Eine Weihnachtsgeschichte schreiben – So geht es!

Mit großem X-Mas Story Contest (siehe die Weihnachtsgeschichten in den Kommentaren!)

Die Weihnachtszeit ist besonders schön, hektisch, traurig, langweilig und intensiv. Je nachdem, was du mit Weihnachten verbindest und wie du es erlebst. Doch in jedem Fall bietet Weihnachten eine tolle Gelegenheit dazu, einzigartige Geschichten zu Papier zu bringen.

Mit den folgenden vier Schritten wirst du eine Weihnachtsgeschichte schreiben, die deine Leser fesselt und begeistert.

DOWNLOAD: Praktische Übersicht als Arbeitsblatt (PDF) für die eigene Weihnachtsgeschichte oder zum Einsatz in Kursen/im Unterricht

Schritt 1: Die Ideen für deine Weihnachtsgeschichte

Der erste Schritt führt dich zu den besonderen Einzelbestandteilen deiner Geschichte. Dazu nutzen wir die Listentechnik zur Ideenfindung.

Nimm ein Blatt und erstelle eine Tabelle mit drei Spalten oder nutze das vorgefertigte Arbeitsblatt dafür. Schreib über die erste Spalte „mögliche Figuren“, stoppe die Zeit und notiere in zwei Minuten so viele Figuren wie möglich, die in deiner Weihnachtsgeschichte auftauchen könnten. Die Figuren dürfen ruhig ausgefallen oder langweilig sein. Du musst deine Ideen auch nicht gut finden. Notiere einfach alles, was dir durch den Kopf geht.

Schreibe nun über die zweite Spalte „mögliche Konflikte“ und fülle sie auf die gleiche Weise aus wie die erste.

In die dritte Spalte kommen „besondere Motive oder Gegenstände“, die in der Geschichte eine Rolle spielen könnten. Notiere auch hier so viele Ideen wie möglich untereinander. Stoppe auch hier die Zeit und erhöhe so den Druck. Deine Ideen müssen nicht besonders gut sein, Hauptsache ist, du lässt sie sprudeln!

Schritt 2: Das Matching

109 Kommentare, sei der nächste!

  1. Hallöle,
    Danke das du mir die Freiheit lässt, das macht dich sehr liebenswert. Weil ich kann das so nicht machen, hebe mir das aber auf. Ich habe schon was geschrieben, muss aber noch korrigieren, wenn ich richtig verstehe, hier reinkopieren, ist das richtig? Schönen Vietren Advent, Frank

        1. Liebe Gisela,
          danke der Nachfrage!
          Die Texte bleiben in den Kommentaren der Seite und sind so den Lesern zugängig. Dazu werde ich zu jedem Text meine Meinung schreiben und sie sind natürlich auch für die Meinungen anderer offen. Du solltest deine Homepage auch verlinken, so werden sicherlich einige Leser auf dich aufmerksam.
          Eine Veröffentlichung ist nicht angedacht. Dafür gibt es – je nach Teilnehmeranzahl natürlich – ziemlich große Gewinnchancen auf ein tolles Schreibseminar!
          Ich bin jedenfalls gespannt und würde mich freuen, hier eine kurze Geschichte von dir zu lesen!
          Schöne Schreibgrüße
          Andreas

  2. Der Weihnachtsmann ist blind

    Weihnachten hatte ihm in den letzten Jahren ziemlich zu schaffen gemacht. Um nicht wieder in Panik zu verfallen, versuchte er es dieses Jahr mit Atemübungen. Tief ein und aus. Durch die Nase ein, durch den Mund aus. Genauso, Friedrich, dachte er und fand langsam Spaß am Atmen. Seine Wangen und die kleine knollige Nase färbten sich rosa, wie die von Kindern, wenn sie vom Kalten ins Warme kommen. Eine Schweißperle rollte ihm über die Stirn und seine spitze Weihnachtsmütze wippte auf und ab.
    Er hatte gerade neu Luft geholt, als es klingelte. Hastig hechtete er zur Tür und riss dabei fast den selbstgemachten Adventskalender von seinem Freund Paul von der Wand. Paul war ein Maulwurf. Sie waren Freunde seit Kindheitstagen. Vor allem weil sie sich verstanden wie sonst niemand sie verstand. Denn sie waren beide blind. Für Paul war dieses Handicap nie ein großes Problem gewesen. Er lebte unter der Erde wo es sowieso dunkel war. Für den Weihnachtsmann aber, der die Geschenke verteilte, war das Blindsein eine echte Herausforderung. Jedes Jahr verlief er sich aufs Neue und musste wildfremde Menschen um Hilfe bitten, die ihn auslachten.
    Zieh‘ das dämliche Kostüm aus! Den Weihnachtsmann gibt’s nicht!
    Oft dauerte es Stunden bis er ein bestimmtes Haus oder den Weg zurückfand. Anstrengend war das und mühsam.
    Guten Morgen, Friedrich. Wie…?
    Psssssst! Hör‘ sofort damit auf Gerlinde. Niemand hier nennt mich Friedrich. Wie oft soll ich dir das noch sagen? Hehn? Ich bin der Weihnachtsmann. Auch für dich.
    Es war seine Nachbarin. Verrückt, aber von der guten Sorte. Hatte das Herz am rechten Fleck. Sie brachte ihm seine Lieblingskekse. Wie jedes Jahr vor Weihnachten. Mürbeteig mit Marzipanfüllung und Schokoladenüberzug. Mhmmmm. Er nahm ihr das noch warme Gebäck aus der Hand. Es duftete herrlich nach Butter und Vanille.
    Okaaay, ist ja gut. Wie geht’s dir denn? Bist du sehr nervös?
    Hmm, brummte Friedrich in einem so tiefen Ton, dass die Tasse auf dem Tisch klirrte.
    Geht so.
    Ach, du hast den Job die letzten 56 Jahre geschafft. Da packst du 2016 doch mit links!, rief Gerlinde und versuchte den auf halb acht hängenden Adventskalender im Flur zu retten. Vergeblich.
    Du hast ja keine Ahnung! Immer verirre ich mich und komme vom Weg ab. Letztes Jahr wäre ich beinahe ins Meer gestürzt bei dem Versuch ein Paket auf Hannes Fischerboot zu platzieren. Mein rechter Stiefel hing schon komplett im Wasser als mich ein Mädchen im letzten Moment am Arm packte und zurück ans Ufer zog.
    Ein Mädchen? Wie kann ein Kind denn diese, sie kniff in seinen mächtigen Bauch, Masse bewegen?
    Was weiß ich denn? Jetzt wo ich darüber nachdenke, kommt es mit auch merkwürdig vor, aber wenn ichs dir doch sage.
    Also ich würde SOFORT mit dir tauschen! Du siehst so viele fremde Orte und du machst Menschen glücklich. Welcher Job kann da schon mithalten? Meiner jedenfalls nicht. Gerade gestern kam wieder diese unausstehliche Kundin. Weißt du, die mit dem kläffenden Dackel…
    Der Weihnachtsmann hörte nicht länger zu. Er fragte sich, wie das kleine Mädchen es geschafft hatte, ihn aus dem Wasser zu ziehen. Seine Stiefel allein wogen ein halbes Zentner und sie war nicht älter als sechs Jahre gewesen. Wo war sie überhaupt so schnell hergekommen?

    Am nächsten Morgen war alles für seine Abreise bereit. Der Weihnachtsmann verabschiedete sich von Paul und Gerlinde, die ihm noch eine extra Portion Kekse mit auf den Weg gab, fütterte seine Rentiere, und machte sich auf den Weg nach Süden. Übermorgen würde er zurück sein.
    Alles verlief nach Plan. Seine Rentiere waren in guter Gesundheit und machten nicht einmal auf der langen Strecke von Sète nach Livorno schlapp. Er war glücklich, zufrieden und schon mit einem Bein wieder Zuhause als….
    Plumps!
    Verdammter Mist! Ausgerechnet das Geschenk von Janek. Darauf wartete der Junge schon sehnsüchtig. So ein Ärger!
    Er bremste den Schlitten. Langsam, sodass keine weiteren Geschenke herunterfallen konnten. Durchgefroren prüfte er das Gepäck. Bückte sich, lief dreimal um den Schlitten und tastete die Plane ab. Schließlich fand er den Übeltäter: Ein kleiner Riss in der Plane. Vermutlich die Zacke eines Sterns beim Vorbeifliegen. Ja, das muss es gewesen sein, dachte er. Ein Loch in dieser Größe konnte selbst der Weihnachtsmann unmöglich alleine reparieren. Wo war er? Er stellte sich vor, dass in den Häusern um ihn herum Licht brannte. Rote, blaue und grüne Lichterketten. Vielleicht auch nur schlicht weiße. Mit Sicherheit konnte er das nicht sagen. Er sah ja nichts. Bestimmt standen hier prächtige Häuser mit Säulen, die den Eingang markierten. Er stellte sich vor wie im Fenster des Hauses rechts von ihm eine dieser kleinen Kerzenpyramiden stand. Vor einigen Jahren standen diese Teile in jedem Fenster. Heute sah man sie nur noch selten.
    Er entschied sich bei diesem Haus zu klingeln. Irgendwen musste er ja schließlich um Hilfe bitten.
    Ding, dong.
    Es dauerte eine Weile bis jemand öffnete. Der Weihnachtsmann hörte Stimmen aus dem Innern, dann Schritte. Klackernde Schritte. Es musste eine Frau sein. Sie stieß einen Schrei aus als sie den Weihnachtsmann sah.
    Klaus? Bist du das etwa? Du hast dich ja, Wahnsinn! WAAAALTER! Sie dir das an! WALTER! Dein Bruder hat sich…“
    Nein, nein. Verehrte Dame, ich bin der ec…
    Walter? WAAAAALTER! Wo bleibst du denn?
    Könnten Sie vielleicht ein bisschen lei…?
    …ser sprechen, wollte der Weihnachtsmann sagen, aber das hatte keinen Sinn. Diese Frau dachte doch ernsthaft er sei der verkleidete Bruder ihres Mannes.
    Im nächsten Moment stand Walter in der Tür.
    Wieso öffnet dein Bruder seine Augen denn nicht, Schatz?
    Das ist nicht mein Bruder. So viel ist sicher. Klaus erkenne ich unter Hunderten. Wer zur Hölle sind sie? Verschwinden Sie sofort aus unseren Haus oder ich….
    In diesem Moment spürte der Weihnachtsmann noch eine dritte Person in der Tür stehen. Es war das kleine Mädchen, das ihn vor einem Jahr aus dem Wasser geholfen hatte. Sie nahm erneut seine Hand, zog ihn die Treppe hinauf in ihr Zimmer und schloss die Tür.
    Warum kannst du nichts sehen, Weihnachtsmann?, fragte sie leise.
    Ich kann sehen. Ich sehe, nur anders als du, alles vor meinem inneren Auge. Die Bäume im Schnee als wären sie mit Salz bestreut und Kinder, wie dich, die im Wald spielen. Meine Augen sind geschlossen, aber ich sehe weit mehr als Farben und Formen.
    Was siehst du?

    1. Liebe Cora,
      deine Geschichte ist sehr einfallsreich, du entwirfst eine ganz eigene Figur eines Weihnachtsmanns. Einzelne Details der Geschichte tauchen an anderen Stellen wieder auf, der Tonfall ist herzlich bis besinnlich – bei aller absurder Komik wirft die Geschichte so ein sanftes Licht auf die Festtage. Vielen Dank!
      Andreas

