Der Ich-Erzähler im Kreativen Schreiben

Ich-Erzähler, auktorialer Erzähler, personaler Erzähler … Es gibt so viele Möglichkeiten! Aus welcher Erzählperspektive solltest du deine Geschichte oder deinen Roman schreiben? Und falls du dich für den Ich-Erzähler entscheidest, wie nutzt du ihn richtig?

Die Entscheidung für einen Ich-Erzähler bietet dir besondere Chancen und stellt dich zugleich vor Herausforderungen. Wichtig ist vor allem: Es gibt nicht nur eine Art und Weise, aus der Sicht eines Ichs zu schreiben.

Entdecke, wie du die Möglichkeiten am besten nutzt, und erzähle so deine Geschichte auf die überzeugendste Weise!

Besonderheiten des Ich-Erzählers

Nach dem bewährten Ansatz von Franz K. Stanzel ist es nicht allein die Perspektive, die einen Erzähler ausmacht. Er unterscheidet vielmehr zwischen drei Dimensionen, durch welche sich dieser hauptsächlich bestimmen lässt. Neben der Perspektive sind dies die Übereinstimmung der Seinsbereiche (der Erzähler als Teil der erzählten Welt oder eben nicht) sowie der Modus (Reflektorfigur oder Erzählerfigur).

Es bietet sich also an, nicht von der Ich-Perspektive, sondern von der Ich-Erzählsituation zu sprechen. Aus deren näherer Bestimmung lassen sich die Besonderheiten des Ich-Erzählers ableiten.

Der Erzähler als Teil der erzählten Welt

In den meisten Fällen ist der Ich-Erzähler mehr oder weniger selbst eine Romanfigur. Er kann dabei im Zentrum der Geschichte stehen, indem die Hauptfigur die eigene Geschichte erzählt. Als Neben- oder sogar Randfigur verfügt er über mehr Abstand zum Geschehen. Auf einer solchen Position kann er sich vom Helden ironisch distanzieren.

Erzählendes und erlebendes Ich

Als Ich-Erzähler verdoppelt sich die Figur gewissermaßen – sie ist einerseits Erzähler, andererseits Handelnder. Der Abstand zwischen beiden kann minimal sein, indem das Ich gerade Erlebtes berichtet oder maximal, indem es am Ende seines Lebens von dessen Anfang erzählt.

Dies eröffnet zahlreiche Möglichkeiten, mit dem Leser zu spielen und Spannung zu erzeugen. Schließlich ist das erzählende Ich meist klüger als das erlebende Ich, da es bereits weiß, was kommt. Es nimmt eine bestimmte Haltung zu der erzählten Handlung ein, die sich im Erzählstil und in Kommentaren ausdrückt. Er kann sich selbst bestätigen, widersprechen und korrigieren – dem Leser wird jedes Wort nur durch eben dieses Ich vermittelt.

Eingeschränkte Perspektive und unzuverlässiges Erzählen

In der Ich-Erzählung schwingt immer auch die Behauptung mit, es stimme, was erzählt wird. Schließlich ist es ein Ich, das für seine Worte eintritt.

Doch wer garantiert, dass der Erzähler die Wahrheit sagt?

Niemand anderes als er selbst.

Diese Erzählsituation bietet somit eine ausgezeichnete Möglichkeit, das Erzählen unzuverlässig zu gestalten.

Der Ich-Erzähler kann Andeutungen machen, den Leser auf falsche Fährten locken oder schlichtweg Versionen der eigenen Geschichte erzählen, die sich später wiederum als falsch erweisen. Das Perfide daran: selbst wenn vorher Behauptetes korrigiert wird, kann der Leser nie sicher gehen, was am Ende der Wahrheit entspricht.

Möchtest du als Autor diese Möglichkeit nutzen?

Dann solltest du ein Gleichgewicht zwischen Verwirrung und Auflösung finden. Denn bei zu viel Unzuverlässigkeit kommt dir am Ende selbst der gutmütigste Leser abhanden.

