in den Keller.‹

    In den Keller.

    In DEN Keller.

    Die kalten, hellen Decken-LEDs schufen einen herben Kontrast zu der Schummerbeleuchtung des kleinen Zimmers, in dem sie eben noch Unterschlupf gesucht hatte. Diese Lichtflut in Blauweiß tat ihren Augen fast schon weh, während sie sich weiterbewegte. Hoffentlich nicht so schnell, dass sie auffiel.

    Vom Ende des Flures her hasteten zwei ihrer vermeintlichen Kolleginnen auf sie zu. Rhaana verkrampfte kurz und konnte ihren eigenen Herzschlag nicht mehr spüren.

    Sie würden sie doch wohl nicht …

    ›Reiß dich zusammen!‹

    Die beiden schienen sie nicht zu bemerken, als sie an Rhaana vorbeiliefen, die flugs eine Allerweltsmiene voll unverbindlicher, zurückhaltender Freundlichkeit aufgesetzt hatte. Diese Verstellung hatte wohl gewirkt.

    Ihr fiel ein Stein vom Herzen, als sie ihren Weg unbehelligt fortsetzen konnte. Das ließ sich doch gut an.

    Dennoch traute sich Rhaana nicht, den Fahrstuhl zu nehmen: Womöglich wäre sie dort von misstrauischen Mitfahrern angesprochen worden. Ja, sie konnte die bohrenden Fragen schon mit ihrem inneren Ohr hören: »Heh, du Unbekannte mit den seltsamen Augen. Was hat eine wie du denn hier zu suchen? Im Allerheiligsten der Städtischen Kliniken?«

    Mit einem entschiedenen ›Dem Dieb brennt die Mütze‹ hatte sie sich diese dunklen Ahnungen selbst verboten und sicherheitshalber einen längeren Weg über fünf verwinkelte Flure und elf Treppen abwärts im Stiegenhaus gewählt. Eine gute Entscheidung: Niemand war ihr begegnet; niemand hatte sie bemerkt.

    Und jetzt war sie am Ziel.

    Sie stand hier.

    Im Keller.

    In DEM Keller.

    Dem Ziel ihrer monatelangen klammheimlichen Recherchen.

    Von der untersten Treppe aus hatte sie einen kerzengeraden, spelunkendüsteren Korridor aufgesucht, überraschenderweise nicht gesichert und kaum breiter als ein Krankenbett.

    Über graugefleckte Bodenfliesen mit auffallend breiten Fugen dazwischen hatte sie der Weg an grob gekälkten Wänden vorbeigeführt.

    Immer wieder war ihr Blick auf die drei Lüftungsrohre an der Decke gefallen: oberschenkeldick, mit verstaubter, stumpfsilbriger Dämmfolie umwickelt. Wie erstarrte Schiffstaue hatten sie Rhaana bis zu einem etwas breiteren Vorraum geleitet, der von einer einzelnen, aus der Zeit gefallenen, nackten Glühbirne an der Decke ausgeleuchtet wurde – mehr schlecht als recht.

    ›Nu‘ sieh sich einer dieses Chaos an!‹, dachte sie verstört.

    Während ihre Ohren nichts weiter wahrnahmen als ein dumpfes, pulsierendes Brummen an der Grenze der Unhörbarkeit, huschte ihr Blick über die Kragarmregale an den Wänden, die von oben bis unten vollgerümpelt waren mit Kartons, deren Beschriftung sie im Halbdunkel nicht zu lesen vermochte.

    Dazwischen schimmerten Klarsichtbeutel mit ganzen Ballen grauer Stopfwolle. In der unteren Reihe ragten ein paar Transportboxen aus knallrotem Kunststoff mit einem weißen Kreuz darauf aus dem Durcheinander.

    Und die fluoreszierende, weiße Leuchtschrift neben dem Kreuz ließ sich leicht lesen.

    Viel zu leicht.

    »Human Organ For Transplant«

    Unwillkürlich sog sie die Luft durch ihre Nasenlöcher, und erst dadurch wurde ihr bewusst, wie stickig es hier unten war.

    Mann! Dieser dämmerige Verschlag, im tiefsten Kellergeschoss der Klinik verborgen und das verheimlichte Gleichstück dessen, was sie oben in der Bude erlebt hatte – dieser Verschlag passte so gar nicht zum Klischee moderner, lebensrettender Medizin.

    Aber gerade deshalb stellte er die angemessene Kulisse für das, was hier abging.

    Dass es für dieses Treiben hier unten (und an Hunderten anderer solcher Orte rings um den Globus) kein Augenzeugnis gab – dafür hatte Big Pharma seit fünfzig Jahren mit diabolischer Umsicht gesorgt: Keine Tonaufnahme hatte die Öffentlichkeit jemals aufgeschreckt. Kein Foto. Kein Video.

    Nirgendwo auf der Welt gab es auch nur das allerkleinste Dokument. Nichts. Noch nicht mal im Darknet.

    Zeit, dass sie das änderte.

    Entschlossen blinzelte Rhaana. Genau zehnmal.

    Laut Betriebsanleitung sollte das die Kamera auf ihrem rechten Auge einschalten. Sie konnte nur hoffen, dass das geklappt hatte.

    Jetzt blieben ihr noch neun Minuten. Danach würde der Videospeicher voll sein.

    Sie vernahm ein metallisches Rasseln vom Ende des engen Ganges her, der sie in diesen Raum geführt hatte: dem Klang nach ein Krankenbett, das klappernd über die groben Fugen im Boden dieses Flurs herangeschoben wurde.

    Das kam ja wie bestellt.

    Hastig sah sie sich um, entdeckte in einer Raumecke eine verlockend dunkle Lücke im Gewirr der gestapelten Kartons, Wollballen und Transportboxen und schlüpfte hinein, unhörbar wie eine Hausmaus.

    Keine Sekunde zu spät: Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte Rhaana, dass in der Stirnwand eine Tür geöffnet wurde, die sie vorher nicht bemerkt hatte.

    Erschrocken kauerte sich Rhaana noch tiefer in den Schutz der Dunkelheit. Vorsichtig legte sie ihr Klemmbrett neben sich auf den staubigen Boden.