  3. Der kleine Engel Hope

    Gerade in der Weihnachtszeit, wenn überall Lichter glänzen und strahlen machen sich die Engel bereit für die schönste Zeit im Jahr.
    Doch weißt du wo die Engel wohnen?
    Nein? Dann hör gut zu!
    Hoch oben im Himmel, umgeben von kuscheligen Wolken stehen die Häuser der Engel.
    Im kleinsten Haus wohnt der kleine Engel Hope.
    Heute war er besonders aufgeregt, da das Christkind und der Weihnachtsmann die Aufgaben unter den Engeln verteilen. Wie jedes Jahr waren alle Engel furchtbar nervös und wussten nicht was sie tun sollten.
    Kurz bevor es los ging hörte man die Glocke des Christkindes läuten.
    „Schon bald muss es soweit sein!“ sagte sich Hope, holte seinen kleinen Mantel aus dem Schrank und machte sich auf den Weg. „Hab ich auch nichts vergessen?“ Hope blieb stehen und überlegte kurz. „Ich habe meinen grünen Mantel und meine neuen schwarzen Stiefel an, mein Haus ist sauber und aufgeräumt, die Plätzchen sind in den Dosen und mein Bett ist gemacht. Nein, ich glaube ich habe alles.“ Neugierig welche Aufgabe er wohl bekommen würde, lief er immer schneller. „Im Haus vom Weihnachtsmann warten bestimmt schon alle…“ Natürlich hatte der kleine Engel recht. Wie letztes Jahr war er wieder der letzte Engel der im Haus ankam.
    Das Christkind stand schon vor dem Haus und hielt Ausschau nach Hope. „Vielleicht ist ihm was passiert?“ dachte es. „Vielleicht sollte ich nach ihm suchen?“ Doch schon kam Hope um die Ecke gerannt. „Da bist du ja endlich mein kleiner Engel“ rief ihm das Christkind erleichtert entgegen. „Entschuldige bitte liebes Christkind, dass ihr wieder auf mich warten musstet. Ich habe mich so sehr beeilt, dass ich unterwegs anhalten musste um zu überlegen ob ich ja nichts vergessen habe. Deshalb bin ich leider zu spät“ sagte er traurig. „Ach weißt du was?“ fragte das Christkind. Hope schaute es fragend an. „Was denn?“ wollte er neugierig wissen. „Ich warte jedes Jahr bis alle Engel hier sind bevor ich die Aufgaben für Weihnachten verteile.“ Freudig umarmte Hope das Christkind und beide gingen ins Haus wo sie längst erwartet wurden. „Schon wieder müssen wir auf dich warten“ sagte ein Engel. „Jetzt sind ja alle da und wir können anfangen“ lenkte das Christkind ein und jeder begab sich auf seinen Platz.
    Der Weihnachtsmann klappte das grüne Buch mit den Aufgaben auf und las die Aufgaben nacheinander vor. Natürlich gab es Aufgaben die jeder Engel übernehmen wollte und welche die sie nicht so gerne machen wollten. Allein aus diesem Grund waren alle aufgeregt und konnten es kaum abwarten ihre Aufgabe zu erfahren. Der kleine Engel Hope hatte bisher jedes Jahr Aufgaben bekommen die er sich nicht gewünscht hatte. Dieses Jahr nahm er sich vor, keine großen Erwartungen zu haben, sondern die Aufgabe aus vollstem Herzen zu erfüllen die das Christkind für ihn aussuchen würde.
    Schließlich waren alle Aufgaben wichtig für das Weihnachtsfest!
    „Die erste Aufgabe ist die Hilfe beim Einpacken der Geschenke“ las der Weihnachtsmann vor. Das Christkind überlegte nicht lange und zeigte auf den Engel, der diese Aufgabe übernehmen sollte. „Die zweite Aufgabe ist das Überwachen der Elfen bei der Spielzeugherstellung“ ging es weiter. Und wieder kam die Entscheidung welcher Engel dies übernehmen sollte schnell.
    So ging es immer weiter während Hope aufgeregt auf seinem Platz saß und wartete bis er endlich an die Reihe kam. Viele der guten Aufgaben wurden bereits vergeben und der Weihnachtsmann las weiter. Als eine ganze Weile vergangen war hatte jeder Engel seine Aufgabe, nur der kleine Hope saß noch immer auf seinem Platz. Bei all den Aufgaben hatte er den Überblick verloren und wusste nicht mehr welche noch übrig war.
    Das Christkind bat Hope vorzutreten um zu erfahren welche Aufgabe er bekam. „Weißt du, was du tun darfst?“ fragte das Christkind. Der kleine Engel schüttelte den Kopf. „Nein, ich weiß nicht was ich machen soll“ antwortete er. „Noch eine einzige Aufgabe habe ich zu vergeben. Du, mein kleiner Engel, hast die Aufgabe allen traurigen Kindern auf der Welt ein Lächeln zu schenken“ fuhr es fort. Mit weit aufgerissenem Mund schaute Hope das Christkind an. „Wie soll ich das denn machen?“ wollte er nun wissen. „Dir fällt schon was ein“ bekam er zur Antwort und alle gingen nach Hause.
    Der kleine Engel schlenderte langsam nach Hause während er sich überlegte wie er seine Aufgabe dieses Jahr erledigen sollte. Zu Hause angekommen nahm er sich einen heißen Kakao und setzte sich auf seinen Sessel und dachte nach. „So schwer kann das doch nicht sein. Ich muss nur wissen was sich all die traurigen Kinder wünschen, dann schaffe ich das auch.“ Mit dieser Idee ging Hope schlafen. Am nächsten Morgen wachte er auf und blieb noch ein paar Minuten in seinem warmen, flauschigen Bett liegen. „Vielleicht kann mir der Weihnachtsmann helfen?“ dachte er sich und stand auf. Noch bevor er etwas anderes machte lief er los. Vorsichtig klingelte er und wartete. Nach ein paar Minuten öffnete die Frau des Weihnachtsmannes die Tür und bat den kleinen Engel ins Haus. „Guten Morgen kleiner Engel, bitte komm herein. Ich habe gerade heißen Kakao gemacht und ein paar frische Plätzchen aus dem Ofen geholt. Setz dich hin, ich bin sofort wieder da.“ Noch bevor Hope etwas sagen konnte war sie in der Küche verschwunden. Hope saß auf der Couch und wartete. Erstaunt über den frühen Besuch am Morgen begrüßte der Weihnachtsmann den kleinen Engel. „Guten Morgen Hope, das ist aber schön, dass du uns mal wieder besuchst. Hast du nicht genug mit deiner Aufgabe zu tun? Du hast ja dieses Jahr eine sehr wichtige Aufgabe bekommen.“
    „Deshalb bin ich zu dir gekommen lieber Weihnachtsmann. Ich wollte dich fragen ob du nicht eine Idee hast wie ich alle traurigen Kinder zum Lachen bringen kann?“ In diesem Augenblick öffnete sich die Küchentür und Frau Weihnachtsmann brachte heißen Kakao und frische Plätzchen ins Wohnzimmer. „Jetzt trinkt ihr beiden erst einmal eine Tasse Kakao und lasst euch meine Plätzchen schmecken. Danach könnt ihr euch überlegen wie Hope seine Aufgabe erfüllt.“
    Die beiden unterhielten sich über alles mögliche. Das Weihnachtsfest, die Lichter am Weihnachtsbaum, die Rentiere…
    „Weißt du, lieber Weihnachtsmann, ich würde gerne jedem einzelnen Kind auf der Welt die Traurigkeit nehmen. Wenn ich nur wüsste wie?! Ich fürchte, ich habe nicht genug Zeit um diese Aufgabe zu erfüllen“ traurig stand er auf und ging Richtung Tür. „Warte mal kleiner Engel!“ rief ihm der Weihnachtsmann nach. „Bitte setz dich noch einmal zu mir.“ Hope konnte nicht anders und setzte sich wieder hin. „Sag mal, du bist doch jetzt ganz traurig, oder?“ wurde er gefragt. Der kleine Engel nickte und schaute den Weihnachtsmann traurig an. „Aber wie soll mir das helfen die traurigen Kinder fröhlich zu machen?“ wollte er nun wissen. „Was machst du denn um nicht mehr traurig zu sein?“ fragte der Weihnachtsmann weiter. Hope überlegte einen Augenblick. „Also ich hoffe, dass es mir schnell besser geht und ich wieder lachen kann“ antwortete der kleine Engel. „Siehst du? Aus diesem Grund hat dir das Christkind diese Aufgabe gegeben. Welcher Engel, außer unserem kleinen Hope könnte den traurigen Kindern die Hoffnung schenken?“
    Nun begann Hope zu lachen. „Du hast Recht lieber Weihnachtsmann, mein Name bedeutet Hoffnung!“ Mit dieser Erkenntnis machte sich der kleine Engel auf den Weg nach Hause.
    Kaum zu Hause angekommen suchte er nach einem Stift und Papier und begann seine Geschichte aufzuschreiben. „Die traurigen Kinder freuen sich bestimmt über eine Geschichte über einen kleinen Engel der an Wunder glaubt“ dachte er sich. Er schrieb die ganze Nacht an seiner Geschichte, erzählte von der Aufgabenverteilung, von dem leckeren Kakao beim Weihnachtsmann und den Plätzchen und von allem was ihm so einfiel.
    Am nächsten Morgen machte er sich sofort auf den Weg zum Weihnachtsmann, schließlich hatte er ihn auf die Idee gebracht.
    Aufgeregt klingelte er und klopfte an die Tür. „Lieber Weihnachtsmann, bitte mach schnell die Tür auf. Ich weiß jetzt wie ich die traurigen Kinder zum Lachen bringen kann“ rief er laut während er immer weiter an die Tür klopfte. Als endlich die Tür aufging stürmte er hinein und begann von seiner Idee zu erzählen. Der Weihnachtsmann und seine Frau hörten gespannt zu und freuten sich mit dem kleinen Engel. Als dieser endlich aufhörte zu reden, nutzten sie die Gelegenheit um ihm eine Frage zu stellen. „Was hast du denn in der Hand?“ Mit einem Lachen auf dem Gesicht atmete der kleine Engel tief durch. „Ich habe eine Geschichte über mich geschrieben. Wenn die traurigen Kinder erfahren, dass selbst Engel nicht alle Wünsche erfüllt bekommen sind sie vielleicht gar nicht mehr so traurig“ erzählte er. „Das ist eine fantastische Idee Hope. Ich wusste, dass du eine Möglichkeit findest alle traurigen Kinder zum Lachen zu bringen“ sagte der Weihnachtsmann.
    „Kannst du mir helfen, dass jedes traurige Kind auf der Welt meine Geschichte bekommt?“ fragte Hope nun. „Natürlich helfe ich dir! Das ist die beste Idee, die je ein Engel hatte. Ich denke, das Christkind hat dir genau aus diesem Grund diese Aufgabe gegeben!“
    „Unser kleine Engel Hope schenkt den traurigen Kindern wieder Hoffnung“ fügte die Frau des Weihnachtsmannes hinzu.

    1. Liebe Nina,
      deine Pointe in der Geschichte gefällt mir sehr gut. Der Engel befreit sich aus einer scheinbar ausweglosen Lage und der Begriff „Weihnachtsgeschichte“ wird so wunderbar doppeldeutig. Vielen Dank dafür!
      Andreas

  4. Vagabund, ein außergewöhnlicher Kater
    von
    Susanne Ulrike Maria Albrecht

    Er strolchte durch die Straßen. Die nächtliche Ruhe wurde durch das Brummen eines Motors gestört und das grelle Licht blendete seine Augen. Er kniff sie bis auf einen Spalt zusammen und blieb unentschlossen im Scheinwerferlicht stehen. Er blinzelte zu einem der Gärten hinüber. Dort oben auf der Mauer würde er jetzt gerne sitzen. Mit Anlauf sprang er hoch.

    Die Umgebung einmal bei Tage durchstreifen, das wünschte sich der Kater. Seine orangefarbenen Augen leuchteten wie glühende Kohlen aus dem dunklen Gesicht und der Dunkelheit. Aber stets hieß es: Nein, Vagabund! Auf gar keinen Fall! Du darfst nur nachts raus, Vagabund! – Du bist ein außergewöhnlicher Kater. Allein schon Deines Äußeren wegen!

    Das ärgerte ihn nicht nur, sondern kränkte seine Seele.

    Was kümmerte es ihn, dass er nicht irgendein Kater der Rasse Europäisch Kurzhaar, sondern ein rauchfarbener Europäisch Kurzhaar war – ein sogenannter Smoke, der eine Rarität
    darstellte.

    Er wollte einfach nur ein Kater sein!

    Also machte er wieder einen nächtlichen Streifzug durch sein
    Reich. Wenigstens bei Nacht durfte er hier der Katzenkönig sein!

    Zu Hause zieht der Duft von frisch gebackenem Stollen, Glühwein, Bratäpfeln und Gebäck durchs Haus. Das Geraschel von Geschenkpapier, farbige Bänderreste, die auf den Boden
    gefallen sind, rote Wangen von der Kälte draußen und der Erwartungsfreude. Und alle sind außer sich vor Sorge, weil Vagabund schon seit Tagen nicht mehr daheim war.

    Im ganzen Bezirk suchen sie ihn mittels Steckbrief. Sogar eine Anzeige haben sie aufgegeben.

    Auf diese Weise wollte der Kater dem vorweihnachtlichen Festtagstrubel nicht aus dem Weg gehen!

    So fern – so nah.

    Eigentlich wollte er Weihnachten wieder zu Hause sein.

    Vielleicht schneite es genau in diesem Moment da draußen.

    Zu Hause würde er auf der warmen Fensterbank liegen, fröhlich erwachen und den tanzenden Schneeflocken zuschauen.

    Hier drinnen in dem feuchten, kalten Keller herrschte gleichbleibende Dunkelheit.

    Vagabund denkt an alle und weiß, dass auch sie jetzt an ihn denken. Die Verbindung zu ihnen bringt wehmütige Gefühle. Die Entfernung bleibt so groß, auch wenn sie gedanklich beisammen sind.

    Weihnachten ist nirgends schöner als daheim. Jetzt ist zu Hause die Zeit der Bescherung. Ganz bestimmt läuft im Fernsehen „Ist das Leben nicht schön?“, ein alter Weihnachtsfilm, den sie jedes Jahr gemeinsam anschauen. Vielleicht gerade die Szene, in der die kleine Tochter ihrem Vater erklärt, dass immer, wenn ein Glöckchen läutet, ein Engel seine Flügel erhält.

    Plötzlich hört Vagabund ein Geräusch, Schritte ertönen und es wird hell.

    Weihnachten sollte für die Menschen und die Tiere die glücklichste Zeit des Jahres sein, sagt der Mann, als er den Kater zu seiner überglücklichen Familie zurückbringt, nachdem er ihn endlich in seinem Keller entdeckt hat.

    Das weiche, warme Licht der Christbaumkerzen flackert reflektierend auf unseren Gesichtern. Wir schauen uns an. Die Eltern nicken lächelnd. Die Schwestern setzen sich abwechselnd auf den Drehstuhl und spielen auf dem Klavier „Stille Nacht, heilige Nacht“, dann „White Christmas“. Alle vier singen dazu.

    Draußen rieselt leise der Schnee und Vagabund sitzt glücklich auf der warmen Fensterbank.

    Copyright Susanne Ulrike Maria Albrecht

  5. Clara – ein Weihnachtsmärchen

    Heiligabend

    »Was ist an diesem Tag eigentlich genau heilig«, seufzt Clara, als sie mit Mühe einem Stapel Geschenke für die Kinder ausweicht, der das ganze elterliche Schlafzimmer in Besitz zu nehmen droht. Im Geiste geht sie zum wiederholten Male ihre To-Do-Liste durch: Aufräumen, Gänsebraten und Knödel zubereiten, Tisch decken, dafür sorgen, dass alle ein unvergessliches Weihnachtsfest erleben – halt wie immer…, die Clara, die macht das schon, sie ist doch so eine wunderbare Gastgeberin, stets freundlich, gut gelaunt – ganz die perfekte Ehefrau und Mutter.
    Den ganzen Vormittag verbringt sie schon alleine in ihrem Haus am Stadtrand, das Jan für sie beide ausgesucht hatte. Sie erinnert sich noch genau an seine Worte, fünf Jahre müsste das jetzt her sein: »Jetzt, wo du schwanger bist, brauchen wir etwas Größeres.«
    Sie hat zugestimmt. Vielleicht hat sie in letzter Zeit etwas zu oft „Ja“ gesagt.
    Ja, geh nur vormittags mit den Kindern auf den Weihnachtsmarkt, ich schaffe das hier schon…
    Ja, laden wir doch Oma Mina und Opa Bernhard Weihnachten zu uns ein…
    Klar kann dein Bruder David auch kommen….
    David, der sich hier wie jedes Jahr einnistet, keine Geschenke für die Kinder dabei hat und das ganze Haus durch seine arrogante Art einzunehmen scheint. Sie fröstelt bei dem Gedanken an ihren Schwager …

    Ihr Blick bleibt an der roten Küchenuhr hängen, die auch ihre besten Tage hinter sich hat.
    Im Grunde bin ich wie diese Küchenuhr, sagt Clara laut und erschrickt, als ihre Stimme im leeren Haus hallt. Sie streicht sich mit der Hand über die Stirn, ganz so, als könne sie die Gedanken einfach fortwischen.
    Das laute Schrillen der Türglocke holt sie abrupt in die Realität zurück.
    Ausgeschlossen, dass es schon die Familie ist. Hierhin verirrt sich doch eigentlich niemand – schon gar nicht an Heiligabend, seufzt Clara und öffnet langsam die Tür …

