Tagebuch schreiben: Die Kraft der Selbstreflexion

von Andreas Humbert

Ein Tagebuch zu schreiben gehörte in vergangenen Jahrhunderten zum guten Ton. Eines der berühmtesten Beispiele dürfte das Tagebuch der Anne Frank sein. Seit einiger Zeit wird das Schreiben eines Tagebuchs auch als ebenso einfache wie effektive Methode der Selbstreflexion, z.B. in der Psychotherapie, immer beliebter.

In diesem Artikel erfährst du alle wissenswerten Informationen über das Tagebuch-Schreiben und bekommst hilfreiche Übungen sowie praktische Tipps an die Hand.

Tagebuch schreiben gestern und heute

Tagebuch schreiben als Therapie: Die Historie

Der US-amerikanische Psychologe Ira Progoff entdeckte die therapeutischen Möglichkeiten des Tagebuchschreibens Anfang der 70er Jahre.

Der Schüler von Carl Gustav Jung und Direktor des Instituts für Tiefenpsychologie an der Drew Universität in New Jersey veröffentlichte bereits 1975 ein Buch mit dem Titel At a Journal Workshop. Daraus entstand zwei Jahre später das Programm ‚An intensive Journal’ (1).

Mit der Zeit wurde diese ebenso einfache wie wirksame Methode der Behandlung von mentalen Problemen immer beliebter. So richtig ins Rollen kam das Schreiben als Therapie allerdings erst in den 90er Jahren.

Damals begannen Wissenschaftler, das Thema mit verifizierbaren Methoden zu untersuchen. Die meisten Studien über Schreiben als Therapieform stammen jedoch aus der Zeit nach der Jahrtausendwende.

Wie wird Schreiben für die Therapie heute eingesetzt?

Heutzutage verwenden die meisten Psychotherapeuten bei psychischen Krankheiten das Tagebuch-Schreiben nicht als alleinige Therapieform.

Stattdessen binden sie das Schreiben eines Tagebuchs als unterstützende Maßnahme in den Prozess einer Psychotherapie ein. Im Prinzip kann das Führen eines Tagebuchs jedoch jedem Menschen helfen, sich persönlich weiterzuentwickeln. So geht es unter anderem darum,

  • Gedanken zu ordnen
  • Gefühle zu erkunden
  • sich über Verhaltensmuster klar zu werden.

Tagebuchschreiben ist damit häufig eine Form des Achtsamen Schreibens. Eine besondere Form des Tagebuchs ist das Dankbarkeitstagebuch, in dem bewusst ausschließlich positive Dinge festgehalten werden, für die man dankbar ist.

Bei welchen Problemen hat sich das Tagebuchschreiben bewährt?

Schreibtherapie und ein sogenanntes Therapietagebuch hat sich bei verschiedenen psychischen Erkrankungen und seelischen Schieflagen bewährt, um unbewusste Ursachen aufzuspüren (2), hier eine Auswahl:

  • Angstzustände und Panikattacken
  • Depressionen
  • Posttraumatische Belastungsstörung (3)
  • Zwanghaftes Verhalten
  • Trauer und Verlust
  • Probleme durch chronische Krankheiten
  • Missbrauch von Drogen
  • Ess-Störungen aller Art
  • Geringes Selbstwertgefühl

Darüber hinaus lassen sich auch die Symptome von körperlichen Krankheiten mit Schreibtherapie beeinflussen. Dazu zählen:

  • Reizdarm (4)
  • Bluthochdruck (5)
  • Rheumatoide Arthritis und Asthma (6)

Studien über die Wirksamkeit

Mittlerweile haben sich zahlreiche Studien diesem Thema gewidmet. Die umfassendste Metastudie über Tagebuchschreiben als Therapie stammt aus dem Jahr 2006 (7).

Metastudie bedeutet: Die Studienautoren sichten alle bisher bekannten Studien und analysieren die Ergebnisse. Für diese Metastudie wertete die kalifornische Wissenschaftlerin Joanne Frattaroli insgesamt 146 Studien aus, die sich mit Schreibtherapie auseinandersetzen. Das Ergebnis: Diese Behandlungsmethode zeigt Wirkung.