Ich-Erzählung als Rollenprosa

Zwischen Autor und Leser steht der Erzähler – das wird bei der Wahl eines Ich-Erzählers besonders deutlich. Er ist das Medium, das uns die Geschichte vermittelt. Die Worte, die wir lesen, sind seine – und das sollte sich in der Wortwahl, der Denkweise und dem Erzählstil bemerkbar machen.

Bei einer Ich-Erzählung handelt es sich entsprechend um Rollenprosa. Beim Schreiben versetzen wir uns in die Situation einer bestimmten Figur und erzählen aus ihrer Perspektive, von ihrem Standpunkt aus, mit ihrer Sprache.

Flexible Distanz zwischen Erleben und Erzählen

Ein etwas genauerer Blick auf die Unterscheidung zwischen erlebendem und erzählendem Ich lohnt sich. Der Erzähler kann über die eigenen Erfahrungen sprechen, als handle es sich um die Erlebnisse einer anderen Person. Dies baut auch für den Leser eine gewisse Distanz zu der Figur auf. Er kann sich jedoch auch in das erlebende Ich hineinversetzen und sogar mit diesem verschmelzen.

Eine starke Möglichkeit, die Distanz zwischen erzählendem und erlebendem Ich aufzuheben, bildet der innere Monolog. In seiner extremsten Form – dem Gedankenfluss – befinden wir uns als Leser direkt im Kopf des Erzählers und haben an seinen Gefühlen, Einfällen, Überlegungen und auch Handlungen teil, indem wir die Tätigkeit seines Bewusstseins miterleben.

Neben der Ich-Erzählsituation lassen sich zwei weitere Formen bestimmen: der auktoriale sowie der personale Erzähler. Es handelt sich hier um Idealtypen – selbstverständlich sind alle möglichen Mischformen und Übergänge denkbar. In seinem Typenkreis versucht Stanzel diese Vielfalt an Möglichkeiten zu fassen.

Vergleich zu anderen Erzählsituationen

Der Ich-Erzähler lässt sich diesen beiden Erzählsituationen sowie dem multiperspektivischen Erzählen gegenüberstellen. So bekommen wir dessen vielschichtige Möglichkeiten noch besser in den Blick.

Ich-Erzähler und personaler Erzähler

Auf den ersten Blick scheinen sich der Ich-Erzähler und der personale Erzähler allein durch die Wahl der grammatischen Person zu unterscheiden. Doch dies täuscht.

Bei einer typischen personalen Erzählsituation handelt es sich nicht um Rollenprosa. Wir haben es nicht mit einer konkreten Figur zu tun, die ein Teil der erzählten Welt ist und die in ihrer Sprache die Geschichte vermittelt. Der Erzähler selbst tritt also zurück, die Figur wird zu einer Art Kameralinse.

Wichtig: Dieser Kontrast besteht lediglich, wenn wir die typischen Ausformungen beider Erzählsituationen einander gegenüberstellen. Selbstverständlich gibt es Übergänge, etwa indem eine Geschichte in der Ich-Form geschrieben, ein erzählendes Ich jedoch so gut wie nicht erkennbar ist. Oder indem von „er“ die Rede ist, in den Ausführungen jedoch nahegelegt wird, dass die Figur ihre Geschichte selbst zum Besten gibt, also eigentlich ein Ich die eigenen Erlebnisse vermittelt.

Ich-Erzähler und auktorialer Erzähler

Die Wahl eines Ich-Erzählers schränkt den Autor auf vielfache Weise ein:

  • Er kann nur das erzählen, was der Ich-Erzähler weiß.
  • Wortwahl und Erzählweise sollten zum Erzähler passen.
  • Die Sichtweisen anderer Figuren können nur indirekt eingestreut werden.
  • Während des Schreibens muss er ständig darauf achten, nicht gegen die selbst auferlegte Perspektive zu verstoßen.