    Zuerst sieht sie gar nichts, das Schneegestöber weht eine dichte Wolke dicker Schneeflocken direkt ich ihr Gesicht, sie zuckt zusammen und weicht zurück.
    Dann schaut sie in zwei dunkle, sie interessiert musternde Augen. Der dazugehörige Mann ist groß, wenn sie es recht erkennen kann, ist er in einen weiten Umhang gehüllt und hält ihr seine Hand hin.
    »Guten Abend, Clara, ich habe etwas für dich und bitte dich, mitzukommen. «
    »Wie bitte, wie stellen sie sich das denn vor, in drei Stunden kommen die Gäste und dann ist die Bescherung, und außerdem kenne ich sie doch gar nicht. «
    Der Fremde tritt näher und streckt ihr seine Hand entgegen.
    »Es dauert nicht lange, ich verspreche es, du wirst noch rechtzeitig den Gänsebraten in den Ofen schieben können und außerdem wolltest du doch eine Ruhepause. «
    Woher weiß er das denn, denkt sie irritiert und wie von einem Magnet angezogen geht sie hinter ihm her. Was passiert hier eigentlich? Sie kann sich später nicht mehr erinnern, wie er ihr galant den Platz in diesem….nun ja, Gefährt anbietet; sanft und geräuschlos setzt es sich in Bewegung
    Clara, die stets Zuverlässige, fühlt sich leicht und leichter werden und es wundert sie überhaupt nicht mehr – das Gefährt hebt sacht vom Boden ab und schwebt durch die leise fallenden Schneeflocken über ihre Straße.
    Sie sieht ihr Haus, das Haus, das Jan für sie und ihre Kinder ausgesucht hat, sie schaut über den Marktplatz – der Glockenschlag der kleinen Kirche weht zitternd durch die Luft, die Stadt unter ihr glüht in Vorfreude auf das Heilige Fest.
    Erstaunt stellt sie fest, dass sie ganz deutlich in die Wohnstube von Oma Mina und Opa Bernhard schauen kann.
    Opa Bernhard liegt auf dem Sofa, er ist in eine warme Decke gehüllt; die Geschenke für die Enkel liegen für die Bescherung heute Abend bereits auf dem Tisch.
    »Mina, meine Liebe, die Medizin hilft diesmal gar nicht, die Schmerzen werden immer stärker«, stöhnt Opa Bernhard ganz tapfer und zieht sich die Decke bis unter das Kinn. Mina schaut sorgenvoll auf ihren Mann, mit dem sie in Freud und Leid ihr ganzes Leben geteilt hat.
    »Was denkst du, Bernhard, wollen wir den Kindern nicht sagen, wie es um dich steht?« fragt sie sanft und streicht ihm über sein graues Haar. »Nein, ich bitte dich, wir haben doch entschieden, noch so lange zu warten, bis wirklich keine Hoffnung mehr besteht, vielleicht fällt den Medizinern noch ein neues Medikament ein, das wirklich hilft. Wir wollen doch unsere Kinder nicht unnötig beunruhigen.«
    »Wenn du meinst«, antwortet Mina mit sorgevollem Blick…

    Clara sieht diese kleine Szene ganz deutlich hoch oben in dem fliegenden Gefährt, ihr Herz zieht sich ein wenig zusammen und sie schaut unglücklich zu dem unbekannten Mann, der ungerührt das Gefährt steuert.
    »Du wirst noch alles sehen«, murmelt er undeutlich und blickt sie liebevoll an.
    Der Wind pfeift und lässt die weißen Flocken tanzen, sie hört es durch das dicke Glas – wieso ist dieses Gefährt, das einem Schlitten ähnelt, so durchsichtig und irgendwie doch heimelig und sicher?

    Und schon sieht sie unter sich die Siedlung, in der David, der Bruder ihres Mannes, eine kleine Wohnung unter dem Dach bewohnt. Clara muss genauer durch die Scheiben schauen, weil nur eine Lampe brennt und ein kleiner Ofen, in dem ein Holzscheit glüht, die einzigen Lichtquellen sind.
    Sie erkennt David, der am Tisch sitzt und Papiere ordnet und irgendwie den Kopf traurig auf die Hand stützt – jetzt sieht sie, dass es Rechnungen sind, die vor ihm auf dem Tisch liegen, und es sind nicht wenige.
    Sie erkennt sofort, dass alle Arroganz verflogen ist und er nur noch traurig und hoffnungslos ist. Betroffen schaut Clara wieder den geheimnisvollen Unbekannten neben sich an und sagt mit leiser Stimme: »Jetzt wird mir klar, warum David nie Geschenke mitgebracht hat und seine materielle Not durch Arroganz verbrämt hat, er war viel zu stolz, um uns jemals von seiner Lage zu berichten.«

    Der große Unbekannte nickt nur und lenkt in einer großen Schleife das Gefährt noch ein Stück herunter, jetzt sieht Clara deutlich ihr kleines Haus am Ende der Straße.
    »Ist die Reise jetzt zu Ende«? fragt sie und spürt plötzlich ein leises Bedauern, dass diese unglaublich märchenhafte Fahrt schon vorbei sein soll.
    »Noch nicht ganz«, antwortet er und lässt den gläsernen Schlitten kurz unter der Dachrinne schweben, so dass Clara in fast alle Zimmer ihres Hauses schauen kann.
    Da ist das Schlafzimmer, vollgestopft mit den Geschenken für die Kinder; von hier oben sieht das gar nicht mehr so viel aus, eigenartig. Im Wohnzimmer steht der große Weihnachtsbaum, Jan, ihr Mann, hat ihn sicher in dem Ständer verankert.
    Er befestigt gerade die letzten Kerzen der Lichterkette und lässt zur Probe schon einmal alle Lichter aufleuchten, es sieht wunderschön aus und sie sieht ebenso ein frohes Leuchten in seinen Augen. Wie liebevoll er das macht, denkt Clara und spürt auf einmal ein warmes Gefühl in ihrem Herzen für ihren Mann, das hatte sie schon lange nicht mehr.
    Die Tür geht auf und Clara sieht ihre Kinder in das Wohnzimmer kommen, die Wangen glühen vor lauter Vorfreude.
    »Eigentlich sollt ihr das Weihnachtszimmer ja noch nicht betreten, aber wir machen heute eine Ausnahme. Kommt, helft mir jetzt bitte, eure Mutter scheint noch etwas zu besorgen, und wir wollen ihr jetzt einfach die Arbeit abnehmen. Wisst ihr eigentlich, was ihr für eine tolle Mutter habt?«
    Clara denkt, sie hört nicht richtig, ihr Herz wird immer weiter, als ihr Jüngster ganz trocken meint: »Klar wissen wir das, meinst du, das müssen wir ihr noch extra sagen?» und Melanie, ihr kleiner Lockenkopf, zeigt stolz eine Art Beutel: »Den hab ich in der Schule extra für Mama gebastelt, das war ganz schön schwer, das kann ich dir sagen…«
    Clara sieht, wie Jan seine Kinder liebevoll ansieht.
    »Dann verrate ich euch jetzt auch, was ich für Mama gemacht habe. Ich habe ihr eine große Staffelei aus Holz gebaut, ihr wisst doch, dass sie so gerne malt. Und wir – und dabei nimmt er seine Kinder in den Arm – werden ab jetzt Mama mehr helfen, damit sie einfach mal mehr Zeit für sich hat.«
    Begeistert nicken die Kleinen und ihr Jüngster holt ganz selbstverständlich das Geschirr aus der Anrichte und stellt es auf den Tisch.
    Clara schluckt und sieht den Unbekannten unsicher an, sie könnte auf der Stelle losheulen.

    Der Geheimnisvolle senkt langsam das Gefährt herunter und lässt es sanft auf den schneebedeckten Rasen vor dem Haus aufsetzen, eine aufstiebende Schneewolke hüllt es vollkommen ein.
    Ein feines Lächeln umspielt seinen Mund, als er sich Clara zuwendet und ihr in die Augen schaut: »Clara, das ist dein Weihnachtsmärchen, das größte Geschenk, das du dir selbst machen konntest – ich war nur dein unmaßgeblicher Helfer, und nun trennen sich unsere Wege.«
    Clara blickt ihn aus tränenfeuchten Augen an und meint mehr zu sich selbst:
    »Ich danke dir aus tiefstem Herzen, dass du mir die Augen geöffnet hast für das, was ich habe. Es ist doch alles da, ich habe es nur vergessen vor lauter Alltag und dem Gefühl, nur noch alleine auf der Welt zu sein. Ich habe die vielen kleinen liebevollen Gesten der Menschen um mich herum gar nicht mehr wahr genommen, offensichtlich braucht es nur einen Wechsel der Perspektive und ein offenes Herz, um die wahren Dinge zu erkennen, und du hast mir dabei geholfen – ich danke dir sehr.«
    Mit leuchtenden Augen öffnet ihr der Fremde die Glastür und Clara springt einen Schritt herunter in den Schnee.
    Plötzlich dreht sie sich um und ruft ihm zu: »Warte bitte, sag mir doch, wer bist du denn überhaupt?«
    Der fremde Freund öffnet noch einmal die gläserne Tür und ruft ihr zu:
    »Nenn mich deinen Schutzengel, dein Gewissen, deine Fantasie…wie du willst. Heute ist der Tag, an dem ich mich auf die Reise mache und die Liebe verkünde und bei dir habe ich zuerst Halt gemacht, zu laut war dein Rufen nach mir.«
    Er winkt Clara noch kurz zu, dann erhebt sich der Schlitten so leise, wie er gekommen war, in die Luft und ward nicht mehr gesehen.
    Clara atmet tief die klare Winterluft ein und geht auf die mit einem Kranz geschmückte Haustür zu. Durch die Fenster leuchteten die Kerzen des Weihnachtsbaumes mit den bunten Kugeln um die Wette, vom nahen Kirchturm schlägt die Uhr halb fünf.
    »Fröhliche Weihnachten, Clara«, sagte sie zu sich selbst und öffnet die Haustür….

    ©petrastoehr

    1. Liebe Petra,
      eine weihnachtliche Fahrt mit einem geheimnisvolle Unbekannten, die schöne Idee des Perspektivwechsels… – eine Geschichte, die uns das Besinnliche der Weihnachtszeit wundervoll vor Augen führt! Ich kann mir gut vorstellen, wie sie sich zum Vorlesen an den Festtagen eignet. Vielen Dank!
      Andreas

  6. Wenn es keine Engel gäbe …
    Eine Weihnachtsgeschichte
    Keine Spur von einer Bilderbuchweihnacht. „Leise rieselt der Schnee“, dröhnte es aus dem Kaufhauslautsprecher, während draußen der Regen unablässig in Mantelkrägen nieselte. In der Fußgängerzone dudelte eine Drehorgel. „Vom Himmel hoch, da komm ich her.“ Einen Tropfenfänger für diese Schmalzschnulzen müsste man haben, dachte Felix. Weihnachtskitsch. Bloß weg hier! – Aus der U-Bahnunterführung drangen Geigenklänge, Gesprächsfetzen, Absatzgeklapper. „Stille Nacht, heilige Nacht.“ Ein alter Mann spielte Geige. Neben ihm ein verbeulter grauer Filzhut, ein paar Münzen lagen darin. Felix zwang sich, seinen Blick von diesem unrasierten, zerstörten Gesicht zu abzuwenden, da rempelte ihn jemand an. „Kannst nicht aufpassen“, schimpfte eine schrille Stimme hinter ihm her. Einige Sekunden lang blickte Felix in die Augen des alten Geigers. Schwarze Augen, weise, unergründlich, eine Neonlichterkette spiegelte sich darin. Felix blieb stehen, wehrlos geworden für einen Augenblick. Erst, als ein Kind auf ihn zutrippelte und seine schokoladeverschmierten Finger an seiner Jacke abwischte, ging er rasch weiter.- Nix wie weg hier, heim in die Bude, Kopfhörer auf. Mit Disco-Sound zudröhnen. Weihnachten müsste man glatt abschaffen, dachte Felix.
    In der Kirche in der Nähe der U-Bahnunterführung legte der Pfarrer noch letzte Hand an die Weihnachtskrippe – eine Krippe mit fast lebensgroßen Figuren und seit fast zweihundert Jahren im Besitz der Pfarrei. Hier rückte er einen Hirten ins Licht, dort zupfte er das Moss zurecht, legte noch einen Tannenzweig aufs Stalldach, stellte Ochs und Esel näher an die Krippe. Die heiligen Drei Könige platzierte er in gebührendem Abstand zur Krippe, ihr Auftritt war ja erst am 6. Januar. Nun polierte der Pfarrer die Stalllaterne auf Hochglanz. Wer hat denn den Josef in die hinterste Ecke gestellt! Und die Engel lagen so chaotisch auf dem Stalldach, dass man meinen könnte, sie tanzten in einer Disco. Na, die Ministranten musste er sich mal vorknöpfen. Der Pfarrer gruppierte die Engelsschar nun respektvoll um eine große rote Samtschleife mit der Aufschrift: „Ehre sei Gott in der Höhe.“ Ein letzter kritischer Blick. Gut, jetzt ist alles in Ordnung. Er löschte das Licht und ging in die Sakristei.
    „Du hast es gut, Bartholomäus“, wisperte ein Engel. „Du darfst jetzt hinaus zu den Menschen. Diesmal ist das Los auf dich gefallen.“ Dieses Spiel mit den Losen hatte Petrus den Engeln nach zähen Verhandlungen schließlich erlaubt, nachdem ein befristeter Engelsstreik nicht auszuschließen war und weitere Arbeitskampfmaßnahmen zur Debatte standen. Bartholomäus strich sein weißes Engelsgewand glatt, fuhr lässig mit der Hand durch seine schwarzen Locken, rief noch: „Ich werde Euch alles ganz genau erzählen.“ Und fort war er.
    „Hm, wer hat wohl in diesem Jahr eine gute Tat am nötigsten“, überlegte Bartholomäus. Unschlüssig flog er von Fenster zu Fenster. Hier lag eine alte Frau im Bett, niemand sonst war im Zimmer – hinter dieser Gardine wimmerte ein fieberkrankes Kind – da saß ein Mann ganz allein vor seinem Fernsehapparat, und durch das kleine Fenster der Dachkammer sah der Engel einen jungen Mann im Sessel, einen Kopfhörer auf den Knien. Da glitzerte doch etwas in seinen Augen! Das war kein Kerzenschein, kein Neonlicht. Waren es Tränen? Bartholomäus war überzeugt: „Diesem Menschen musst du helfen!“ Doch, als er sein Spiegelbild in der Fensterscheibe sah, wurde ihm klar, dass er unmöglich in seinem Engels-Outfit an der Tür des jungen Mannes klingeln konnte. Der würde sofort seine Tür zuknallen. Kurz entschlossen flog Bartholomäus in eine dunkle Häusernische und montierte, nicht ohne Mühe, seine Engelsflügel ab. Dann ging er zielstrebig auf eine Boutique zu und trat ein. Die Verkäuferin hatte Mitleid, dass er bei so einem scheußlichen Wetter im dünnen Engelshemd auf dem Weihnachtsmarkt auftreten müsse und reichte ihm ein Glas Glühwein zum Aufwärmen. Hübsch war sie, mit ihrem kurz geschnittenen Pagenkopf, den Grübchen und dem teilnahmsvollen Blick, und Bartholomäus bedauerte zum ersten Mal in seinem über zweihundertjährigen Leben, ein Engel zu sein. Die junge Frau riet ihm zu schwarzen Jeans, schwarzen Boots, einer schwarzen gefütterten Jacke und einem schwarzen T-Shirt mit der Aufschrift: „Don`t worry! Be happy!“
    An der Wohnungstür von Felix klingelte es Sturm. „Verdammt, wer ist denn das“, murmelte er zerstreut. Sobald die Wohnungstür geöffnet war, legte Bartholomäus los: „Hey, hab Dich gestern in der Disco gesehen. Du bist ein Klasse Discjockey. Würd gern mal mit Dir Deine Musik hören. Ach so, ich bin der …. Barry.“ Der Engel hielt es für geraten, sich zu seinem neuen Outfit auch einen passenden Namen zuzulegen. „Komm rein“, sagte Felix überrascht und ging zu seinem Mischpult. Barry lümmelte sich in einen Sessel, wie er es vorhin durchs Fenster bei Felix gesehen hatte. Aus den Boxen dröhnte Techno-Musik. „Echt irre“, rief Barry, das ist ein ganz anderer Sound, als bei uns …“ (Beinahe hätte er gesagt „…bei uns in der Kirche.“ Nachdem die Beiden fast eine Stunde lang Musik gehört hatten, schaltete Felix die Geräte aus. Einen Moment lang herrschte Stille. „Hast Du Familie“, fragte Barry. „Ja, aber…, will nicht nachhause. Hab vor einem halben Jahr meine Arbeit verloren, und vor zwei Wochen hat mir meine Freundin gesagt >Es ist aus>. Der Weihnachtsschmus, der bei meinen Eltern ist, geht mir auf den Keks, verstehst Du?“ Lange schwiegen die Beiden. Schließlich schlug Barry etwas unsicher vor: „Aber wie wär`s mit einem Anruf bei Deinen Eltern? Nur, dass sie wissen, dass Du noch lebst.“ -„Denke, das werde ich machen, wenn Du wieder weg bist“, meinte Felix mit einem leichten Zögern in der Stimme. Lässig strich sich Barry durch die schwarzen Locken, die Lichterkette vor dem Fenster spiegelte sich in seinen Augen. Schwarze Augen waren es, weise und unergründlich.
    Am Christtag strömten die Menschen in die Kirche. „Uns ist ein Kindlein heut gebor`n“ sang der Kirchenchor, begleitet von brausenden Orgelklängen. Der Pfarrer bahnte sich einen Weg durch die Schar der Ministranten und durch die Menschenmenge, vorbei an der Krippe. Eine prächtige Krippe haben wir, dachte er nicht ohne ein Quäntchen Stolz. Aber, was war denn das? Über einem blütenweißen Engelshemd prangte ein schwarzes T-Shirt! „Don`t worry! Be happy“, las der Pfarrer halblaut. – Diese Ministranten! Natürlich will es wieder keiner gewesen sein.