Ein Tagebuch schreiben: 4 Übungen

Schreiben eröffnet uns Zugänge zu unserem inneren Wesen. Durch Nachdenken allein finden wir diese häufig nicht so leicht.

Beim Schreiben eines Therapietagebuchs spielt Rechtschreibung ebenso wenig eine Rolle wie korrekte Ausdrucksform. Schließlich sind die Wörter in erster Linie für die eigenen Augen gedacht und erst in zweiter Linie für den Therapeuten. Ein Therapeut wiederum ist dazu verpflichtet, das Vertrauen seines Patienten nicht zu enttäuschen und alle Informationen vertraulich zu behandeln.

Ein Tagebuch kann helfen, unerkannte Motive an die Oberfläche des Bewusstseins dringen zu lassen. Dadurch ist es möglich, Gedanken und Gefühle besser zu verstehen. Bestimmte Übungen unterstützen die Selbstreflexion bei Sitzungen mit Therapeuten und beim selbstständigen Führen eines Tagebuchs.

Persönliche Bilder

Persönliche Fotos können dazu beitragen, Gefühlen und Gedankenmustern auf die Spur zu kommen.

Suche dir Bilder von wichtigen Ereignissen in deinem Leben heraus und stelle dir beim Betrachten die Fragen:

  • „Was fühlst du?“
  • Und: „Was möchtest du den Personen auf diesem Bild sagen?“

Briefe schreiben

Manchmal hilft es auch, Probleme in einem Brief an davon betroffene Personen zu formulieren. Dabei kannst du ganz kreativ vorgehen. Du kannst ebenso an Teile deiner eigenen Persönlichkeit schreiben wie an verstorbene Menschen.

Zeit begrenzen

Diese Methode eignet sich besonders für Menschen, die zerstreut sind und sich beim Schreiben schnell überfordert fühlen. Die Zeit des Schreibens auf 5 oder 10 Minuten zu begrenzen, baut Entscheidungsdruck auf.

Diese Methode lässt sich mit zahlreichen anderen Übungen kombinieren und ist flexibel einsetzbar. Entweder stellt der Therapeut ein bestimmtes Thema in den Mittelpunkt oder du entscheidest selbst, worüber du schreiben möchtest.

Satzstämme

Eine hilfreiche Übung ist auch, bereits vorhandene Sätze zu ergänzen. Beispiele hierfür sind:

  • „Meine glücklichste Erinnerung ist…“
  • „Ich mache mir am meisten Sorgen über…“
  • „Ich kann nicht einschlafen, wenn…“

Tipps für das Schreiben eines Tagebuchs

Begibst du dich unbedarft auf deinen Schreibweg, kann dich mancher Stolperstein erwarten. Folgende Tipps stellen sicher, dass das Tagebuchschreiben für dich zu einer Bereicherung wird.

Tagebuch schreiben – Tipp 1: Privatsphäre sichern

Bewahre dein Tagebuch an einem sicheren Ort auf! Auf diese Weise stellst du sicher, dass du dir gegenüber kein Blatt vor den Mund nehmen musst.

Tagebuch schreiben – Tipp 2: Kreativ werden

Schreibe einfach drauf los, ohne groß über die Worte nachzudenken. Du musst kein literarisches Werk abliefern. Es geht nur darum, für dich wichtige Erlebnisse und Gefühle zu schildern. Bilder, getrocknete Blumen oder andere Mementos im Tagebuch können helfen, den Wortfluss in Gang zu halten.

Tagebuch schreiben – Tipp 3: Geschriebenes erneut lesen

Deine Worte helfen dir, Muster in deinem Verhalten, deinem Denken und deinen Gefühlen zu erkennen. Manchmal brauchen wir allerdings etwas Zeit, bis sich Aha-Erlebnisse einstellen. Deshalb ist es wichtig, dass du deine Einträge immer wieder durchliest – widerstehe dabei dem Drang, deine Worte zu verbessern.