    Eine Gestalt trat heraus, um dann abwartend im erleuchteten Türrahmen zu verharren. Der Anblick dieser nachtschwarzen Silhouette erinnerte Rhaana an ein Panel aus einem Batman-Comic.

    Trotz des schummrigen Lichts konnte Rhaana die stämmige Figur ausmachen, die den hochgeschlossenen Gummioverall ausfüllte, ohne auch nur den kleinsten Spielraum ungenutzt zu lassen. Eine Chirurgenmütze hing schräg auf dem raspelkurz geschorenen Schädel. Das Gesicht, das zu einem Mann mittleren Alters gehören mochte, war hinter einer fleckigen, transparenten und bis zum Kinn reichenden Spritzschutzmaske kaum zu sehen. Aber das, was Rhaana davon erkennen konnte, ordnete sie einem ganz und gar durchschnittlichen Aussehen zu.

    ›Was hast du denn erwartet? Hakennase, Pferdefuß und Kinnbart?‹

    Nun, ein solcher Aufzug hätte es ihr vielleicht sogar erleichtert, ihr Vorhaben durchzuziehen. Nichts geht über ein klares Feindbild.

    Aber ihre Abscheu setzte von allein ein, als sie der Schürze gewahr wurde, die der Mann umgebunden hatte.

    Dieser Schürze hatte Rhaana anfangs keine Bedeutung beigemessen.

    Beim Anblick der dunkelroten Spritzer und Sudel darauf, die in dünnen, mäandernden Bahnen ihren Weg nach unten suchten, biss sich aber unwillkürlich das Bild eines Schlachthofmetzgers in ihr Denken.

    ›Verfickte Ratte!‹, schoss es Rhaana durch den Kopf.

    Angewidert harrte sie in ihrem Versteck aus, wagte nicht zu atmen und hörte das Rasseln rasch näherkommen: Ein Krankenbett, angeschoben von einem fast völlig vermummten Arzt in grüner OP-Kleidung, rollte in den kümmerlichen Lichtschein des Vorraums. Unter einem dünnen grauen Laken, das das Bett vollkommen bedeckte, zeichnete sich die hügelige Kontur eines menschlichen Körpers ab.

    Der Metzger beugte sich vor und ergriff energisch mit beiden behandschuhten Pranken zugleich das Fußteil am Bettende, um dann das Wort an den Ankömmling im OP-Kittel zu richten.

    »Mann, ich beneide dich.«

    Die volltönend vorgetragenen Worte straften die unbeteiligte Miene Lügen, mit der er seine Klage ausgesprochen hatte.

    Diese Stimme klang auf eine perverse Art geil. Sie gemahnte Rhaana an einen Seifenopernschauspieler, in den sie als Teenie hoffnungslos verschossen gewesen war.

    Dann hörte sie den OP-Arzt am Kopfende trocken auflachen.

    »Tja, wer es in der Chirurgie zu etwas bringen will, muss leiden, mein Freund.«

    »Leiden?«, entgegnete der Metzger. »Schneiden meinst du wohl. Schneiden und sägen und Rippen spreizen und eimerweise Eiswasser in Thoraxhöhlen kippen. Scheiße noch mal …«

    »Na komm schon; da musste ich ebenso durch. Was tut man nicht alles für die Karriere. Ist doch so, oder?«

    Der Operateur wandte sich um und deutete mit seiner Rechten einen Abschiedsgruß an.

    »Ist übrigens das letzte Spinalwesen für heute. Herz. Nieren. Beide Hornhäute. Danach kannste Feierabend machen.«

    Rhaana hörte den OP-Arzt aus dem Vorraum gehen, während sie den Metzger vorsichtig dabei beobachtete, wie der, rückwärts gehend, das Bett in den hellen Raum hinter sich zog.

    Rhaana hielt inne.

    War das ihre Chance?

    Sie nahm sich keine Zeit, um über die Tatsache zu erschrecken, dass sie sich über diese Phase ihres Investigativvorhabens nie zuvor tiefgründige Gedanken gemacht hatte.

    Stattdessen platzte ein verwegener Plan, blitzschnell in den Tiefen ihres Unterbewusstseins geschmiedet, in ihrem Denken auf wie eine reife Samenkapsel: Hineinrennen würde sie. Ja, einfach hineinrennen. Solange diese Tür noch offen war.

    Und einmal drin in diesem Raum, würde sie ein paar schnelle Blicke auf alles werfen, was es da zu sehen gab. Ein paar Sekunden würden für beweiskräftige Bilder reichen.

    Bilder, die den Menschen die Augen öffnen würden.

    Die ihnen klarmachten, was für Sauereien abgehen, Tag für Tag, im Namen von Fortschritt und Nächstenliebe und Lebensrettung und Big Pharma und Big Money und all dem heuchlerischen Mist …

    Und wenn dieser Metzger da sie zur Rede stellte und hinauskomplementieren wollte, würde sie etwas von Versehen und Verlaufen stammeln, sich entschuldigen – und dann nichts wie raus.

    Und rein mit diesen Bildern: bei Tiktok und Facebook und Insta und YouTube und dpa und …

    Und während sie diese verwegenen Gedankenfäden zu Ende spann, stellte sie verwundert fest, dass sie ja schon längst in diesem Raum angekommen war.

    Sie war an dem Metzger vorbeigelangt. Unbemerkt!

    ›Quark! Wie soll denn so was gehen?‹

    Was für ein Husarenritt!

    Aber sie konnte sich nicht an ihn erinnern.

    ›Fuck!‹

    Verrückt!

    Leere im Kopf.

    Als wäre diese gerade erst vergangene Minute ihres Lebens ein alter Stummfilm gewesen, bei dem die Schauspieler sprunghaft weiterruckeln, von einer Stelle zur anderen, weil zwischendurch immer wieder ein paar Sekunden Zelluloid fehlen.

    ›Verdammt – sieh dich lieber richtig um!‹, herrschte sie sich im Stillen an. ›Dafür bist du doch hier.‹

    Sie warf den Kopf hin und her, sog jeden Eindruck gierig auf wie eine Verdurstende den allerkleinsten Wassertropfen.