    1. Liebe Ingeborg,
      ich finde die unterschiedlichen Perspektiven interessant, die in deiner Geschichte stecken: Felix, der Pfarrer, Bartholomäus. In deiner Geschichte kommen auch die Seiten von Weihnachten in den Blick, die hinter der Fassade aus Glitzer und Harmonie lauern.
      Schöne Schreibgrüße!
      Andreas

  7. O Tannenbaum

    Das Absingen weihnachtlichen Liedguts hatte in unserer Familie schon immer Tradition.
    So auch dieses Weihnachten.
    Pünktlich um zwanzig Uhr – vor der Bescherung – stellten wir uns gestiefelt und gespornt um den Tannenbaum auf.
    Die allgemeine Unlust vor der jährlich wiederkehrenden Prozedur wurde durch dümmliches Grinsen kaschiert.
    Mutter gab den Einsatz und fing an, ganz zaghaft „O Tannenbaum“ zu intonieren.
    Wir anderen stimmten verlegen mit ein.
    Die letzte Zeile – „wie grün sind deine Blätter“ – wurde hirschmäßig geröhrt, quasi als Befreiungsschlag und Schlussakkord der lästigen Singerei.
    Doch weit gefehlt:
    Das blöde Lied hatte noch weitere Strophen, und unsere Mutter brachte uns durch messerscharfe Laserblicke zum Weitersingen.
    Da ich den Text nicht kannte, synchronisierte ich ihn ad hoc durch melodisches Lallen und dadaistische Silbenakrobatik; mir stand der heilige Schweiß auf der Stirn.
    Aber auch diese Qual hatte einmal ein Ende.
    Ich wollte mich grad in einen Sessel fallen lassen, da wurde „Ihr Kinderlein kommet“ angestimmt.
    Also glotzte ich den Baum an und sang mit.
    Von Beschaulichkeit keine Spur; ich zermarterte mir das Hirn, ob dieses Ritual dämlich war oder ich einfach nur verklemmt.
    Ich hatte jetzt acht Strophen Zeit, um über mein Leben nachzudenken und darüber, warum bei mir keine Kinderlein gekommen sind.
    Es war seltsam, je länger die Singerei andauerte, umso mehr verlor ich das Gefühl für den Augenblick; ich transzendierte sozusagen in ein Gefilde tannenbaumgeschwängerter Wolkenformationen, hinter denen alle Personen, die ich jemals kennengelernt hatte, alterslos hervor lugten.
    Doch bevor ich darüber reflektieren konnte, riss mich ein lautstarkes „Stille Nacht“ in die Gegenwart zurück.
    Komischerweise versuchte ich jetzt richtig zu singen und sogar eine zweite Stimme zu modulieren. Den anderen erging es ähnlich, und unsere vokale Darbietung konnte man schließlich mit Fug und Recht als inbrünstig bezeichnen, wir sangen uns die Seele aus dem Leib, dass der Tannenbaum erzitterte.
    Jetzt gab es kein Halten mehr:
    Wir schmetterten vierstimmig die göttliche Weise „Alle Jahre wieder“, und was schon immer an vokalistischer Brillanz in uns schlummerte, kam jetzt elysisch aus uns herausgeströmt. Die Familie verschmolz zu einer nie da gewesenen universalen Einheit, die sich in einem wahren Sturzbach tränenreicher Verzückung manifestierte.
    Noch einmal „O Tannenbaum“ und noch einmal „Ihr Kinderlein kommet“, wir surften auf einer Welle kosmischer Empathie.
    Nach einer nicht zu bestimmenden Zeit entrang sich nur noch asthmatisches Keuchen unseren Kehlen und wir sanken glückselig hernieder.
    Wir sahen einander an und beschlossen mehr telepathisch als verbal, heute Nacht die Christmette aufzusuchen und in großer Gemeinschaft unisono dem Wunder und der Herrlichkeit des Lebens zu huldigen.
    Leider lag ein ganzes Jahr vor uns, dass uns durch seinen profanen Alltagsschwachsinn die bewegenden, ursprünglichen Momente vergessen lassen würde.
    Vielleicht sollten wir öfter unsere Emotionen teilen, nicht nur an Feiertagen?

    1. Lieber Ratsch,
      ich musste beim Lesen deiner Geschichte laut auflachen. Eine tolle Dynamik, die sich entwickelt! Eine witzige Idee, anhand der Lieder entlangzuschreiben. Einer meiner Favoriten!
      Schöne Schreibgrüße
      Andreas

  8. Die letzten Weihnachten

    Timm nahm das Papier, die Seiten, die mit ihrer krakeligen Schrift beschrieben waren in die Hände und begann zu lesen.
    Erst wollte er gar nicht suchen, ihren Kram nicht Durchsuchen, aber da waren die vielen Bilder, da war die Unordnung und damit konnte er nicht leben, obwohl, sie ihm auch wahnsinnig fehlte. Nicht die Unordnung, nein sie, aber beides hing miteinander zusammen, war nicht zu trennen. Er hatte sich arrangiert, es ging irgendwie, wenn sie nur glücklich geworden wäre.

    *

    Es war kurz vor Weihnachten, sie saß im Wohnzimmer, der Junge, damals ein Jahr jünger, krabbelte am Boden und schob eine Holzlok vor sich her. Dabei brummte und brabbelte er Unverständliches, oder sagen wir, was nur die Eltern, vielleicht, verstehen würden.
    Genau wie Hundebesitzer das Gebelle des Hundes einordnen können, wütend, drohend, meldend, bittend.
    Sie war wieder tief gesunken, in ihre Grube, sie nannte das nicht Loch, es war eine Grube. Dort war es kalt und fast dunkel, es war wenig wahrzunehmen, nur wenn sie nach oben blickte, sah sie ein wenig Licht.
    Licht am Ende des Tunnels?
    Ja, wie aber hier rauskommen, wie dem Schmerz entfliehen, der ihre Seele zu zerreißen drohte, der Hunger, der so wehtat, aber auch das Anwidern vor jedem Essen, das sie sah. Sie wusste nicht, woher das kam, ja erst hatte sie versucht, durch Hungern besser auszusehen, aber auch zu zeigen, mir geht es schlecht.
    Das sah aber niemand, das wollte niemand sehen. Warum sah das keiner, auch Timm, ihr Mann sah das nicht. Warum liebte der sie nicht, warum hatte er ihr denn dieses Kind gemacht, das dort oben herumkrabbelte, das sie merkwürdigerweise sehen konnte, obwohl in einer Grube, konnte man nur sehen, was draußen vorging, wenn man über den Rand schaute, aber sie hatte den Rand mindestens einen Meter über sich.
    Sie sah den Jungen, den er ihr gemacht hatte. Na ja Timm war nicht böse, das war keine Gewalt gewesen. Aber er wollte ein Kind, einen Sohn, sie aber wollte kein Kind, warum auch, sollen die so ein Scheißleben leben, wie sie es hatte.
    Also doch Gewalt?
    Die Schmerzen die niemand fand, das sich Zurückziehen, das nicht mehr wollen, für das es keine Hilfe gab, egal wo sie hingingen. Auch so ein Scharlatan, der hatte eine Anhängung an ihr abgelöst, irgendein Verwandter, der an ihr baumelte, ein Toter, so ein Quatsch aber auch.
    Timm glaubte an so einen Mist, aber es ging ihr eine Zeitlang besser, das stimmte, sie konnte viel malen, schrieb ein paar Geschichten, eher Gedichte, eines davon hatte Timm sogar mit Musik versehen.
    Das war schon schön, aber wer interessierte sich schon für ihre Kunst, wer sich für sie!
    Timm, ja der wollte Sex, nein nicht nur, das wäre ungerecht, er war lieb, kümmerte sich um sie, auch sehr um den Jungen, wenn sie nicht konnte oder arbeitete. Dann konnte er nicht arbeiten oder er arbeitete mit dem Jungen zusammen. Der trommelte, oder blies in eine Mundharmonika, schräges Zeug, aber Timm übte dazu, als wenn ihm das Falsche und das Schräge nicht interessierte.
    Dafür regte er sich immer auf, wenn Bill Wyman den Einsatz bei den Stones nicht fand, der wäre ein Profi, verdammt, das musste doch gehen. Er wäre halb so gut, aber so etwas passierte ihm nur, wenn er besoffen war.
    „Vielleicht ist Bill ja besoffen, was weist du denn“, konterte sie ihm daraufhin. Er lächelte sie dann an und gab ihr recht, ach wie hasste sie das, warum gab er ihr immer Recht, wollte der doch nur Sex und log deshalb?
    Sie musste das Kind austragen, sie hatte sich abgewöhnt Blage zu sagen, das hatte ihr Timm verboten, der liebte den Jungen über alles, wenn er mich nur so liebte, dachte sie immer. Und sie dachte dann auch nicht mehr Blage, sie gewöhnt sich an, an das Kind zu denken, oder der Junge, nie dachte sie mein Kind oder mein Junge.
    Den wollte er haben, den musste sie 9 Monate mit sich rumschleppen, den musste sie aus sich rauspressen, Mann tat das weh, waren das Schmerzen. Als sie ihn dann im Arm hatte, kamen kurzzeitig so was wie Muttergefühle, aber das war nur kurz, zu solchen Gefühlen war sie nicht fähig. Das ging nicht, warum, keine Ahnung.
    Das fanden auch die Ärzte nicht, weder im Kopf, noch in der Seele. Nur der eine Typ, fand diese Anhängung oder Besetzung, sie wusste nicht mehr, wie der das nannte. Das war dann weg und irgendwie war einiges dann gut, aber nicht lange. Dann fiel sie wieder in ihr Loch, in ihre Grube zurück und das war kurz vor Weihnachten.
    Sie haste dieses Gehabe um den Heiland, der da geboren ward, das war doch alles bloß Kommerz. Das ging doch nur um Geschenke kaufen, um Absatz, Umsatz und alles hatte sich dem unterzuordnen.
    Alle mussten Geschenke kaufen und keiner wusste so recht was, denn alle hatten alles, und was sie nicht hatten, wenn die Farbe zum Malen alle war, oder die Leinwand, dann kaufte man Neue, wenn man konnte und wenn nicht, dann malte sie auf Pappe, oder auf Sperrholz, egal was sie fand.
    Aber malen ging doch immer, wenn nur diese Kritiker nicht wären. Vor allem die aus dem Kunstverein, dem sie beigetreten war. Diese hinterhältige Bärbel, die aus dem Vorstand, die rumratschte, tuschelte und tratschte, was sie für einen Mist malte. Dabei hatte sie gar keinen Anspruch irgendwer zu sein, Picasso oder Modersohn.
    Nein sie malte, weil sie nicht anders konnte, Malen war Therapie, wenn sie das Unglück herausgemalt hatte, ging es eine Weile, bis es wieder losging, nein das war es nicht. Dennoch sehnt sich jeder Mensch nach ein klein wenig Beachtung.
    Die gab ihr Timm auch, manchmal übte er auch bei ihr, nahm die Akustikgitarre und spielte was, derweil sie malte, das war schön, aber dass das extra komponiert war, dass er dabei auch arbeitet, das bekam sie nicht mit.
    Er tadelte sie nie, wie ihre Eltern. Da war immer was falsch, da war nicht richtig aufgeräumt, egal wie sie sich Mühe gab, da war dies und das nicht richtig. Da hätte ein Einser sein Können, und nicht der Zweier. Sie war nur in der Kunst wirklich gut, im Zeichnen, auch Singen, das störte den Eltern.
    Das war brotlose Kunst, da verdiente man nichts, man musste was Ordentliches lernen, wenn man was werden wollte im Leben. Sie lernte ja nicht schlecht, sie war ja nicht dumm, Mathe 3, Deutsch 3, Biologie und Chemie sogar 2.
    Aber wofür war das alles gut, der Phytagoras, wofür brauchte man das im Leben?
    Sie wollte ja nichts werden, was sollte sie werden?
    Aber auch in der Schule war das so, immer gab es nur Kritik, nie gab es Lob, nichts war genug, immer musste es mehr sein. Vor allem im Sport, sie hasste Sport, das Rumgehüpfe, das Rumgerenne nach der Stoppuhr, die bescheuerten Ballspiele, fangen ging ja noch, da wurde die Feinmotorik besser, aber Handball?.
    Da gab es ein oder zwei Talente, die hatten nur den Ball und egal wo sie positioniert war, sie hatte immer die Arschkarte. Im Tor bekam sie keinen Ball gehalten, obwohl sie die der Anderen fast immer hielt und als Feldspieler bekam sie nie den Ball.
    Sie war nicht so schnell und hatte eine leichte Schwäche im perspektivischen Sehen. Sie konnte also schlecht abschätzen, wo der Ball genau hinging, und erreichte ihn auch oft nicht, weil sie das falsch einschätzte. Anstatt zu motivieren, wurde getadelt.
    Das demotivierte weiter und ihre Eltern halfen ihr auch nicht, sie fand kein Ohr, also zog sie sich zurück, spielte oft krank und fand so richtig in diese Rolle rein.
    Nun wieder das Scheißfest, Timm hatte schon alles geschmückt, draußen die Lichterketten, den Baum hatte er auch schon besorgt, der lag auf der Terrasse und der Adventskranz stand auf dem Tisch. Es brannten vier Lichter. Dieses Jahr war der Heiligabend auf einem Samstag, also hatte sie noch eine Woche, es muste eingekauft werden, ein Plan wurde gemacht, wann was sein wird, wo sind wir am 24., wo am 25. und am 26.. Ihre Schwägerin machte wieder Terror mit dem Essen, sie ist vegan.
    Wie krank ist das, wie geht das überhaupt, das war krank für sie, obwohl auch sie mit dem Essen auf Kriegsfuß stand. Viel Fleisch ass sie nicht, es schmeckte ihr nicht, vieles schmeckte ihr nicht, dann ass sie eben nichts oder nur eine Kartoffel.
    Aber immer die gleiche blöde Frage, was ist denn da drin, als wenn man Scheiße reintäte. Dabei gab es nur Bio bei ihnen, fast nur, wenn das Geld knapp war, schon mal nicht.
    Arme leben ungesund und sie waren nicht reich. Wenn genug Geld da war, gab es nur Bio, oft aus Sonderangeboten, des Biomarktes, halber Preis, das was andere nicht mehr nahmen, aber das reichte für sie, sagte Timm. Ja, eklig war das schon, aber dann ass sie nichts, sie machte keinen Terror.