Die Wahl eines auktorialen Erzählers eröffnet hingegen unendliche Möglichkeiten:

  • Der auktoriale Erzähler kann allwissend sein – im extremsten Fall ist es ihm möglich, von den Überlegungen einer Nacktschnecke in der Steinzeit bis zu der Endschlacht um den roten Planeten im Jahr 4399 alles erzählen, was ihm beliebt.
  • Er kann sich nach Belieben in andere Figuren hineinversetzen und ihre Perspektive einnehmen.
  • Auch der Variation in der Erzählweise sind keine Grenzen gesetzt – der Autor kann hier aus dem Vollen schöpfen.

In dieser Vielfalt an Möglichkeiten liegen sowohl Chancen als auch Gefahren.

Die Wahl eines Ich-Erzählers steckt zwar einen klaren, meist relativ engen Rahmen ab und beschränkt uns damit in Inhalt und Form. Da scheint es auf den ersten Blick attraktiv, sich durch die Wahl eines auktorialen Erzählers davon frei zu machen. Doch recht einfach kann dies auch zu Beliebigkeit führen. Dies geschieht meist, wenn dir der Standpunkt und die Perspektive, von denen aus du die Geschichte erzählst, nicht bewusst sind. Stilistische und kompositorische Entscheidungen wirken dann schnell willkürlich und die Qualität deines Romans leidet darunter.

Mögliche Übergangsformen:

  • Ein Ich-Erzähler, der sich auktorial gebärdet. Obwohl eine Erzählerfigur etabliert wird, erzählt diese doch Dinge, die sie so genau eigentlich gar nicht wissen kann. Sie fabuliert. (vgl. Mariana Leky: Was man von hier aus sehen kann)
  • Ein auktorialer Erzähler, der auf einmal als Figur in Erscheinung tritt, nachdem er sich zuvor im Hintergrund befunden und den erzählten Stoff auktorial organisiert hat. (vgl. Juli Zeh: Spieltrieb)

Ich-Erzähler und multiperspektivisches Erzählen

Das Erzählen aus mehreren Perspektiven innerhalb eines Romans ist schon längst keine Besonderheit mehr. Es ist auf ganz unterschiedliche Weise möglich, etwa

  • indem innerhalb eines grundsätzlich auktorialen Erzählens verschiedene Perspektiven eingenommen werden und diese z.B. absatzweise wechseln
  • indem mehrere personale Erzähler z.B. kapitelweise einander gegenübergestellt werden
  • indem sich mehrere Ich-Erzähler abwechseln, etwa durch das Einbinden von Briefen oder Tagebucheinträgen.

Dies ist nur eine beispielhafte Auswahl. Der genauen Ausgestaltung multiperspektivischen Erzählens sind im Grunde keine Grenzen gesetzt.

Multiperspektivische Erzählweisen versprechen Abwechslung und vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten. In diesem Sinn sind sie einem reinen Ich-Erzähler überlegen.

Bei allzu gewagten Kombinationen kann allerdings schnell die Übersicht verloren gehen und der Autor steht vor besonderen stilistischen Herausforderungen.

Ist es also besser oder schlechter, eine einseitigere Perspektive wie den Ich-Erzähler oder den personalen Erzähler zu wählen?

Das lässt sich nur von Fall zu Fall entscheiden. Letztlich ergibt sich dies aus dem Stoff sowie den ästhetischen Vorlieben und Entscheidungen des Autors.

Chancen und Herausforderungen bei der Wahl eines Ich-Erzählers

Bevor du dich dazu entscheidest, die Ich-Erzählsituation zu nutzen, solltest du deren Möglichkeiten und Gefahren kennen. Dies hilft dir, sie den Bedürfnissen deiner Geschichte anzupassen und typische Fehler zu vermeiden.