Tagebuch schreiben – Tipp 4: Zeit für dich selbst

Reserviere einen bestimmten Zeitraum nur für dein Tagebuch – entweder am Abend oder am Morgen, wenn dich niemand beansprucht. Halte dich jedoch nicht sklavisch daran.

Du hast die Freiheit, jedes bewegende Erlebnis sofort in dein Tagebuch einzutragen. Idealerweise notierst du bei jedem Eintrag in dein Tagebuch nicht nur das Datum, sondern auch die Uhrzeit. So kannst du bestimmten Mustern auf die Spur kommen.

Grenzen der des Tagebuchschreibens als Therapie

Wie bei allen Behandlungsmethoden, so eignet sich Schreiben als Therapie nicht für jeden Menschen. Patienten mit neurodegenerativen Krankheiten scheiden naturgemäß häufig aus. Die Beherrschung von Lesen und Schreiben ist unabdingbare Voraussetzung für ein Therapietagebuch.

Wer ein schweres Trauma durchgemacht hat, sollte Schreiben als Therapieform nicht in eigener Regie beginnen. Bei manchen Menschen kann das Schreiben über traumatische Ereignisse die Symptome verschlimmern. Ein erfahrener Therapeut kann in diesen Fällen beurteilen, ob sich diese Behandlungsmethode eignet.

Andreas Humbert wohnt mit seiner Familie – mit seiner Frau, seiner Tochter und dem dem gemeinsamen Familienhund – in der Südpfalz. Seit 2018 schreibt er auf seinem Blog www.meinwegausderangst.de über seine persönlichen Erfahrungen zu den Themen Angst, Panik und Depressionen. Er hofft so, möglichst vielen Betroffenen Mut machen und helfen zu können.

Quellen

(1) Brunel ML. Parler de soi ou écrire sur soi : effets de ces deux procédés sur le concept de soi chez les adolescents [Talking of one’s self or writing about one’s self : effects of these processes on the concept of self in adolescents.]. Sante Ment Que. 1986;11(2):40-52. French. PMID: 17093546. (https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/17093546/)

(2) Smyth JM, Johnson JA, Auer BJ, Lehman E, Talamo G, Sciamanna CN. Online Positive Affect Journaling in the Improvement of Mental Distress and Well-Being in General Medical Patients With Elevated Anxiety Symptoms: A Preliminary Randomized Controlled Trial. JMIR Ment Health. 2018 Dec 10;5(4):e11290. doi: 10.2196/11290. PMID: 30530460; PMCID: PMC6305886. (https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6305886/)

(3) Van der Oord S, Lucassen S, Van Emmerik AA, Emmelkamp PM. Treatment of post-traumatic stress disorder in children using cognitive behavioural writing therapy. Clin Psychol Psychother. 2010 May-Jun;17(3):240-9. doi: 10.1002/cpp.670. PMID: 20013756. (https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/20013756/)

(4) Halpert A, Rybin D, Doros G. Expressive writing is a promising therapeutic modality for the management of IBS: a pilot study. Am J Gastroenterol. 2010 Nov;105(11):2440-8. doi: 10.1038/ajg.2010.246. Epub 2010 Jun 15. PMID: 20551938. (https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/20551938/)

(5) McGuire KM, Greenberg MA, Gevirtz R. Autonomic effects of expressive writing in individuals with elevated blood pressure. J Health Psychol. 2005 Mar;10(2):197-209. doi: 10.1177/1359105305049767. PMID: 15723890. (https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/15723890/)

(6) Smyth JM, Stone AA, Hurewitz A, Kaell A. Effects of writing about stressful experiences on symptom reduction in patients with asthma or rheumatoid arthritis: a randomized trial. JAMA. 1999 Apr 14;281(14):1304-9. doi: 10.1001/jama.281.14.1304. PMID: 10208146. (https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/10208146/)

(7) https://www.gwern.net/docs/psychology/2006-frattaroli.pdf

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