    *
    .
    Einen Moment hielt Timm beim Lesen inne und dachte, „und wie das Terror war.“ Welche Mühe er sich gab, damit sie essen konnte und dann, doch nichts ass. Aber er wusste auch, dass sie nicht anders konnte, er liebte sie, er hätte alles für sie gemacht. Ihm schien, ihr hing wieder irgendwas an, aber das Geld war nicht da und seine mentale Kraft reichte nicht aus.
    Wenn er nur wüsste, wie er ihr helfen könnte, auch wenn sie dann weggegangen wäre, weil sie ihn nicht mehr brauchte.
    Seine Augen füllten sich mit Tränen und er ließ sie laufen, er wollte jetzt kein Piano, keine Gitarre, um ein trauriges Lied zu spielen, einen Blues, oder Einen zu schreiben, nein er wollte jetzt heulen.
    Sie war weg, für immer weg, warum nur verdammte Scheiße. Er spürte ein wenig Schuld in sich hochkrauchen, nein er hatte keine, aber das Gefühl kam hoch. Er hatte doch alles getan, was er vermochte. Er hatte so gehofft, der Junge würde sie fortreißen aus ihrem Loch, Grube sagte sie, er sagte Loch.
    Scheißweihnachen, er wischte sich die Tränen mit dem Ärmel fort, so sehr hätte er sich gewünscht, sie hätte so gemeckert, wie seine Mutter mit seinem Vater, wenn der sich den Schweiß oder den Rotz mit dem Ärmel abwischte.
    Nein sie meckerte nicht, sie fand keine Krümel, keine Fussel, sie meckerte nicht, wenn die Ecken rund gesaugt oder gewischt waren, wie das seine Mutter mit dem Vater tat, bei ihm traute die Mutter sich das nicht, obwohl er das mal mitbekommen hatte.
    Sie beschimpfte seine Frau, sie sagte mal, die Schlampe müsste das doch machen. Das tat weh, sehr weh, ja vielleicht hatte sie recht, aber sie konnte nicht, seine Frau konnte das nicht, meistens.
    Manchmal ging das und dann war sie richtig gut. Dafür fing der Junge an zu putzen, als er krabbeln konnte und Wörter fand, schmutzig, und wischte auf.
    Einmal waren sie einkaufen, beim Neuland und da waren die Glasvitrinen beschlagen, da fing er an mit, „schmutzig“.
    Der Opa war dabei, der gab ihm ein Taschentuch und nun fing der Junge an zu wischen. Das rief große Heiterkeit hervor, der Opa frotzelte, „bisschen mehr Mühe geben“, alles grinste und freute sich über den kleinen Putzer und es gab ein Wienerle.

    *
    Die vierte Kerze, Scheißkerze, nun ging es bald los, der Stress dachte sie und ihr wurde noch schlechter. Das geschenke, der sinnlose Kram, wenn er wenigstens nutzen würde.
    Parfum, dieser Gestank, der sich Hanell nennt, der nur stinkt , diese blöden Verlegenheitsgeschenke, weil man den anderen nicht kannte, nicht wahrnahm, was der mochte.
    Timm bekam immer irgendwelche Bücher, obwohl der nur ein Buch im Jahr las, was nicht mit Musik im Zusammenhang stand. Und sie bekam immer Musik, irgendwelcher Mainstreammist, die Hischer oder die Herg, oder sowas.
    Dabei hatte sie Musik zu Hause. Wenn sie die wollte, setzte sie sich zu Timm und malte dabei, oder hörte nur zu.
    Manchmal ging sie auch ins Studio mit, hörte nur zu, oder sang sogar Background. Ihre Stimme war schön, einen Song hatten sie sogar mit ihr aufgenommen, er war nicht perfekt, aber Timm liebtet ihn, weil sie ihn gesungen hatte.
    Er versprach ihr, wenn er mal alleine eine Platte aufnahm, wäre der Song drauf. Was hatte sie davon? Viel lieber hätte sie ein wenig Beachtung für ihre Malerei.
    Die nächste Artroom machte sie nicht mehr mit, sie wollte nicht mit diesen Mobberrinen in einem Raum hängen, die Köter oder auch Katzen, die den neben sich, einfach verbeißen wollen. Am Ende hätte das sowieso keinen Sinn, was sollte das. Was sollte dieses Leben, warum war das so?
    Dann kam der Junge mit seiner Eisenbahn zurück aus seinem Eisenbahnland und sah die Mami so traurig sitzen. Die Mami war traurig. Hatte er was getan?
    Er krabbelte, so schnell er konnte, zu ihr hin: „Mami, Mami,“ und begehrte auf ihren Arm zu kommen. Nein nicht schon wieder, aber sie konnte doch nicht anders, sie nahm den kleinen Mann, der wohl, was mitbekam, was mit ihr war.
    Vielleicht sah der ja sogar ihr Elend, kleine Kinder sehen noch Dinge, die wir nicht mehr wahrnehmen und schmiegte sich ganz fest in den Arm der Mama, an ihre Brust. Sie spürte den kleinen Körper zittern, schluchzen, spürte den festen Druck der kleinen Arme, die sie nie loslassen wollen würden.
    Und wieder kam diese Frage, warum hatten ihre Eltern sie so fallengelassen. Da gab es keine Antwort für sie und irgendwie spürte sie, dass sich Weihnachten vielleicht doch lohnte, für ihn, dem, der nichts dafür konnte, das er da war, genau wie sie. Nichts dafür konnte, zu leben, obwohl Timm immer sagte, man suche sich sein Leben aus, man sollte was lernen, was denn bitte schön?
    Vielleicht reicht es auch nur aus, da zu sein, mit ihrem Sohn, dem Mann, der soviel tat, eigentlich alles, und es wird doch einmal schön, irgendwann.

    *

    Hier konnte Timm nicht mehr. Es war wieder der vierte Advent, wieder einmal, diesmal war das sogar der Heiligabend und er war allein. Die Türe ging auf, der Junge kam herein und sah seinen Papi aufgelöst da sitzen, ging zu ihm hin, nahm ihn in den Arm und sagte: „Papi, ich bin doch da, wir beide“, und schmiegte sich ganz fest an den Papa.
    Ja dachte Timm, du bist da, ich bin da, wir gehen da jetzt einfach durch, wir scheißen auf die hysterische Schwester, auf den ganzen Weinachtsscheiß und hauen einfach ab. Aber erst musste er noch einmal mit dem Kommissar reden, so einfach verschwinden konnte er nicht. Er dachte so an die Berge, den Fichtelberg oder so.

  9. Die Bilder in den Büchern

    Das kleine Mädchen blickte aus dem Fenster und fragte sich, warum die Straßen nicht so weiß waren wie in den Büchern, die ihre Großmutter ihr geschenkt hatte. Sie hatte die Tage gezählt. Und eigentlich sollte genau heute die ganze Stadt weiß werden. Doch die Welt vor ihrem Fenster war so grau wie die Tage zuvor.

    „Wenn die Welt nicht weiß wird, dann finde ich heute Abend vielleicht ein kleines Päckchen vor meiner Tür.“, dachte sich das kleine Mädchen, denn auch das hatte sie in den Büchern gesehen. Ein dicker roter Mann würde an die Tür klopfen und eine bunte Schleife würde das Geschenk zieren.
    Und so wartete das kleine Mädchen bis es dunkel wurde. Doch es klopfte niemand. Sie ging ab und an vor die Tür, um nachzuschauen, doch sie fand nur den grauen Sand, der seit Tagen schon vor der Tür lag.

    „Wenn ich kein Päckchen finde und die Welt nicht weiß geworden ist, dann sehe ich vielleicht einen wunderschön geschmückten Baum auf dem Marktplatz.“, dachte das kleine Mädchen hoffnungsvoll. Und so ging sie durch die Straßen und suchte den Baum. Doch es war dunkel und grau und alle Bäume, die sie fand, lagen kaputt auf den Wegen der kleinen Stadt.

    Als das Mädchen wieder zu Hause war, schaute sie sich die Bücher ihrer Großmutter noch einmal genau an. Dort waren singende glückliche Menschen zu sehen. Und jetzt fiel dem kleinen Mädchen auch wieder ein, warum an dem heutigen Tag nichts von dem passiert war, was in dem Buch stand.

    „Es gibt hier niemanden mehr, der die Welt weiß machen, ein Päckchen vorbei bringen, einen Baum schmücken, singen und lachen kann.“, dachte das kleine Mädchen traurig. Und so blickte sie wieder aus dem Fenster und dachte lange nach. Als sie schon fast eingeschlafen war, erinnerte sie sich, dass im Schrank ihrer Großmutter noch etwas weiße Farbe und schöne bunte Kugeln lagen.

    „Wenn niemand da ist, der die Geschichte aus dem Buch wahr machen kann, dann muss ich das wohl selbst machen.“, dachte sich das kleine Mädchen. Und so ging sie durch die Stadt, malte alles weiß an, schmückte einen kleinen Baum mit den schönen bunten Kugeln und sang ein Lied, das sie in den Büchern gelesen hatte. Sie lächelte und als sie wieder zu Hause angekommen war, lag ein kleines Päckchen mit einer bunten Schleife vor der Tür.

    Neugierig machte sie das Päckchen auf und fand darin ein neues Buch. In dem Buch war ein kleiner Hase abgebildet, der viele bunt bemalte Eier versteckte. Und so blickte das kleine Mädchen wieder aus dem Fenster und zählte die Tage bis die Welt grün werden würde und ein Hase vorbei käme, der dann die schönen Eier versteckte.

  10. Das Schneepferdchen

    „Ich glaub, ich werd verrückt“, dachte Henry, als er das Schneepferdchen zum ersten Mal sah.
    Es war kurz vor Weihnachten. Und wenn Henry seinen Eltern glauben konnte, dann hatte es noch nie so viel Schnee um diese Jahreszeit gegeben. Papa fluchte, denn er war beruflich viel mit dem Auto unterwegs. Mama sorgte sich ständig um seine Sicherheit.
    Aber Henry fand es toll. Dick eingepackt spielte er stundenlang draußen.
    Auch an dem Tag, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Gerade hatte er mit dem Bau eines Iglus begonnen, da huschte ein Etwas von den Eibenhecken zum Walnussbaum.
    Henry schob sich die Mütze nach hinten, um besser sehen zu können. Und glaubte, seinen Augen nicht zu trauen.
    Unter dem Walnussbaum stand ein Pferd.
    Aber kein gewöhnliches Pferd, sondern eines aus Schnee. Und es war gerade mal so groß wie eines dieser Barbie-Pferde, welche die Mädchen in Henrys Klasse so toll fanden.
    Das Pferdchen scharrte mit den Hufen, dann senkte es den Kopf und fraß etwas Schnee.
    Ganz vorsichtig erhob sich Henry, denn er wollte das seltsame Wesen nicht erschrecken. Und noch viel vorsichtiger näherte er sich ihm.
    “Hallo, hab keine Angst”, flüsterte er.
    Das Pferdchen wich zwar zurück, flüchtete aber nicht.
    Henry legte etwas Schnee auf seine Hand. Die streckte er dem Pferdchen entgegen.
    Zögerlich und mit zuckenden Ohren kam das Schneetier auf ihn zu.
    Schnapp!
    Blitzschnell hatte es die kleine, weiße Kugel von Henrys Hand genommen.
    “Ja, das schmeckt dir. Das ist lecker.”
    Und um dem Pferdchen zu zeigen, dass es wirklich lecker war, nahm auch Henry etwas Schnee in den Mund.