Besondere Chancen

  • Besondere Nähe zu Figuren erzeugen: Die Wahl des Ich-Erzählers bietet die besten Möglichkeiten dafür, dass der Leser sich mit dessen Erfahrungen identifiziert.
  • Spiel mit der Zuverlässigkeit: Die Distanz zwischen erlebtem und erzähltem Ich erlaubt es, Dinge mehrfach unterschiedlich zu erzählen, sich selbst zu widersprechen, zu korrigieren und den Leser zu verwirren.
  • Behauptete Authentizität: Die Erzählung eines Ichs geht mit dem Versprechen einher, dass hier einer seine eigene, wahre Geschichte erzählt.
  • Ganz spezielle Erzählweise entwickeln: Eine einzigartige Figur und ein interessanter Standpunkt, von dem aus sie die Geschichte erzählt, kann deinem Roman eine besondere Note verleihen.
  • Spannungserzeugung: Indem du aus der eingeschränkten Perspektive eines Ichs erzählst, kannst du Andeutungen machen, wichtige Informationen zurückhalten und so Spannung erzeugen.

Besondere Herausforderungen

  • Erzählstil: Wird die Distanz zum Erzählten zu stark aufgehoben, indem der Text einem wirren Gedankenstrom des Ichs gleicht, geht das Gleichgewicht zwischen Stimmigkeit und Lesbarkeit verloren.
  • Das Ich ist nicht der Autor: Manchmal kann es schwer fallen, bei der Sicht des Erzählers zu bleiben. Dann vermischt der Autor diese mit den eigenen Gedanken, Gefühlen und Worten.
  • Einseitigkeit: Fehlen die Perspektiven und Dynamiken anderer Figuren, kann eine gewisse Einseitigkeit entstehen. Dies führt beim Lesen zu Überdruss.
  • Lesenswertes schreiben: Um das Interesse des Lesers zu wecken und zu halten ist es unabdingbar, dass es sich beim Ich-Erzähler um eine interessante Figur handelt oder dieser eine außergewöhnliche Geschichte erzählt – am besten beides.

Der Ich-Erzähler im Roman – Beispiele

Ich-Erzähler ist nicht gleich Ich-Erzähler. Ein Blick auf eine gute Handvoll Romane soll deutlich machen, wie groß die Bandbreite der Möglichkeiten ist. Lass dich von ihnen inspirieren, nutze erfolgreiche Erzählmuster für dein eigenes Schreiben und mach etwas ganz eigenes daraus.

Ans Autobiographische angelehnte Erzählweisen (Günter Grass: Die Blechtrommel)

In der klassischen Lebensgeschichte blickt ein Mensch am Ende seines Lebens auf seinen Weg zurück. Nun ist er gereift, bekehrt, klüger als zuvor und erzählt aus dieser Perspektive, wie es dazu gekommen ist. Einen prägenden Impuls dieser Schreibweise bilden die Confessiones von Augustinus, die eine lange Reihe christlicher Bekehrungsliteratur nach sich gezogen hat.

Der Schelmenroman macht sich diese Struktur zu nutze und dreht deren Zweck zugleich um. Das erzählende Ich ist nur scheinbar zu einem besseren Menschen geworden, insgeheim erfreut es sich daran, all die Widrigkeiten und Schweinereien zu erzählen, die es hinter sich hat. In Günther Grass‘ Blechtrommel bildet der gnomartige Oskar Mazarath aus der Froschperspektive auf die deutsche Nachkriegsgesellschaft und entlarvt so ihre Schattenseiten. Im autobiographische Gestus des zurückblickenden Erzählers kommt das Spiel unzuverlässigen Erzählens voll zur Geltung.

Jugendliteratur (Wolfgang Herrndorf: Tschick)

In Jugendromanen findet sich häufig ein Ich-Erzähler. Der besondere Blickwinkel des adoleszenten Helden wird so intensiv erlebbar gemacht.

In Tschick gelingt es Wolfgang Herrndorf auf besonders unterhaltsame Weise, der Erwachsenenwelt eine jugendliche Denkweise entgegenzusetzen. Eine entscheidende Rolle spielt hier die Sprache.