    … die Blutlachen auf dem Kachelboden, stellenweise nachlässig und als Schmierstreifen weggewischt von einem Gummischieber …

    ›Hey, wie im Aldi kurz vorm Feierabend!‹

    … der Seziertisch in der Mitte: rostrot beflecktes, flaches Metall in Wannenform mit Abtropflöchern drin …

    ›Ey, richtig grell – wie bei ,Bones‘!‹

    … dieser Plätscherpopsong aus dem Lautsprecher an der Zimmerdecke, der aus der Nähe aussieht wie ein Teesieb, dessen Maschenöffnungen vor Staub überquellen …

    ›Verrückt, wenn man’s aus der Nähe anguckt.‹

    … das tropfnasse Metalltablett, das wie ein altes, durchlöchertes Waschbrett anmutet, voll mit Skalpellne, Sägen und Nierenschalen …

    ›Von oben sehen sie aus wie kleine Fischteiche.‹

    *Catch me or I go Houdini – I come and I go (I come and I go) – Prove you got the right to please me.*

    … dieser Plastikeimer tief unten auf dem Boden, randvoll mit Wasser, auf dessen Oberfläche kleine Eisbrocken treiben …

    ›Von oben? Tief unten?‹

    *Der Mief hier drin stinkt penetrant nach Kupfer.*

    ›Wie bei meiner Mense. Nur tausendmal mehr davon. Urrgh!‹

    … das Bett, längst hereingezogen von dem Metzger, der sie noch immer nicht entdeckt hat, obwohl seine Mütze wie eine Regenbogenhaut wirkt und sein Schädel wie ein absurder Augapfel, der den Blick gen Raumdecke gerichtet hat …

    ›Zimmerdecke?‹

    … das Leichentuch, das wie unbeteiligt weggezogen wird und darunter einen Frauenkörper verhüllt hat, unbekleidet, bläulich bleich …

    ›Wir sind gleich alt. Ungefähr.‹

    … neben dem Deckenlautsprecher eine sonnenhelle Pipeline von Neonröhre, die vorbeihuscht wie gefährlich nahe Bodenwellen bei einem gewagten Kunstflugmanöver …

    ›Zum Greifen nah?? Echt jetzt???‹

    *Everything you say is soundin‘ so sweet (ah-ah) – But do you practise everything that you preach? (Ah-ah) – I need something that’ll make me believe (ah-ah)*

    … der Metzger, der den Frauenkörper …

    ›Die hat ja meine Haarfarbe.‹

    … auf den Seziertisch gelegt hat …

    ›Wann eigentlich?‹

    … und nun mit Daumen und Zeigefinger seiner linken Handschuhpranke eine Hautstelle strafft, knapp unter ihrem Schlüsselbein …

    ›Verdammt, der muss mich doch sehen, mich, so direkt …‹

    … mit seiner Rechten dort ein Skalpell ansetzt …

    ›über ihm …‹

    … rasch einsticht …

    ›ÜBER ihm? Wirklich ÜBER ihm?? Ich schwebe ÜBER ihm???‹

    … und die Klinge routiniert durch die Haut rasen lässt, von der Klavikula herunter bis zum Schambereich …

    *flammend heißer Schmerz*

    Im Nu verzerren sich die Konturen dieses Schlachtraums wie eine Fotografie, die bei einem Zimmerbrand in der Hitze zerschmilzt.

    *Do you think about it night and day? – Maybe you could be the one to make me stay*

    Über diesen Zimmerbrand schiebt sich das Abbild des mützenbedeckten Metzgerschädels, der direkt vor ihrer Nase schaukelt. So sieht wohl das übergroße Auge eines Kraken aus.

    *Zähneziehen ohne Betäubung. Zähne, Zähne, Zähne. Überall Zähne*

    Rhaanas Wahrnehmung verfliegt wie der Samen eines Löwenzahns.

    *Ein ganzer Wald aus Zeigefingernägeln, unter die Zahnstocher eingerammt werden. Der ganzen Länge nach.*

    Dieser Urknall aus zerfetzendem Schmerz fegt alles beiseite. Alles.

    *Nachtschwarze Schreie, die aus jeder Körperzelle quillen*

    Rhaana bekommt nicht mehr mit, wie der Metzger die Rippenspreize anlegt und ohne Zögern ihren Brustkorb aufklappt. Das macht krachende Geräusche wie beim Tranchieren eines Brathuhns; nur viel lauter. Aber auch die hört Rhaana nicht.

    *Maybe you could cause a girl to change (her ways) – Do you think about it night and day?*

    Könnte Rhaana noch etwas sehen, irgendetwas nur, erschienen ihr die abgespreizten Rippenbögen vor ihr wie die absterbenden Schenkel einer Gebärenden. Aber zwischen diesen Beinen wird sich niemals mehr so etwas wie neues Leben hervorwagen. Im Gegenteil.

    ›Mama! Bist du das?‹

    Entleert der Mann mit der Metzgerschürze da gerade tatsächlich einen ganzen Eimer Eiswasser in ihre vollblutende Brusthöhle? Rhaana ahnt es dumpf. Mit einem Sinn, den sie zum ersten …

    ›letzten!‹

    … Mal in ihrem Leben verspürt.

    *Wunderwärmendes Licht von allen Seiten.*

    Rasche, millimetergenau ausgeführte Schnitte mit dem Skalpell brechen Herz und Nieren aus. Diese Ernte wird umgehend aufgebahrt, auf dem Trockeneis einer Transportbox.

    *Der Schmerz vergeht.*

    Der Metzger streckt sich, um den verspannten Rücken zu entlasten. Dann wendet er sich dem Gesicht des Spinalwesens zu: Die Hornhäute der Augen müssen ja noch raus.

    *Zärtliches Zerrinnen*

    Er schiebt die Lider nach oben wie ein Rolltor.