    “Bin ich hihihihia am Nordpol?”
    Henry spuckte vor Schreck den Schnee aus.
    „W-was ha-hast du gesagt?“, stotterte er. Das Pferdchen sah tatsächlich so aus, wals würde es etwas sagen, aber Henry hörte keinen Ton.
    Das Pferdchen legte den Kopf schief und sah den Jungen nachdenklich an. Dann stippte es seine Schnauze in den Schnee, sah wieder zu Henry, stippte, schaute.
    War es möglich, dass Henry mit ihm reden konnte, wenn er Schnee im Mund hatte?
    Schnell stopfte er sich die Backen damit voll. Und tatsächlich!
    “Ob ihihihich am Nordpol bin?”
    “Hmpf, noin.” Es war nicht leicht, deutlich zu sprechen wenn man den Mund so voll hatte. Henry versuchte es mit weniger Schnee.
    “Neun, wihahaso neun?” Das Schneepferdchen schüttelte seine Mähne und tänzelte um Henry herum.
    “Ich wollte sagen, dass du nicht am Nordpol bist.”
    “Nihihicht am Nordpol? Und wihihihi komme ich da hin?”
    “Gar nicht. Das ist zu weit.”
    Da senkte das Schneepferdchen seinen Kopf und kleine Wassertropfen rannen aus seinen Augen. Henry hatte solches Mitleid mit ihm, dass er seine Handschuhe auszog und ihm über den Rücken streichelte. Ganz glatt fühlte der sich an. Und eisig kalt. Ohne lange zu überlegen, versprach er dem Pferdchen, ihm zu helfen. Sofort wurde das Pferdchen wieder fröhlich. Gemeinsam spielten sie noch lange miteinander, bis es dunkel wurde und Henry ins Haus musste.

    An diesem Abend konnte Henry lange nicht einschlafen, denn er überlegte hin und her, wie er seinen neuen Freund zum Nordpol bringen könnte. Das Schneepferdchen hatte ihm erzählt, dass es dort ganze Herden seiner Art gab. Im ewigen Eis galoppierten sie so weit sie ihre Hufe trugen. Durch einen dummen Zufall war nun ausgerechnet Henrys Pferdchen auf eine Eisscholle geraten, die vom Gletscher abbrach. Das nennt man “kalben”, erklärte das Pferdchen, was lustig klingt. Aber es ist gar nicht lustig, wenn man als Schneewesen vom Gletscher fällt und ewig auf einer Eisscholle auf dem Meer herumtreibt.
    Irgendwann aber traf die Scholle auf Land. Und zum Glück für das Pferdchen hatte ein früher und schneereicher Winter eingesetzt, denn sonst hätte es verhungern und zerschmelzen müssen. Und so war es gelaufen und gelaufen, aber den Nordpol, den hatte es noch nicht wiedergefunden.
    Henry hatte es nicht übers Herz gebracht, dem Pferdchen zu erzählen, dass es sogar in die völlig falsche Richtung gegangen war. Es sah schon immer betrübt genug aus, wenn es von seiner fernen Heimat erzählte.

    Am nächsten Tag war Henry sehr unaufmerksam in der Schule. Und auch seine Mutter wunderte sich, dass er beim Essen so schweigsam war. Kaum hatte er seine Hausaufgaben fertig, zog er sich auch schon an, um wieder raus zu gehen.
    Er machte sich große Sorgen, denn es hatte schon in der Nacht angefangen, zu tauen. Überall rannen kleine Bäche Schmelzwasser.
    Mit dem Mund voller Schnee, lief Henry im Garten umher und rief nach dem Pferdchen. Schließlich fand er es neben dem Komposthaufen. Es sah irgendwie dünner und kränklich aus.
    “Mihihia ist so heiß”, jammerte es. Henry kam es so kalt wie immer vor. Aber es fühlte sich auch etwas glitschig an. Das Pferdchen taute! In dem Moment kam die Sonne hinter den Wolken hervor. Ein Sonnenstrahl traf auf das Pferdchen. Es glitzerte und wieherte vor Schmerzen auf.
    Auch Henry ergriff Panik. Was konnte er tun?
    Er befahl dem Pferdchen, dort zu bleiben, wo es war. Dann rannte er ins Haus.
    “Mama, ich brauche den Kellerschlüssel!”
    Natürlich wollte seine Mutter wissen, wozu er den Schlüssel brauchte. Mütter wollen schließlich immer alles wissen.
    “Ja, also, ich mache da Weihnachtsgeschenke.” Das war eine Notlüge. Henry hoffte, dass das klar ging. Denn eigentlich log er nicht gerne. Viel zu kompliziert. Aber noch komplizierter wäre es gewesen, seiner Mutter den wahren Grund zu verraten.
    In der nächsten Stunde trug er Schnee in den Keller. Damit polsterte er das größte Fach im Gefrierschrank aus. Dann legte er ein kleines Lager an sauberem Schnee an, denn er brauchte ja Vorräte, um sich mit dem Schneepferdchen zu unterhalten. Auch, wenn ihm mittlerweile die Zähne weh taten.
    Ganz zum Schluss holte er das Pferdchen selbst.
    Um ein Haar wäre das schief gegangen, denn gerade, als Henry hinunter in den Keller wollte, kam sein Vater früher als gewohnt von der Arbeit.
    “Na, Junge, so geheimnisvoll”, meinte er im Hauseingang.
    Hinter Henrys Rücken zappelte das Pferdchen. Und am Boden bildete sich eine kleine Pfütze Tauwasser.
    “Das muss ja eine Riesenüberraschung sein, die du da versteckst. Soll ich mal nachsehen?”
    Natürlich neckte ihn sein Vater nur, aber Henry wollte nur eines, nämlich schnellstens in den Keller.
    Als das Pferdchen den Gefrierschrank sah, weigerte es sich zuerst, dort hinein zu gehen. Es stemmte seine viel zu dünnen Beinchen in den Boden und schüttelte sein Haupt.
    “Nihihihi geh ich da rein. Nachher vergisst du mich!”
    “Ich vergesse dich schon nicht. Und wenn es kalt genug ist, dann bringe ich dich auch wieder raus. Aber jetzt musst du vernünftig sein. Außerdem habe ich einen Plan.”
    Da beruhigte sich das Pferdchen. Folgsam begab es sich in das Kühlfach.
    “Also, ich habe mir überlegt, dass ich dich in einer Kühlbox zum Nordpol schicke. Aber ich weiß noch nicht, wo ich eine passende Kühlbox herbekomme.”
    Und das war noch das kleinste Problem, wie die beiden feststellen mussten.
    Denn an wen sollte man das Pferdchen senden? Es nutze ja nichts, wenn man einfach “Nordpol” als Adresse angab. Doch wie viele Menschen kannte Henry am Nordpol? Keinen. Auch die Kosten würden vermutlich hoch ausfallen.
    Ohne die Hilfe eines Erwachsenen würde es nicht gehen.
    Henry fasste sich ein Herz und ging zu seinem Vater.

    “Papa, ich muss was zum Nordpol schicken.”
    “Was denn, mein Junge?”
    Henrys Vater schaute von der Zeitung hoch.
    “Ein Schneepferdchen.”
    “Ja, klar. Was auch sonst.” Jetzt blätterte er eine Seite um.
    “Nein, im Ernst. Es kann hier nicht überleben!”
    “Henry, du magst ja wegen Weihnachten aufgeregt sein, aber ein Schneepferd? Da geht deine Fantasie mit dir durch. Und jetzt würde ich gerne die Zeitung zu Ende lesen, ja?”
    Wütend und enttäuscht trat Henry gegen den Sessel, in dem sein Vater saß.
    “Henry! Es reicht. Nachher glaubst du auch noch an den Weihnachtsmann, oder was?”
    Unten im Keller berichtete Henry dem Schneepferdchen, was sein Vater gesagt hatte. Mutlos knabberte der Junge an einem kleinen Schneeball herum. Doch das Pferdchen wieherte fröhlich.
    “Wihihihi genial! Der Weihnachtsmann bringt mich zurück! Dein Vater ihihihist ein kluger Mann.”
    Fast hätte Henry sich am Schneeball verschluckt. Als ob er noch an den Weihnachtsmann glaubte!
    “Es gihihihibt mich, das hättest du auch nicht geglaubt, oder?”
    Ja, so gesehen mochte das Pferdchen recht haben. Schnell ließ sich Henry von dessen Begeisterung anstecken. Aufgeregt entwickelten sie einen neuen Plan.
    Dann am Weihnachtstag, trug Henry allen Schnee, den er noch finden konnte, zusammen. Hinter dem Komposthaufen errichtete er damit einen stattlichen Hügel, den er oben abflachte. Darauf sollte das Schneepferdchen stehen, damit es mit nur einem Sprung auf dem Schlitten des Weihnachtsmannes landen konnte.
    Um die Rentiere für Sekundenbruchteile zum Halten zu bringen, schichtete er einen weiteren Haufen auf. Diesmal mit allem, von dem er annahm, dass Rentiere es mögen würden. Da lagen Mohrrüben, altes Brot, Zuckerstücke und sogar der Feldsalat, den es eigentlich am ersten Weihnachtsfeiertag zum Essen geben sollte. Das würde Ärger geben, aber das war es Henry wert.
    Kurz vor der Bescherung lief Henry dann in den Keller. Seine Eltern lächelten milde, dachten sie doch, er würde nun die Geschenke heraufholen. Sie fragten auch nicht nach, als er mit der Kühlbox in den Garten lief. Kinder…
    Doch ihr Sohn huschte schnell zum Komposthaufen und setzte das Schneepferdchen dahinter ab. Es wieherte leise und erklomm den Schneeberg.
    “Also, dann.”
    Mehr konnte Henry nicht sagen, denn sonst hätte er losgeheult. Das Schneepferdchen war ihm ans Herz gewachsen. Und sich vorzustellen, es nie wieder zu sehen, war einfach zu viel für ihn.
    Das Pferdchen selbst war auch bedrückt.
    “Vihihihilien Dank!” Dann schmiegte es seinen Kopf an Henrys heiße Wange. Tauwasser vermischte sich mit Tränen.
    “Sehen wir uns mal wieder?”
    “Vihihihileicht.”
    Mit einem dicken Kloß im Hals rannte Henry ins Haus zurück.

    Alle Geschenke waren ausgepackt, das Weihnachtsessen verzehrt. Die Eltern hatten etwas komisch geguckt, als sie jeder nur eine kleine Karte bekamen. Wozu hatte ihr Sohn dann Stunden im Keller zugebracht, fragten sie sich. Und warum starrte er die ganze Zeit aus dem Fenster.
    Henry beobachtete den Garten. Plötzlich sah er etwas, das ihn am ehesten an das Polarlicht erinnerte. Genau hinter dem Komposthaufen. Dann verblasste das Licht langsam.
    In diesem Moment rief seine Mutter verblüfft: “Seht euch das mal an, da steht unsere alte Kühlbox unter dem Baum. Wer hat die denn da hingestellt? “ Kopfschüttelnd sah sie ihren Mann an, aber der kämpfte mit dem Knoten der Krawatte, die er dieses Mal geschenkt bekommen hatte.
    Aufgeregt näherte sich Henry der Kühlbox. Darin lag ein großes Buch mit vielen Bildern – über den Nordpol. Henry strahlte heller als der Weihnachtsbaum.

      1. Hallo Andreas, danke allgemein für die Idee mit den Weihnachtsgeschichten. Und danke für deinen Kommentar. Ich hatte viel Spaß beim Schreiben. Und auch zu lesen, was andere zu „Papier“ bringen, fand ich schön und inspirierend.
        Ich wünsche ein schönes und wortreiches neues Jahr.
        Gruß
        Karin

  11. große bescherung

    zu diesem weihnachtsfest hat mir mein freund etwas ganz besonderes mitgebracht. er kam mit riesigen paketen beladen zur tür herein. es waren vier. eines war recht groß und die anderen wurden kleiner wie matrjoschkas, die man ineinander stecken kann. er legte sie vorsichtig unter den baum. rote schleifen waren herum gewickelt. klebeband lehnt er ab. er ist perfektionist. legt jede kleine ecke vom papier sorgfältig nach innen. es fällt schwer, sich an diesen perfekten gebilden zu vergreifen. immer hat man das gefühl, einen fehler zu machen. am falschen ende anzufassen. pack aus! sagte er und baute sich neben dem baum auf. die pakete schienen sich zu bewegen. die goldenen kugeln auf dem papier hüpften unmerklich auf und ab. vorsichtig zupfte ich am schleifenband. begann an der linken unteren ecke des pakete zu ziehen. die linke untere ecke ist die achillesferse von geschenken. da findet man immer einen zipfel. ich zog daran und das papier begann sich zu lösen. eine frau stieg heraus. sie war etwas größer als ich, hatte kurze blonde haare und eine lücke zwischen den oberen schneidezähnen. sie schüttelte sich, stand auf, gab mir die hand und sagte: guten abend. ich heiße antje und bin krankenschwester. wie schön, antwortete ich, schüttelte zurück, wie schön. jetzt aber auch die anderen pakete! rief sie munter. wieder zupfte ich am geschenkband, wickelte es sorgfältig um die hand und legte es zur seite. dann dreimal die linke untere ecke … aus den papierhüllen stiegen ein mädchen, ungefähr sechzehn jahre, ein junge im alter von zwölf und zum schluss ein kleiner junge. er war ungefähr sechs. das mädchen gab mir die hand und sagte: fröhliche weihnachten. der mittlere junge sagte nichts, blickte zu boden und schob mir seine hand hin. ich griff daneben. der kleine junge klammerte sich an ein bein meines freundes und fragte: was will die hier. ich wohne hier, wollte ich sagen. aber da sangen die geschenke und mein freund schon das lied vom tannenbaum und seinen grünen blättern. sie fassten sich an den händen und bewegten sich um meinen kleinen mickrigen christbaum. ein tannenbaum hat keine blätter sagte ich laut. na und, sagte der kleine junge, du bist selber doof. wollt ihr kartoffelsalat fragte ich und wusste, dass ich mit diesem zwerg keine freundschaft schließen konnte. die frau, die antje hieß und krankenschwester war, fasste meinen freund an der hand und sagte nachsichtig: wir essen keinen kartoffelsalat. wer ist wir wollte ich wissen. da begann sie zu lachen. du verstehst aber auch gar nichts. geschenke kann man auch wieder zurück geben, wandte ich ein, wenn sie einem nicht gefallen. dann muss man sie aber wieder einwickeln, sagte der mittlere sohn und grinste hämisch. er konnte also doch sprechen. meine mama ist krankenschwester und klebt dir den mund mit pflaster zu, sagte der kleine. mein freund tätschelte ihm die schulter und sagte: na, na. ich wusste nicht, wie ich es dir sagen sollte. was? fragte ich. dass jetzt alles anders ist. anders? ja. ich dachte, du würdest dich freuen, sagte er. ja. ich kann es nur nicht so zeigen. man bekommt eben selten … so große geschenke.