In der Wortwahl kommt die Persönlichkeit von Maik Klingenberg zum Ausdruck, ohne dass dieses Verfahren des erwachsenen Autors anbiedernd wirkt. Hier gelingt das Kunststück, einen zum Ich-Erzähler passenden Stil zu entwickeln und trotzdem eine gewisse Zeitlosigkeit zu erreichen, indem der Autor auf allzu jugendsprachliche Moden verzichtet.

Der Chronist (Anna Seghers: Transit)

Ein Ich-Erzähler kann auch als als Figur mit einer bestimmten Geschichte in den Hintergrund treten. Er wird damit zu einer Art Chronist der erzählten Welt, indem seine eigene Geschichte nur eine untergeordnete Rolle spielt.

Dies hat den Vorteil, als Leser das Erleben dieses Ich hautnah miterleben zu können, zugleich wird der Blick jedoch auf die Schicksale der anderen Figuren oder auf das Zeitgeschehen gelenkt. Ein schönes Beispiel für diese Verfahrensweise bildet Hanna Arendts Exilroman Transit.

Briefromane (Daniel Glattauer: Gut gegen Nordwind)

Brief-, Email- oder SMS-Romane bilden eine sehr spezielle Umsetzung der Ich-Erzählsituation. Von den gedruckten Wörtern wird hier behauptet, dass die jeweilige Figur sie tatsächlich geschrieben hat.

  • Wie also drückt sich diese schriftlich aus?
  • Welche Schreibweise entspricht ihr?
  • Was motiviert sie zu diesem Schreiben?

Eine klare Antwort auf diese Fragen ist zum Gelingen eines solchen Romans entscheidend.

In dem Bestseller Gut gegen Nordwind knüpft Glattauer den Antrieb zur Email-Konversation zweier Menschen an deren gegenseitige Neugierde. Die unüberwindbare Mittelbarkeit zwischen ihnen erzeugt widersinnigerweise eine besonders große Nähe. Zwei Ich-Erzähler sind so einander gegenübergestellt. Ihre Beziehung manifestiert sich ausschließlich im Austausch von Worten und wird so für den Leser vollständig erlebbar.

Tagebuch-Romane (Bram Stoker: Dracula)

Der wohl berühmteste Tagebuchroman der Literaturgeschichte behandelt die Reise eines englischen Anwalts nach Transsilvanien. Jonathan Harker macht unwillentlich Bekanntschaft mit dem Unheimlichen und wird schließlich zum Vampirjäger.

Die Tagebuchform verleiht der Geschichte den Charakter eines Erfahrungsberichts. Indem die Distanz zwischen erlebendem und erzählendem Ich relativ gering ist, rücken wir als Leser sehr nah an die Geschehnisse. Die übersinnlichen, fantastischen Elemente des Romans verleihen dieser behaupteten Echtheit ihren besonderen Reiz.

Der auktorial operierende Ich-Erzähler (Mariana Leky: Was man von hier aus sehen kann)

Der Ich-Erzähler verfügt über eine stark begrenzte Sicht auf die Welt. Er kann im Grunde genommen nur von den eigenen Erfahrungen, Gedanken und Gefühlen erzählen. Doch er kann sich auch weigern, diese Einschränkung anzuerkennen.

In „Was man von hier aus sehen kann“ von Mariana Lekyerzählt eine junge Frau ihre Kindheits- Jugend- und Liebesgeschichte, doch überschreitet immer wieder die Grenzen ihrer Perspektive. Sie berichtet von den Gefühlen und Erfahrungen anderer Figuren, als wäre sie dabei gewesen. Dabei müssen ihr diese entweder berichtet worden sein oder – was an zahlreichen Stellen nahe liegt – sie fabuliert diese herbei.