    *Frieden*

    »Schöne Augen hatte die.«

    *I’m not here for long – Catch me or I go Houdini*

    »Wen stört es schon, dass eines blau ist und das andere braun?«

  18. Unter ihnen erstreckten sich die glitzernden Weiten eines Meeres aus schimmerndem Eis, das immer wieder von feuerspeienden Bergen durchbrochen wurde. Novalis klammerte sich an den Golddrachen, der ihn mit kräftigem Flügelschlag seinem Ziel entgegen trug: der Tropfsteinhöhle von Alkalabanter.
    Und dort drin wartete der Schatz, nach dem er seit Jahren gesucht hatte. Nicht nur er, sie alle. Aber Novalis würde als erster dort ankommen, weil er als einziger wusste, wie man sie erreichte.
    Nein, das war nicht ganz richtig. Genau genommen wusste Novalis gar nichts über diese Höhle. Wo sie sich befand, wie er dort hinkam oder welche Gefahren auf dem Weg auf sie beide warteten – ihn und seinen Golddrachen Trhe-Kegmu. Aber das musste er auch nicht, denn seine Gefährtin kannte den Weg und Novalis würde ihr sein Leben anvertrauen – was er hiermit wohl tat.
    Sie flogen bereits eine ganze Weile durch diese Landschaft. Deshalb fiel Novalis die Veränderung erst gar nicht auf. Erst als direkt vor ihnen ganz plötzlich ein kräftiges Feuer den Himmel vor ihnen in brodelnde Hitze verwandelte und Novalis bei Trhe-Kegmus Ausweichmanöver beinahe von seiner Gefährtin fiel, wurde ihm bewusst, dass das blendende Weiß unter ihnen kein Eis mehr war.
    „Trhe, alles in Ordnung bei dir?“, fragte Novalis außer Atem. Der Drache antwortete lediglich mit einem Schnauben und ich strich sanft über ihre goldenen Schuppen, die inmitten des Weiß nur noch mehr glitzerten.
    „Vielleicht sollten wir eine Rast einlegen. Ich will kein Risiko eingehen. Lass uns landen.“
    Novalis spürte den Widerwillen ihrer Gefährtin, doch sie gehorchte und flog tiefer in den Nebel hinein, um nach einem passenden Platz Ausschau zu halten. Das dachte Novalis zumindest. Doch als er erst auf eine geschützte Stelle deutetet und dann auf die nächste Höhle, ignorierte Thre ihn.
    „He, was soll das? Lass uns eine Pause einlegen. Du bist sicherlich auch erschöpft“, rief Novalis, um sicherzustellen, dass Thre ihn auch wirklich hörte. Aber es schien sie nicht zu interessierten.
    „Thre, was -“ Novalis verstummte. Unter ihnen tat sich so plötzlich eine riesige spiegelnde Wasseroberfläche auf, dass Novalis kurz Angst hatte, Thre würde mit ihm hineintauchen. Doch sie sank lediglich so tief hinab, dass ihre Krallen ins Wasser tauchten. Überrascht beugte Novalis sich zur Seite.
    Das hier war Wasser, kein meterdickes Eis. Wie konnte das sein? Thre sank noch etwas tiefer und ihr Kopf neigte sich leicht und auffordernd in Novalis‘ Richtung. Mit ihren orangenen Augen beobachtete sie ihn aufmerksam.
    „Wo sind wir hier?“, flüsterte Novalis und beugte sich noch weiter zur Seite, um auch seinerseits eine Hand hinein zu tauchen.
    Doch er spürte keinen Widerstand, als er seine Hand durch die Wasseroberfläche drückte. Und auch keine Nässe, obwohl seine Kleidung allein schon durch den allgegenwärtigen Nebel hätte nass sein müssen. Aber er spürte nichts bis auf den eisigen Wind, der ihm nach wie vor erbarmungslos ins Gesicht peitschte und Tränen in die Augen trieb.
    Thre sackte nochmal etwas tiefer. Ihr halber Körper war nun in diesem komischen Wasser, doch sie wurde dadurch nicht langsamer. Novalis‘ Arm war nun ebenfalls bis zum Ellenbogen eingetaucht und was er sah, erschreckte ihn so sehr, dass er sie panisch wieder hinauszog. Eilig sah er sich im Wasser um, doch der dunkle Schatten, der eben unter der Wasseroberfläche aufgetaucht war, war nun verschwunden.
    „Hast du das gesehen? Da ist etwas im Wasser! Thre, ich glaube, wir sollten wieder aufsteigen.“
    Thre dachte nicht einmal daran. Sie schnaubte nur belustigt und in dem Orange ihrer Augen tanzte etwas Wissendes. Novalis kniff seine Augen zusammen.
    „Du weißt etwas.“
    Thre warf ihren Kopf hin und her, was Ja, Nein, alles und nichts bedeuten konnte. Novalis hatte bisher nie Probleme gehabt, sie zu verstehen, doch jetzt gerade war sie das verfluchte Buch mit den heiligen drei Siegeln für sie. Oder fünf. Oder wie viele auch immer es hatte.
    „Trhe-Kegmus!“, rief er, inzwischen mehr wütend als ängstlich. Und Thre reagierte, jedoch nicht so, wie Novalis es wollte. Sie schlug kräftig mit den Flügeln, um an Geschwindigkeit zu gewinnen. Novalis musste sich fest an seine Gefährtin pressen, um vom Wind nicht nach hinten gerissen zu werden. Er umfasste die beiden dunklen Schuppen fester, die sich schon immer deutlich von ihrem ansonsten makellos goldenen Schuppenkleid abgehoben haben, und kniff die Augen zu.
    Er hatte Thre vor ihrer gemeinsamen Abreise versprechen müssen, ihr vollkommen zu vertrauen. So langsam sickerte dieses Gespräch in der Höhle der Ahnen zu ihm durch. So langsam verstand er, dass Thre damit mehr als nur „Vertrau darauf, dass ich den Weg kenne und fliegen kann“ meinte. Es war vielmehr ein „Was auch immer ich tue, ich weiß, was ich tue“. Und was sie tat, sah ziemlich stark nach waghalsigem Übermut aus. Oder einem Selbstmordkommando.
    Als Novalis das nächste Mal die Augen öffnete, mussten sie viele hundert Meter zurückgelegt haben. Der Nebel hatte sich etwas gelichtet und nun konnte er vor ihnen eine riesige Felsmauer sehen – und direkt an der Wasseroberfläche einen dünnen Felsspalt, den Thre ansteuerte.
    Sie flog so entschlossen darauf zu, als meinte sie ernsthaft, dass ihr riesiger Körper hindurchpasste. Doch so wie es aussah, konnte sich dort lediglich ein Kind hindurchquetschen. Selbst Novalis mit seiner schmächtigen, aber ausgewachsenen Gestalt war zu groß.
    Thre schlug kräftig mit den Flügeln, sodass sie nur wenige Sekunden später abhoben, nur um im nächsten Moment einen Sturzflug auf die Wasseroberfläche direkt vor dem Spalt zu machen.