    1. Liebe Klara,
      dein Titel ist schön doppeldeutig und der Leser ist gezwungen deine Geschichte sehr genau zu lesen. In einer Art Gedankenfluss entwickelst du eine ganz eigene Art des Erzählens. Vielen Dank!
      Andreas

  12. Ein Hauch von Zimt

    Es war ein kalter, nasser Novembertag als Rina Fuhrwerk von der Arbeit nach Hause kam. Im Büro waren alle schon in Weihnachtsstimmung, doch Rina konnte sich so gar nicht darauf freuen. Es war ihr einfach zu warm und zu nass draußen. Außerdem nervte sie die permanente Flut an Weihnachtssüßigkeiten, die schon im September die Läden füllten.
    Rina parkte ihren Wagen am Straßenrand, als sie etwas kleines, Pelziges unter ihr Auto huschen sah. Vorsichtig hockte sie sich vor den Wagen und sah nach. Zwei riesige, grüne Augen starrten sie ängstlich an.
    „ Hallo Mieze. Da kannst du aber nicht bleiben. Husch, husch. Weg da. Such dir einen anderen Platz.“
    Die Katze dachte aber nicht daran ihr trockenes, warmes Plätzchen zu verlassen. Sie legte die Ohren an und fauchte.
    „ Ok, ich verstehe. Lass dich nicht überfahren.“ Rina schloss ihr Auto ab und ging dann zu ihrer Haustüre. Als sie aufschließen wollte entdeckte sie die Katze im Gebüsch neben den Mülltonnen.
    „ Hey, du folgst mir, Katze. Ich habe aber keine Zeit für dich. Suche dir jemanden anderes.“
    In ihrer Wohnung dachte sie noch lange an die Katze, aber in Rinas Leben war kein Platz für Tiere. Oft musste sie Überstunden machen und manchmal auch den Chef begleiten. Wer sollte sich da um ein Haustier kümmern?
    Am anderen Morgen hatte Rina es eilig, da sie spät dran war und an die Katze dachte sie dabei nicht mehr. Aber als sie aus der Haustüre kam, hüpfte ihr ein feuchtes Fellbündel vor die Füße. Das Tier mauzte leise und forderte Rina durch Reiben an den Beinen auf, es zu streicheln.
    „ Katze, ich kann nicht. Ich muss zur Arbeit. Tut mir leid.“ Die junge Frau kraulte das Tier kurz hinter den Ohren, die Katze aber kratzte an ihrer Hose. Dann schlich sie um Rinas Füße und stupste sie immer wieder an.
    „ Bitte, du Fussel, ich kann jetzt nicht. Geh weg.“ Rina bückte sich und wollte die Katze erneut streicheln, die aber hatte anders im Sinn. Bevor Rina reagieren konnte, hatte sie einen blutigen Striemen auf dem Handrücken. „ Aua, das tat weh. Was sollte das? Ich wollte dich nur streicheln.“
    Die Katze war in Deckung gegangen und beobachtete Rina aus sicherer Entfernung. Da sie nicht mehr kommen wollte, stieg Rina in ihr Auto und fuhr zur Arbeit. Ihre Kollegin Stefanie entdeckte den Striemen und erzählte von ihrer Katze Leo.
    „ Ich habe Leo schon acht Jahre. Kratzen tut sie mich auch noch heute hin und wieder. Desinfizier das, dann passiert nichts.“
    Den restlichen Tag dachte Rina nicht mehr an das Tier, sie hatte genug im Büro zu tun und brauchte einen freien Kopf.
    Am späten Nachmittag musste sie noch einkaufen, denn Morgen war Samstag und ihre Schwester Cathrin hatte sich mit Mann und Tochter zum Adventskaffee eingeladen. Während Rina ihren Wagen so durch die Regale schob, musste sie plötzlich wieder an die Katze denken. Ob sie Hunger und deshalb schlechte Laune hatte? Rina packte einige Dosen Katzen Futter mit ein. Wenn das Tier nicht mehr da war konnte sie die Dosen immer noch ihrer Arbeitskollegin geben.
    Zu Hause angekommen, parkte sie den Wagen wieder an gleicher Stelle. Von der Katze war aber nichts zu sehen. Schade, dachte Rina. Ich fing gerade an sie zu mögen.
    An der Haustür musste sie die Tüte absetzen, um ihren Schlüssel zu suchen. Als sie sie wieder aufheben wollte starrten sie zwei grüne Augen aus dem Gebüsch neben der Tür eindringlich an.
    „ Oh, da bist du ja? Hast du Hunger? Ich habe da was für dich.“
    Die Katze folgte ihr vorsichtig, aber auch neugierig ins Treppenhaus. Rinas Wohnung inspizierte sie schon dreister und warf sich demonstrativ auf das Sofa. Als Rina in der Küche das Futter in ein Schälchen füllte, kam sie wieder an und mauze fordernd. Die junge Frau spürte die Krallen durch die Jeanshose.
    „ Hey, ist ja gut. Das ist doch für dich.“ Gierig verschlang die Katze das Futter, das Rina ihr auf den Boden gestellt hatte. „ Du bist aber hungrig? Lange nichts bekommen, was? Ich frage mich, ob du ein Zuhause hast oder nicht?“ Sie betrachtet das Tier, konnte aber keine Tätowierung entdecken. „ Weißt du was, morgen rufe ich im Tierheim an. Vielleicht wirst du vermisst. Wenn nicht, müssen wir uns was einfallen lassen. Ich kann keine Katze halten, Mieze.“
    Nach dem Essen kratzte die Tigerin an der Haustür und Rina ließ sie wieder raus. „ Du brauchst deine Freiheit, nicht? Verstehe ich. Ich denke da wie du.“
    In der Nacht hörte sie es leise unter ihrem Schlafzimmerfenster mauzen. Rina aber hatte keine Lust aufzustehen. Gegen Morgen war es dann wieder ruhig und Rina fragte sich, ob sie die Katze verärgert hatte. Sie ließ sich nicht blicken, als die junge Frau letzte Besorgungen machen musste. Auch bei ihrer Rückkehr war sie nirgends zu sehen. Traurig ging Rina wieder in ihre Wohnung.
    Ihre Schwester hatte sich Zimtsterne gewünscht. Zuerst war Rina versucht, welche zu kaufen. Aber das würde Cathrin sicher merken und sie damit bis ins Neue Jahr aufziehen.
    Der Teig war rasch verknetet und kurz darauf roch es schon nach Zimt und Vanille in ihrer Küche. Ein Duft, der auch noch andere anlockte, wie sie feststellen musste. Vor ihrer Balkontür miaute es fordernd. Erstaunt stellte Rina fest, dass es die Katze von gestern war. „Wie bist du denn hier rauf gekommen? An der Wand hochgehen kannst du sicher nicht.“ Rina blickte über die Brüstung und stellte fest, dass das Tier offensichtlich über den Baum vor ihrem Wohnzimmerfenster auf den Balkon geklettert war. Ein Ast ragte genau in Richtung Geländer.
    „ Du bist aber klug. Jetzt hast du sicher Hunger. Warte, ich gebe dir was.“
    Ihre Schwester war sehr erstaunt, eine Katze bei Rina zu sehen. „ Du und eine Mieze? Ich dachte, du hast keine Zeit für Tiere? Unseren Hund wolltest du nie betreuen, wenn wir in Urlaub gefahren sind.“
    „ Sie ist mir zugelaufen. Heute Morgen saß sie auf meinem Balkon. Ich frage mich, woher sie den richtigen gefunden hat.“
    „ Tiere sind klug. Die wissen, wer sie mag oder nicht. Was hast du nun mit ihr vor?“
    „ Ich weiß nicht. Für ein Tier ist mein Leben zu unbeständig. Herrn Seidler muss ich ja auch hin und wieder begleiten. Wer soll sich dann um sie kümmern?“
    „ Ich!“ rief Annelie. „ Ich mache das.“
    „ Du bist fünf, Annelie“, mahnte Cathrin ihre Tochter. „ Deine Tante muss das selber regeln. Außerdem ist noch nicht klar, ob sie nicht jemandem gehört. Hast du schon angerufen?“
    „ Nein. Habe ich nicht geschafft. Hole ich Montag nach. Vielleicht sollte ich Plakate aufhängen. Wer vermisst Tigerkatze.“
    „ Gute Idee. Ich helfe dir dabei.“
    Am anderen Tag verteilten sie die ersten Zettel in der Nachbarschaft und früh am Montagmorgen rief Rina im Tierheim an. Doch niemand schien eine Tigerkatze zu vermissen.
    Cathrin riet ihr, die Katze vom Tierarzt nach einen Chip untersuchen zu lassen. Was Rina auch umsetzte. Aber auch der Arzt fand keinen Anhaltspunkt für einen Besitzer. „ Vermutlich ist sie ausgesetzt. Warten sie noch etwas. Wenn sich dann keiner meldet, kommen sie nochmals für einen Check.“
    Weihnachten kam, aber niemand interessierte sich für Fussel, wie Rina die Katze nannte. So blieb das Tier bei ihr, was sie sehr freute. Für Rina begann nun ein anderes Leben. Ihre Schwester würde sich um das Tier kümmern, wenn Rina verreisen musste. Und jeden Tag erwartete sie vor der Türe eine kleine Tigerkatze, die von nun an ihr Leben teilte.

    1. Liebe Sigrun,
      die Unermüdlichkeit der Tigerkatze überträgt sich scheinbar auf die Unermüdlichkeit, als die Katze plötzlich vermisst wird. Das ist ein schönes Muster. Rinas Entwicklung gibt der Geschichte eine interessante Dynamik. Vielen Dank!
      Andreas

  13. Leben in Nylon

    Conny stand hinter der alten Frau an der Kassa und hatte es eilig. Tausende Dinge jagten ihr durch den Kopf, die sie noch zu erledigen hatte. Eindeutig die Schuld des Fernsehers, der den Menschen suggerierte, dass man zu Weihnachten einen gefüllten Truthahn essen musste, fluchte es in ihrem Kopf. Amerikanischer Quatsch! Und sie hatte den Stress, einem Rezept nachzujagen und die extravaganten Zutaten zu besorgen, die man mit Sicherheit nicht im Standardrepertoire in der Küche hatte. Sie hatte keine Lust, sich am Tisch wieder anhören zu müssen, dass nur bei ihnen nie etwas „Gescheites“ auf den Tisch käme. Conny raufte sich nervös durch ihre kurzen, dunklen Haare und lockerte den dicken, roten Schal um ihren Hals, der ihr plötzlich eine Hitze in den Kopf trieb, die nicht auszuhalten war! Die betagte Dame vor ihr legte ihre Dinge in einer Ruhe aufs Band, die Petra nervös von einem Bein aufs andere steigen ließ. Sie musste nicht zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sein. Sie hatte sicher niemanden zuhause, der fordernd auf sie wartete. Sie war klein, zierlich und wirkte sehr zerbrechlich, wie sie mit zittrigen, abgearbeiteten Fingern, lang-sam die Dinge aufs Band legte: Eine Flasche Kräuterbitter, ein Seelenlichtlein (eines, das 24 Stunden zu brennen versprach), ein kleines Stückchen Rindfleisch, eine Packerl Suppennudeln und einen kleinen Wecken Schwarzbrot. Eine rote Kerze. Als sie alles fein säuberlich nebeneinander platziert hatte, blickte sie zufrieden und liebevoll über ihre Waren und wendete ihren Kopf schließlich Conny zu und lächelte entschuldigend. Obwohl Conny sie auf mindestens achtzig schätzte, überraschten sie ihre sehr dunklen, lebhaften Augen. Der Schalk schien herauszulachen wie eh und je. Conny konnte darin noch die schöne Frau erkennen. Ihr schneeweißes Haar, das nicht wie bei den meisten älteren Damen in Dauerwellen gelegt war und diesen unverkennbar bläulichen Stich aufwies, umrahmte in weichen, natürlichen Wellen ihr Gesicht. Wieder lächelte sie Conny schüchtern an und begann dann sorgfältig, die Dinge, die die Kassiererin inzwischen eingescannt hatte, in ihren Einkaufskorb zu legen.
    Conny stellte sich vor, wie die Frau heimkommen würde. Sah ihre kleine Wohnung vor sich, in der sie mit ihrer Katze wohnen würde. Wie sie die eingekauften Dinge aus dem Korb nehmen und sorgfältig in ihrer Küche verstauen würde. Es würde still sein. Sehr still! Bevor sie sich einen Teller auf den Tisch stellen würde, würde sie das Radio auf der Kommode einschalten, um dieser Stille Einhalt zu gebieten. Weihnachtslieder würden erklingen und sie würde ihren Teller mit Suppe füllen, um diese dann mit Blick aus dem Fenster auf einen dieser Wohnblocks aus den 50er Jahre und den Kastanienbaum im Hof, zu löffeln. Ein Gemeindebau im 17. Bezirk. Sie würde den Blick vom Fenster abwenden und zärtlich der Katze zusehen, wie diese gierig ihr Fressen verschlänge, sich genüsslich die Barthaare leckend. Extrawurst zur Feier des Tages. Sie würde dann das gekaufte Seelenlichtchen unter dem Bild ihres Mannes anzünden, so wie sie es immer tun würde, nicht nur zu Weihnachten. Unwillkürlich fragte sich Conny, ob sie ihn sehr geliebt hatte, oder ob es reine Gewohnheit von alten Menschen war, für Verstorbene Kerzen anzuzünden. Und nichts weiter. Sie würde sich noch eine Scheibe Brot abschneiden und die restliche Suppe auf tunken. Das Fleisch hätte sie für den nächsten Tag geplant, den Christtag. Die rote Kerze würde bereits angezündet vor ihr auf dem Tisch stehen. Ein Christbaum herzurichten würde sich für sie allein nicht mehr rentieren.
    Petras Herz krampfte sich zusammen und sie schaute der alten Dame fassungslos zu. Entsetzt starrte sie in den Spiegel, den die alte Frau ihr vor die Nase hielt: Einkaufen, Wohnung in Ordnung halten, Kinderbetreuung managen, Wäsche erledi-gen, Bankgeschäfte tätigen, für die Tochter ins Handygeschäft, Videorekorder in die Reparatur, Putzen, Kekse backen, Schulaufführung der mittleren Tochter, (keine Ahnung, wie das dem Chef beizubringen!), Auto noch mit Sommerreifen bestückt, Artikel musste bis morgen in der Früh fertig sein. Sie schrieb bei einer kleinen Zeitung. Provinzblatt! Sie hasste es! Sie hasste es, Dinge zu schreiben, die sie nicht interessierten. Was sie eigentlich schreiben wollte, interessierte ihren Chef nicht. Dieser wollte blutrünstige Dinge! Unkeusche. Unglaubliche. Ungeheuerliche. Aber es gab hier nicht jeden Tag Barbarisches. Er ging deshalb sogar soweit, dass er von ihr verlangte, etwas zu erfinden! Er war ohne jeglichen Skrupel. Und nicht nur diesbezüglich.
    Die Kassiererin schaute Petra verständnislos an, die wie angewurzelt mit ihrem überladenen Einkaufswagen vor dem Band stand und wie eine Behämmerte vor sich hin starrte. „Wollte diese Verrückte nun bezahlen oder was!?“, die Diensthabende an der Kassa und schaute genervt auf die Uhr an ihrem Handgelenk. Conny hatte nicht realisiert, dass die alte Frau schon bezahlt und bereits das Geschäft verlassen hatte und sie selbst immer noch bewegungslos dastand. Sie begann hastig, ebenfalls den Inhalt ihres Einkaufswagens auf das Band umzuräumen. Zutaten für den blöden Truthahn, Getränke und Vanilleeis, Eierlikör und Ananas. Lauter Leckereien, die so typisch waren bei ihnen zuhause zu Weihnachten. Die nicht feh-len durften. Wie durch einen Nebel sah sie der Kassiererin zu, wie sie all die Dinge einscannte und mechanisch auf die andere Seite schob. In Connys Kopf überschlugen sich die Gedanken. Ihre Zeit wird verstreichen, in einem Tempo, dem sie nicht einmal gedanklich hinterher kam. Ihr lebendiger Geist wird ebenfalls in einem alter-schweren Körper gefangen sein. Faltig Gesicht und Hände. Man wird sie auf ihren alten Körper reduziert betrachten und hinter ihr an der Kasse nervös von einem Bein aufs andere treten. Fahrig warf sie einen Blick auf die Kundin nach ihr. Es war ein Mädchen mit einem Pircing in der Nase und gleich zwei in der Unterlippe. Sie trug ihr Haar im out-of-bed-Style mit blauen Strähnchen verziert und hatte nur eine Packung Chips, einen coffee-to-go und ein Red Bull in den Händen. Sie glotzte Conny genervt und verständnislos an. Plakativ machte sie eine große Blase mit ihrem Kaugummi und ließ diese platzen, sodass ein guter Teil auf ihrer Nase kleben blieb. Die Alte nervt mit ihrem Weihnachtskram! Conny begann noch mehr zu schwitzen und ihr Gesicht war inzwischen mit roten Flecken überzogen.
    Wie ferngesteuert fuhr sie nach Hause, räumte hastig die Einkaufstaschen aus und verstaute die Waren wenig sorgfältig im Küchen-, Kühl- und Eisschrank. Dann schaltete sie das Radio ein in einer Lautstärke, die der faulen Katze auf der Couch die Ohren aufstellte und sie erschrocken mit einem Satz auf die Lehne springen ließ. Auch sie war verwöhnt! Aus dem Radio röhrte es:
    „Summer of Sixty-nine …”, und Conny konnte nicht anders, als drei Tanzschritte dazu zu machen. Sie liebte dieses Lied und plötzlich fiel wie durch Zauberhand ihrer Erstarrung von ihr ab. Sie begann sich immer heftiger zu bewegen, bis sie im Rhythmus zum Sound ins Wohnzimmer tanzte. Dort ließ sie übermütig das Becken kreisen und warf den Kopf in den Nacken. Sie schnappte nach dem defekten Videorekorder, den sie, ohne zu überlegen zum Fenster hinaus in den Schnee warf. Es war ganz einfach. Sie musste dazu nur das Fenster öffnen! Das tat vielleicht gut. Angestachelt zu weiteren Taten tanzte sie beschwingten Schrittes ins Zimmer ihrer Tochter. Inzwischen tönte es: „… a little child was born – rapampam pam …“, und sie nahm das kaputte Handy, wegen dem sie sich schon wochenlang in den Haaren lagen und warf es hinterher. Beim Schließen des Fensters schlug ihr ein Schwall eiskalten Winterluft entgegen. Sie lachte heiser auf und fühlte sich so leicht wie noch nie. In der Küche gelandet beschloss sie, gleich den Truthahn zu füllen, dann musste sie morgen wenigstens daran nicht mehr denken! Sie war überglücklich, dass niemand von ihrer Familie zu Hause war. Die würde sie nervlich nicht aushalten! Niemand von denen! Sie riss den Truthahn aus dem Kühlschrank und begann fiebrig, den Vogel auszuweiden. „He smiled at me … rapapam pam …“. Es kam ihr pervers vor, die in Säckchen verpackten Organe mit den Fingern herauszufischen, sie machte aber unverdrossen weiter. Sie wühlte im Inneren des Federviehs. Sein Herz. Seine Nieren. Seine Organe, in denen einst das Leben pulsierte! Alles säuberlich in Säckchen aus Nylon! Nicht daran denken! „Christmas day…“, schmeichelte ein SingSang jetzt aus dem Radio. Aus Unachtsamkeit strich sie sich mit den blutigen Fingern eine Haarsträhne aus den Augen.
    Gott sei Dank hatte sie die lebendigen Augen der alten Dame gesehen.