Aus dieser Erzählweise entsteht eine eigentümliche, reizvolle Mischung: Der Leser baut eine enge Bindung zu der Erzählerfigur auf, indem er mit ihr erlebt, wie die Welt sie zu der gemacht hat, die sie heute ist. Zugleich erhebt sich die Figur aus dieser Bedingtheit und gebärdet sich, als sei sie in gewissem Sinn allwissend. So wird sie zugleich zur Schöpferin dieser Welt.

Eine Entscheidung treffen

Die Unterscheidung zwischen Ich- und Er-Erzähler mutet erst so einfach an. Wenn man dann genauer hinschaut, wird es kompliziert. Nicht nur angesichts des erzähltheoretischen Hintergrunds, sondern auch ganz praktisch.

Du hast Parallelen und Unterschiede zu anderen Erzählweisen sowie Möglichkeiten, Chancen, Herausforderungen und Beispiele der Ich-Erzählsituation kennengelernt. Nun stellt sich die Frage: Welche Form des Erzählers solltest du für deinen Roman wählen?

Es kann hier keine pauschale Antwort geben, auch wenn manch literarische Mode etwas anderes nahelegt. Nur weil eine bestimmte Erzählweise gerade en vogue ist, musst du sie noch lange nicht für dich nutzen. Denn vielleicht passt sie überhaupt nicht zu dir und zu deiner Geschichte.

Frag dich lieber, welche Erzählweise dir persönlich liegt.

Wenn du das noch gar nicht weißt, experimentiere mit unterschiedlichen Erzählsituationen herum. Schreib hierzu etwa kleine Geschichten abwechselnd aus unterschiedlichen Perspektiven.

Schau auch genau auf dein eigenes Schreibprojekt.

Wenn du dir nicht sicher bist, ob der Ich-Erzähler dafür geeignet ist, dann stell dir folgende Fragen:

  • Welche Vorteile bringt ein Ich-Erzähler für meine konkrete Story mit sich?
  • Welchen Herausforderungen muss ich mich stellen?
  • Welche Alternativen gibt es und worauf ist dabei zu achten?

Worauf genau du dich eingelassen hast, stellst du letztlich erst fest, wenn du mitten in deinem Roman steckst. Die Wahl der Erzählsituation bleibt damit immer ein Abenteuer.

6 Kommentare, sei der nächste!

  1. Lieber Andreas,

    danke für die tolle Gegenüberstellung der Vor- und Nachteile! Deinen Artikel empfehle ich auf jeden Fall gerne weiter – die Frage nach der Perspektive und deren Ausgestaltung taucht in Schreibwerkstätten ja immer wieder auf.

    Viele Grüße
    Maike

  2. Hallöle,
    bisher war da keine Option, es floss aus mir heraus, ich erzähle in Er, auch weil ich alle Freiheiten habe. Bei meinem 7. Buch „Ausgebrannt“ hatte ich das erste Mal das Gefühl doch in Ich zu erzählen, habe auch ein Kapitel einmal umgeschrieben, aber dann kamen die Zweifel, einmal muss ich den Untersucher rausnehmen, oder anders erzählen und dann ging mir jetzt durch den Kopf, ich war mal Lokführer, das wäre zu dicht an mir dran, zumal ich das nicht so erlebt habe. Das ist eine Geschichte eines Lokführers, der nach dem 10. Toten durchdreht. ich glaube ich bleibe bei er. aber ich behalte das mal im Hinterkopf für die nächsten Projekte.
    LG Frank

  3. Hallo Andreas,

    danke für diese wertvollen Tipps.

    So werden Schreiben und das Spiel mit Gedanken zur Fernwanderung der Emotionen.

    Der Weg muss mit Überraschungen aufwarten, damit die Kraft des Erlebten der Freude am Ziel ausreichend Nahrung bieten kann.
    Nun werde ich mich dem Umschreiben einer Geschichte widmen, welche ich vor längerer Zeit beiseite gelegt habe.

    Nochmals ein herzliches DANKE.

    Oskar

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