    Novalis schrie nach Thre, nach seiner Mutter, nach den Göttern, an die er nicht wirklich glaubte. Und dann brachen sie durch die Oberfläche. In einem Strudel aus Kälte, Hitze und schwindelerregenden Kreisen, die sie zogen, wurden Novalis und seine Gefährtin in die Tiefen des Felsspaltes gezogen, der unter dem Wasser deutlich größer war. Ein plötzlicher Sog ergriff sie beide und schleuderte sie von einer Seite zur anderen.
    Novalis konnte sich nicht daran erinnern, wieder aus dem Wasser aufgetaucht zu sein. Doch obwohl er sich sicher war, dass er das Bewusstsein nicht verloren hatte, befanden sie sich nur wenige Augenblicke und einen heftigen Sturz später auf trockenem Boden. Novalis tastete benommen um sich, um sich von der Festigkeit des Bodens zu vergewissern.
    „Thre, davor hättest du mich ruhig warnen können“, schimpfte er mit seiner Gefährtin, als er seine Atmung wieder unter Kontrolle hatte. Er hielt inne, als Thre im selben Moment wie er grölte. Er sah sich nach ihrem kräftigen Körper um und erst da fiel sein Blick auf die Höhle, in der sie sich befanden. Novalis klappte der Mund auf. Sie waren da. Sie hatten es geschafft. Thre hatte es geschafft.
    Die Höhle war riesig, von zahlreichen Stalagmiten und Stalaktiten gefüllt, die teilweise nahtlos ineinander übergingen. Doch das war nicht das Besondere an ihr. Alkalabanter war berühmt für ihre schimmernden Diamanten, ihr lebendiges Gold und ihre heilenden Früchte. Glitzernde Steine in allen Farben durchzogen die Wände. Wuchtige goldene Blätter hingen schwer von Baumstämmen, die ich zuvor fälschlicherweise für Stalaktiten gehalten hatte. Und an den Spitzen der Stalagmiten thronten saftige Früchte in tiefem Rot.
    „Wunderschön“, murmelte Novalis und wieder hörte er Thres Brummen im selben Moment. Er drehte sich um, auf der Suche nach ihr. Doch statt seiner goldenen Gefährtin fand er ein großes goldenes Tuch in geripptem Muster, das über einem kleinen Knäuel lag. Novalis wollte das Tuch anheben, sein Blick gebannt auf dem kleinen Knäuel. War dort ein Mensch?
    Er griff nach dem Tuch, doch es funktionierte nicht. Wieder streckte er seine Hand aus und mit einem Mal spürte er die Veränderung. Endlich nahm er sie auch wahr. Aus den Augenwinkeln sah er die Spitze einer bläulich-grauen Schnauze. Er öffnete seinen Mund und rief wieder nach Thre, aber alles, was er hörte, war ein Brüllen. Sein Brüllen.
    Novalis zuckte bei der Erkenntnis so sehr zusammen, dass er versehentlich mit seinem Schwanz ausholte und einen Stalagmit zerstörte. Er war ein Drache? Wie konnte das sein? Und wenn dem so war, war das unter dem Tuch dann Thre?
    Etwas unbeholfen und mit sehr vielen Gedanken um die neue Situation trat Novalis wieder an das Tuch heran und kratzte es so lang, bis sich die Fäden in seinen viel zu großen Krallen verhedderten. Dann zog er langsam daran und enthüllte tatsächlich eine kleine Gestalt. Eine junge Frau, die mit ausgetreckten Gliedern auf dem Rücken lag und das Gesicht gegen den Himmel gerichtet hatte. Ein Lächeln zierte ihre Lippen, ihre nackte Brust hob und senkte sich heftig, als sei sie noch von dem Flug oder der Verwandlung außer Puste.
    „Thre?“, grummelte Novalis leise, um sie nicht zu erschrecken, und konzentrierte sich auf ihr Gesicht. Ein Glück konnte er nicht rot werden. Oder? Der Blick der Frau glitt zu ihm und als sie ihn erkannte, wurde ihr Lächeln tiefer, ihre Freude beinahe greifbar.
    „Nov“, hauchte sie und beinahe hatte sich das Wort in der Höhle verloren, bevor Novalis sie hören konnte. Doch als Drache schienen seine Sinne viel besser zu sein. Und so zog sich bei ihrer Stimme eine Gänsehaut über seinen Körper.
    „Hallo Nov“, sagte die Frau wieder, nachdem sie sich aufgerichtet hatte. „Ich bin es, Thre.“
    Und dann lachte sie. Ihr Lachen war so gelöst, so schön und so mitreißend, dass Novalis nicht anders konnte, als zu schnauben. Etwas frustriert stellte er fest, dass das wohl das höchste aller lachenden Gefühle war, die ein Drache aufbringen konnte. Aber die Frau störte sich nicht daran, sie grinste ihn nur noch mehr an, als wüsste sie, was es bedeutete.
    Da fiel Novalis wieder ein, dass die Frau keine Kleidung trug und ihre kurzen Haare rein gar nichts verdeckte. Er scharte wieder mit der Pfote, in dessen Krallen sich das goldene Tuch verheddert hatte, bis die Frau darauf blickte.
    Dann sah sie an sich herab, musterte ihre Haut, ihren Körper und schien endlich zu verstehen, was Novalis meinte. „Ach ja richtig. Ihr Menschen tragt Kleidung.“ Sie löste das Tuch aus Novalis‘ Krallen, warf es sich über wie ein Kleid und knotete schließlich die Enden zusammen. „So, das müsste halten.“ Novalis war so fasziniert von ihrer Fingerfertigkeit, dass er sich fragte, ob sie gerade zum ersten Mal ein Mensch war.“
    Als hätte Thre seine Gedanken lesen können, legte sie den Kopf schief und kam auf ihn zu, um seine Schnauze zu kraulen. „Ich glaube, ich schulde dir eine Erklärung.“
    Novalis nickte so heftig, dass er sich die Schnauze an einem Stalaktit stieß. Wenn er könnte, hätte er jetzt am liebsten ganz laut aufgeseufzt. Aber heraus kam wahrscheinlich nur heiße Luft oder vielleicht sogar Feuer. Also ließ er es bleiben.
    Stattdessen folgte er Thre, die sich hier tatsächlich auszukennen schien, durch einen langen Gang, der in einer weiteren Höhle endete. Einer Höhle mit einem kleinen See, der von der Finsternis im hinteren Teil verschluckt wurde. Also waren sie doch wieder aus dem Wasser gekommen?
    Thre setzte sich ans Ufer und klopfte auf den Platz neben sich. Novalis machte es sich neben ihr bequem und legte seinen Kopf auf ihrem Schoß ab. Er war durch die ganze Aufregung ebenfalls müde geworden. Seine Augen wurden schwer, während er ihrer Stimme lauschte wie dem sanften Harfenspiel, das er immer sonntags aus dem Nachbarshaus hörte.
    „Wo fange ich nur an? Vielleicht ganz am Anfang… Ich bin als Drache in dieser Höhle geboren worden. Wir Drachen haben alle auch eine menschliche Linie in uns, musst du wissen. Und wenn die Magie stark genug ist – und das ist sie an diesem Ort -, dann ermöglicht sie uns die Wandlung. Ich wurde von meiner Mutter aufgezogen, behütet in dieser Höhle und mit allem, was wir brauchten. Naja, fast. Das, was uns fehlte, war der Raum zum Fliegen. Und wenn Drachen zu lang nicht flogen, verkümmerten ihre Flügel. Das wusste mein Vater besser als jeder andere. Während meine Mutter regelmäßig ausgeflogen war, um uns ein sicheres Zuhause zu finden – niemand konnte ewig in dieser Höhle bleiben, du wirst es selbst bemerken -, hat mein Vater über mich gewacht. Er konnte sich nicht so verwandeln wie ich und blieb immer in seiner Drachengestalt. Als wir das bemerkten, war er nur noch ein lebendiges Wrack. Er ist zum Sterben in die Nebelschluchten geschwommen.“
    Eine Träne stahl sich aus Thres Augenwinkel und Novalis versuchte seine Schnauze ganz sanft dagegen zu drücken. Doch alles, was er erreichte, war sie anzustupsen. Sie lächelte ihn traurig an.
    „Der Teil ist wahrscheinlich weniger wichtig für dich, tut mir leid.“ Novalis schüttelte den Kopf, um ihr zu verstehen zu geben, dass es nicht das war, was er meinte. Aber Thre sprach schon weiter.
    „Jedenfalls war ich als Wandlerin aufgewachsen. Ich habe nie herausgefunden, was genau es mit dem Wasser auf sich hat, aber es hat mich immer in einen Menschen verwandelt, wenn ich hier war. Das da vorn ist die Luft aus der oberen Welt. Sobald wir eintauchen, wird alles wieder umgekehrt.“ Thre deutete auf den See vor ihnen und Novalis fiel es schwer, ihren Worten zu folgen. Sie verursachten einen Knoten in seinem Kopf. Alles daran klangt falsch. Verdreht. Umgekehrt.
    Dann musste sie plötzlich lachen. „Das ist übrigens auch der Name, den mir meine Eltern gegeben haben. Ich habe mich immer gefragt, ob du es von allein herausfindest. Aber niemand lernt aus Spaß, rückwärts zu sprechen, wenn er nicht wirklich, wirklich gelangweilt ist.“
    Thre schaute mich erwartungsvoll an und Novalis blickte ebenso erwartungsvoll zurück. Er hatte keine Ahnung, wovon sie sprach. Und in diesem Moment war er froh, dass er nicht sprechen konnte, denn er hatte wirklich nichts zu sagen als „hä“.
    „Um-gek-ehrt. Thre-kegmu.“ Thres Augen leuchteten begeistert und sie strahlte noch mehr, als Novalis erneut schnaubte. Es war ihm peinlich, dass er nicht viel eher darauf gekommen war. Immerhin hatte er mehr als genug Zeit mit ihr verbracht und wusste rein gar nichts über sie. Natürlich war die Sprachbarriere ein Grund, doch wenigstens das hätte er herausfinden können, um ihr näher zu kommen. Novalis ärgerte sich, aber dieses Gefühl hielt nicht lange an, da Thre wieder ernst wurde und ihre Geschichte fortsetzte.
    „Vor sieben Jahren ist meine Mutter gestorben. Sie war wieder auf der Suche nach einem Zufluchtsort. Aber zu dieser Zeit war es hier in der Nähe schwierig, etwas zu finden. Die Natur und die Menschen waren in Aufruhr. Der Krieg wütete noch zwei weitere Jahre und hatte vieles zerstört. Damals war ich so naiv zu glauben, dass ich sehr gut auf mich aufpassen konnte. Dabei hatte ich keine Ahnung von der Welt. Ich bin ihr heimlich gefolgt. Bis es ihr aufgefallen ist, war es zu spät. Wir waren plötzlich mittendrin und Mutter musste auf uns beide aufpassen. Das hat nicht geklappt. Sie wurde für einen feindlichen Drachen gehalten und sie haben sie ermordet.“
    Thre schwieg lange und sie strich gedankenverloren über die Schuppen des dunklen Drachen. Er versuchte in der Zwischenzeit, seine Gedanken zu sortieren, die neuen Informationen zu verarbeiten. Sein Blick durchbohrte beinahe den See in dem Versuch, dort die Luft zu sehen, von der Thre gesprochen hatte. Doch die Oberfläche wog sanft hin und her, schlug bei jedem Tropfen winzige Wellen. Alles wie bei jedem anderen Gewässer auch. Und doch konnte er nicht anders, als Thre zu glauben. Er musste es, da sich andernfalls seine Gestalt nicht erklären ließ. Und vor allem die Sorge, sich nicht mehr zurückverwandeln zu können, überwältigend wurde.
    Novalis war beinahe eingeschlafen von den zarten Berührungen der Frau, als sie endlich weitersprach. „Damals bin ich blind geflohen. Ich bin so lange geflogen, wie mich meine Flügel tragen konnten. Und dann hatte ich zweimal kurz gerastet, bevor ich noch weiter geflogen bin. Irgendwann konnte mein Körper mich nicht mehr tragen und ich bin zusammengebrochen. Das war der Moment, in dem du mich im Wald gefunden hattest.“ Ihr trauriger Blick wurde wärmer, als sie Novalis ansah. „Den Rest kennst du.“
    Die Antwort war die ganze Zeit vor seiner Nase. Oder im Spiegel. Oder im Rückwärts-Denken. Jedenfalls immer bei ihm. Die Antwort auf alles. Auf diese geheimnisvolle Höhle hier, auf Thres mysteriöses Auftauchen. Umgekehrt. Thre-kegmu. Es war so leicht und so verdammt clever, dachte Novalis.
    Ein angenehmes Schweigen umhüllte die beiden Abenteurer, während sie ihren eigenen Gedanken nachhingen. Thres Hand auf Novalis Schnauze wurde immer schwerer, ihre Bewegungen immer langsamer, bis sie ganz auf seinen bläulich-grauen Schuppen liegen blieben und nur noch Thres leises, regelmäßiges Atmen zu hören war. Ihr Kopf war zur Seite gesackt und Novalis fand, dass es nach einer sehr unbequemen Haltung aussah. Er legte sich so neben sie, wie Thre es immer in ihrer Drachengestalt getan hatte, damit Novalis sich bequem an sie lehnen konnte.
    Thres Mundwinkel zuckten, als sie Novalis‘ warmen Körper neben sich spürte und sich an ihn kuscheln konnte. Auch sie bemerkte den Witz an dieser Situation, der auch in ihrem Namen steckte. Heute war alle umgekehrt. Und für diesen einen Moment war es einfach perfekt so.

  19. Das Blitzen im Hof

    Es war einmal ein armes Mädchen, das bei einer alten Frau aufwuchs. Doch die Frau war nicht seine Großmutter, sie hatte das Mädchen als Säugling im Wald gefunden.
    Seit das Mädchen denken konnte, musste es putzen und kochen und backen und bekam dafür ein Dach über dem Kopf und durfte im Stroh bei den Eseln schlafen.
    Als sein Aufenthalt bei der alten Frau bereits ins achtzehnte Jahr ging, schleppte das Mädchen eines Morgens den schweren Wasserkrug über den Hof. Auf einmal fiel ihr ein Leuchten auf, ganz hinten in der dunkelsten Ecke neben der Scheune. Sie stellte den Krug ab und ging näher. Da lag ein Buch. Einfach so auf der Erde. Es war ein dickes Buch mit einem Ledereinband, aufwendig mit Ornamenten und goldenen Buchstaben verziert. In der Mitte des Einbandes war ein Tor eingraviert aus dem Licht strahlte als wäre es von innen beleuchtet. Das Mädchen bückte sich und wollte gerade die Hand nach dem Buch ausstrecken, um es zu berühren, als es ein Männchen sah,das sich in der Ecke zusammengekauert hatte. Das Mädchen erschrak und wich zurück. Das Männchen richtete sich auf soweit sein buckliger Rücken es zuließ und breitete die Arme aus. Als das Mädchen sah, dass es nur halb so groß wie es selber war, verlor es seine Angst. Das Männchen sprach: „Dieses Buch hat dich gefunden, weil du dafür bereit bist.“ Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Mich? Das kann nicht sein. Ich kann nicht einmal lesen.“ „Das macht nichts, es ist ein magisches Buch. Lege deine Hand darauf.“ Das Mädchen befolgte die Anweisung und legte seine Hand auf das Buch. Da fühlte es das Leuchten für einen Moment in seinem Inneren und es löste eine tiefe Sehnsucht in dem Mädchen aus, die es von irgendwoher kannte, aber nie zuvor in solcher Intensität gefühlt hatte. Dann verlosch das Licht und als das Mädchen seine Hand zurückzog, war nur noch ein geschlossenes dunkles Tor auf dem Einband zu sehen. Dafür leuchteten nun die Seiten des Buches. „Schlag das Buch auf“, befahl das Männchen und das Mädchen öffnete das Buch. Da klappte das Buch in der Mitte auseinander wie eine Schachtel und darin lag ein Säckchen aus Leinen, das mit einer Schnur zugebunden war. Das Mädchen holte es heraus und öffnete es. In dem Säckchen befanden sich drei Goldmünzen und als das Mädchen sie herausnahm, lagen drei weitere darin und so fort. „Das Säckchen stammt von einem Ort, der Sternenglanz von Apaih genannt wird“, sagte das Männchen. „Dieser Ort ist die Quelle von Fülle. So wird das Säckchen nie leer.“ „Dann will ich mir viele Münzen mitnehmen und das Säckchen der alten Frau dalassen“, sagte das Mädchen. „Das Säckchen kann nur einem gehören. Nimm es mit, du wirst für immer reich sein“, riet das Männchen. „Nein“, sagte das Mädchen. „Das kann ich nicht tun. Die alte Frau hat mich nie gut behandelt, doch ich verdanke ihr mein Leben. Sie soll gut versorgt sein.“ Das Mädchen nahm das Säckchen, trug es ins Haus und brachte es ins Schlafzimmer der alten Frau, die noch schlafend im Bett lag. Sie legte es auf dem Nachtisch ab, ging zu dem Männchen zurück und sagte: „Nun bin ich frei und ziehe in die Welt hinaus. Das Buch würde ich gerne mitnehmen, wenn es geht.“ „Ich bin der Hüter des Buches. Wenn du dich um mich kümmerst, so gehört es dir“, sagte das Männchen. Und da das Mädchen immer noch die Sehnsucht nach dem Licht fühlte, versprach es dem Männchen, was es wollte, verließ den Hof mit dem Buch unter dem Arm und lief in die Welt hinaus. Das Männchen humpelte ihm hinterher.
    Das Mädchen lief lange und hoffte auf ein Zeichen des Buches, doch nichts geschah. Das Buch leuchtete nicht mehr und sah aus wie ein normales altes Buch. So waren sie lange unterwegs. Es vergingen Tage, es vergingen Wochen, das Buch regte sich nicht. Das Mädchen kannte sich nicht aus in der Welt, doch weil es überall, wo es hinkam, genug Arbeit fand, konnte es für sich und das Männchen sorgen. Zum Schlafen fanden sie meist Platz in Ställen oder Scheunen. Etwas Besseres war das Mädchen nicht gewohnt und so war es zufrieden damit etwas von der Welt zu sehen und bereute nie seine Entscheidung, egal wie oft das Männchen ihm sagte es hätte doch das Säckchen besser mitnehmen sollen.
    Eines Tages kamen sie in die Nähe des Königspalastes. Es war viel los, da der Kronprinz seine Frau erwählen wollte und von überall her aus dem Reich hoffnungsvolle Mädchen in Begleitung ihrer Familien und ihrer Bediensteten anreisten. Das Mädchen fand Arbeit auf einem nahe zum Palast gelegenen Hof. Dort sollte eine große Gesellschaft bewirtet werden. Das Männchen musste sich in einem abgelegenen Schuppen aufhalten und darin durften sie auch die Nacht verbringen. Als das Mädchen spät am Abend den Schuppen betrat, weinte es. Den ganzen Tag hatte es gekocht und gebacken, dafür aber nicht den ausgemachten Lohn erhalten, sondern war auf morgen vertröstet worden und hatte sich noch nicht einmal an den Essensresten bedienen dürfen, sondern hatte mittags nur eine Grütze erhalten. „Es tut mir so leid, dass ich nichts zu essen mitbringen konnte“, schluchzte es. „Warum ist alles nur so anstrengend und schwer? Ich möchte auch so ein leichtes Leben haben wie die Leute, die heute auf dem Hof gespeist haben und die nun in weichen Betten liegen. Das Männchen kam auf sie zu und hielt ihr das Buch hin. „Sieh doch“, sagte es. Das Buch leuchtete. Sofort klappte das Mädchen das Buch auf und fand darin ein Stückchen Brot. Sie nahm das Brot heraus und schloss das Buch wieder. Das Brot duftete besser als all die Köstlichkeiten, die an dem Tag aufgetischt worden waren. Das Männchen sagte: „Dies ist ein besonderes Brötchen, das Brötchen der Verwandlung. Das Getreide stammt von den nährenden Ebenen der Kepoher. Und es enthält etwas Salzwasser aus den Tiefen des Umamuer Meeres. Iss es.“ „Ach nein, wir wollen es uns teilen. Du hast ja heute noch kein Essen gehabt“, sagte das Mädchen. „Das Brötchen kann nur einem gehören“, sagte das Männchen. „Iss es und du bist eine Dame, die schon morgen selber auf einem Hof speisen darf.“ Doch das Mädchen reichte dem Männchen das Brötchen. „Ich habe versprochen, dass ich für dich sorgen werde. Es ist deins.“ Da aß das Männchen und mit jedem Bissen wurde es größer. Seine eingefallene Gestalt streckte sich bis er von der Statur jeden Mann überragte, sein grauer Bart und sein graues Haar wurden weiß und glänzten. Als das Brötchen aufgegessen war, stand ein strahlender Zauberer vor dem Mädchen. „Nun kennst du meine wahre Gestalt“, sagte der Zauberer. „Als Dank für meine Verwandlung werde ich dir deinen Wunsch nach einem reichen Leben erfüllen. Der Kronprinz soll dich zur Frau nehmen.“ Das Mädchen senkte den Kopf. „Das wird er nie. Nicht einmal meine eigene Mutter wollte mich haben, wie soll irgendjemand sonst mich lieben können“, sagte es. Der Zauberer griff in seine Tasche und zog ein Fläschchen heraus. Es leuchtete von innen heraus und das Mädchen erkannte das Leuchten sofort wieder. „Dies ist das Fläschchen der bedingungslosen Liebe. Es wurde gefüllt mit Wasser aus den heilenden Quellen von Aarlang und Pohrlang und dem Leuchten der Welt hinter dem Tor. Wenn du den Kronprinzen damit besprühst, so wird er sich augenblicklich und unwiderruflich in dich verlieben und alle seine Untertanen ebenfalls.“ Das Mädchen zögerte. Der Zauberer hielt ihm das Fläschchen hin und sagte: „Nimm es und geh damit zum Palast und du wirst die Königin des ganzen Reiches werden.“ Das Mädchen nahm das Fläschchen und bedankte sich. „Ich will das nicht tun“, sagte es nach einer Weile. „Der Prinz würde mich nicht um meinetwegen lieben. Und ich sehne mich nicht danach Königin zu sein und so mein Leben zu verbringen. Das Fläschchen kann nur einem gehören.“ Sie entkorkte das Fläschchen und trank es aus. Sofort fühlte sie das Leuchten in ihrem Herzen und gleichzeitig leuchtete auch das Buch wieder auf. Als sie es erneut aufklappt, lag darin ein winziger Schlüssel. Das Mädchen wusste sofort, welcher Schlüssel es war. Es steckt den Schlüssel in das Tor auf dem Einband und drehte ihn. Da strahlte das Buch auf, wurde ganz von Licht durchflutet und wuchs empor bis es zu einem geöffneten Tor geworden war. Der Zauberer lächelte und verbeugte sich leicht. „Nun bist du bereit. Tritt ein und sei bei uns willkommen.“ Das Mädchen lächelte zurück und trat durch das Portal in eine andere Welt.

  20. Der erste Platz?!

    Echt jetzt?

    Das jedenfalls ging mir vor einer Woche durch den Kiowa, als du mir die frühe Kunde zugemacht hast, Andreas.

    Noch heute kann ich es nicht so ganz glauben.

    Und das sag’ ich nicht, weil dieses »Understatement« sich bei sowas irgendwie zu gehören scheint.

    Nein, ich war und bin wirklich von den Socken.

    Danke nochmals!

    Reimund

  21. Es gibt schon etwas Magisches daran, Geschichten einfach weiterzuspinnen, statt sie von Grund auf neu zu beginnen. Besonders die Idee, eine Gruselgeschichte zu schreiben, hat mich direkt angesprochen – diese Mischung aus Spannung und Gänsehaut fasziniert einfach! Was mich aber umtreibt: Wie bleibt man dabei originell, ohne in die üblichen Klischees abzurutschen? Vielleicht sollte man beim Weiterschreiben einfach mal die klassische Dunkelheit gegen eine helle, unheimliche Sommerlandschaft tauschen – was denkt ihr darüber?

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