    1. Liebe Waltraud,
      die Grundidee deiner Geschichte finde ich richtig gut: Der Blick auf eine andere Kundin an der Supermarktkasse bringt die Protagonistin zum Fabulieren und Reflektieren. Auch die Beschreibung der Frau ist gut gelungen.
      Vielen Dank!
      Andreas

  14. Stress (Eine Weihnachtsgeschichte)

    Siegfried hatte die Nase endgültig voll. Unbewusst schüttelte er den Kopf. Das war doch nicht auszuhalten!!!
    Er griff unter die Werkbank und zauberte eine Flasche Pfefferminzlikör hervor. Dann nahm er einen riesigen Schluck, mindestens zwei oder drei Doppelte. Resigniert setzte er sich auf eine Kiste und nahm sicherheitshalber gleich noch einen Schluck.
    War das noch eine Ehe? Eigentlich lebten sie doch nur noch aneinander vorbei. Wenn er am Abend nach Hause kam, hatte sie meist schon gegessen. Manchmal bekam er noch zu hören: „Das Essen ist im Kühlschrank!“
    Ja sicher, wo sonst gehört es hin, wenn es nicht auf dem Tisch steht. Oder es steht auf dem Herd, wenn es warm bleiben soll. Am Anfang hatte er ja noch geglaubt, sie habe ihm schon etwas vorbereitet, das er nur noch herausholen und essen konnte, aber weit gefehlt! Machen musste er es sich gefälligst allein. Ein Wunder, dass sie ihm nicht zurief: „Das Essen steht im Kochbuch, Seite sechsundsiebzig!“
    Wenn er sich nach dem Essen zu ihr auf die Couch setzte, kam auch keine Unterhaltung mehr zustande. Entweder machte sie nur „Schsch!! Sei doch mal still, ich kann den Film ja gar nicht verstehen“, oder, falls er doch mal zur Fernbedienung griff und den Kanal umschaltete, stand sie auf und ging nach oben in ihr Schlafzimmer, wo noch ein zweiter Fernseher stand. Und fragte er sie vorher, ob sie lieber dies oder jenes sehen wolle, meinte sie immer nur, es sei ihr egal.
    Sexuell passierte auch nichts mehr zwischen ihnen. Sie schliefen schon lange getrennt. Aber das lag wohl mehr an ihm. Siegfried seufzte. Nicht, dass er nicht konnte oder nicht wollte, nein, nein! Es war nur so, dass er hinterher immer gleich einschlief und dann fürchterlich schnarchte, sodass sie ihn nicht etwa wegen des Sexes an sich mied, sondern weil sie sich hinterher nicht mehr an ihn ran kuscheln konnte, so wie früher. Ein paarmal noch hatten sie es nach jeweils mehreren Monaten Pause versucht, aber angeblich war es für sie die Hölle! Sie sagte, es sei, als werde sie aus dem siebenten Himmel, in dem sie sich gerade befand, von diesem Schnarchen wie mit einem riesigen Baseballschläger, so nackt wie sie war, herausgeprügelt, direkt auf die Straße einer kalten Novembernacht. Also blieb es beim Getrenntschlafen.
    Sie schliefen nicht mehr miteinander und inzwischen auch nicht mehr nebeneinander, sondern getrennt. Und das färbte ab. Sie lebten nicht mehr miteinander, sondern nebeneinander. Aber sollten sie sich nun auch trennen?
    Siegfried nahm noch einen kräftigen Schluck aus der Flasche und rülpste laut. Hier unten in seinem Bastelkeller konnte er das tun, so laut und so oft er das wollte. Ja, im Keller fühlte er sich frei, konnte er seine Ideen verwirklichen, wenn auch nur mit Sperrholz, Kunststoff und Folie. Hier baute er seine Modelle von Flugzeugen und Schiffen und konnte dabei alles um sich herum vergessen. Einmal hatte er sogar ein richtiges Flugmodell gebaut, also eines, das fliegen kann, mit einem Elektromotor drin und einer Funkfernsteuerung dazu. Aber das hatte bei seinem Jungfernflug gerade mal zehn Sekunden überlebt. Doch das störte Siegfried nicht, er bastelte es eben wieder zusammen. Nun konnte es zwar nicht mehr fliegen, aber sah wunderschön aus, wie es so in seiner Bastelwerkstatt unter der Kellerdecke hing.
    Seine Frau meckerte immer, wenn er sich in den Keller verzog, aber ob er nun oben rumsitzt oder unten, das änderte eigentlich nichts an ihrer Beziehung. Also saß er lieber unten und bastelte, oben fühlte er sich so nutzlos.
    Früher, also ganz, ganz früher, da gingen sie ja ab und zu noch ins Kino oder in eine Gaststätte essen. Doch bei den vielen Fernsehkanälen musste man ja nicht mehr die Strapazen in Kauf nehmen, um bis zum Kino zu fahren und zu Hause essen und trinken war auch billiger, als in der Gaststätte. Siegfried seufzte. Er hatte es immer genossen, dort ab und zu auf ein paar bekannte Gesichter zu treffen und ein paar Worte mit Menschen zu reden, die er zwar kannte, aber schon eine Weile nicht mehr gesehen hatte. Und es war auch schön, ein üppiges und schön garniertes Essen hingestellt zu bekommen, statt sich nur belegte Brote selbst machen zu müssen.

    Er nahm noch einen Schluck aus der Flasche und stelle dann erschrocken fest, dass sie schon halb leer war. Viel zu oft hatte er sich in den Keller geflüchtet und nach den Flaschen unter seiner Werkbank gegriffen. Er würde aufpassen müssen, dass er nicht eines Tages als Alkoholiker endet. Schnell wollte er die Flasche wieder zurückstellen, doch dann schraubte er sie doch noch einmal auf und trank einen Schluck, diesmal einen ganz kleinen. Der letzte für heute, schwor er sich, als er sie wieder runter stellte.

    Eine Woche später war es soweit, der Heilige Abend war da. Diesmal brauchte er sich nicht das Abendbrot selbst machen, es würde nachher Ente mit Klößen und Rotkohl geben. Aus der Musikanlage klangen Weihnachtslieder und Siegfried war dabei, die letzten Lamettafäden an den Weihnachtsbaum zu hängen. Er hatte den Eindruck, dass sich die Situation zu Hause seit langer Zeit wieder einmal etwas entspannt hatte. Es gab kein Gemecker und Gezanke, kein Sich-aus-dem-Weg-gehen und Den-anderen-ignorieren. Es war fast so wie früher.
    Damals waren ihre Kinder Klaus und Sabine noch im Haus. Doch jetzt wohnten sie weit weg und kamen höchsten ein oder zwei Mal im Jahr vorbei. Klaus war Elektromeister und Sabine hatte Jura studiert. Nur einmal kamen sie beide gleichzeitig am Weihnachtsfest zu Besuch und vor Jahren hatten sich alle einmal bei Sabines Familie getroffen. Doch seitdem verbrachten er und seine Frau allein den Heiligen Abend. Am ersten Feiertag besuchten sie nun Siegfrieds Mutter im Pflegeheim und am zweiten Feiertag machten sie bei fast jedem Wetter einen ausgiebigen Abendspaziergang, meist schweigend nebeneinander gehend.

    Der Christbaum ist wieder gut gelungen, stellte Siegfried fest. Er korrigierte noch da und dort eine Kugel und ein paar Lamettafäden, als seine Frau mit dem Essen herein kam. Wortlos stellte sie es auf den Tisch, lief noch mehrere Male zwischen Küche und Wohnstube hin und her, schaute dabei immer wieder auf die Uhr, zündete dann die Kerzen auf der großen Weihnachtspyramide an und setzte sich erwartungsvoll an den Tisch.

    Siegfried hatte es nun auch geschafft, nur noch die Lichterkette anschalten und sich schnell die Hände waschen gehen. Als er den Stecker in die Dose steckte, strahlte der Weihnachtsbaum wunderschön, die Lichterkette spiegelte sich in den Kugeln und der ganze Raum wirkte so festlich bei diesem Glanz und der Weihnachtsmusik. Doch nur wenige Sekunden später war es mit einem Schlag still und dunkel in der Wohnstube. Nur die Pyramide drehte sich noch und malte ihre Kringel an die Zimmerdecke.
    „Oh mein Gott!“, rief seine Frau erschrocken.
    „Das ist nur die Sicherung“, beruhigte er sie. Es wunderte Siegfried, dass seine Frau gar nicht vorwurfsvoll klang, wie sonst immer.
    Nur im flackernden Schein der Pyramidenkerzen ging er in den Korridor, wo er die Taschenlampe wusste. Ihm war klar, dass es nicht nur eine Sicherung war, denn ihr Haus hatte ja nicht nur einen Stromkreis. Voller Hoffnung ging er in den Keller nachschauen, ob nicht zufälligerweise mehrere Sicherungen gleichzeitig ausgelöst hatten. Doch seine Befürchtungen bestätigten sich, alle Sicherungen waren in Ordnung. Aus irgendeinem Grund war wohl die Haussicherung gekommen, die vor dem Zähler, an die nur der Elektriker rankommt, oder die Stadtwerke. Keine Chance, selbst etwas zu tun.
    Missmutig stieg er wieder nach oben. Seine Frau würde sicher gleich einen Aufstand machen, dabei hatte er doch nur den Stecker der Lichterkette in die Dose gesteckt.
    Doch wider Erwarten hatte sie inzwischen alle möglichen Kerzenständer und weitere Kerzen hervorgeholt, zündete sie gerade an und meinte in beruhigendem Ton: „Nun setze dich erst einmal hin, das Essen wird doch sonst kalt.“
    Ganz erstaunt nahm Siegfried Platz. Vor Jahren war das mit der Haussicherung schon einmal passiert, als er selbst einen neuen Stromkreis gelegt hatte und eine neue Sicherung einbauen wollte. Was hatte sie da für ein Theater gemacht! Und heute saß sie ganz ruhig, fast im Dunkeln, als wäre das normal. Siegfried verstand die Welt nicht mehr.
    „Sooo schlimm ist es doch gar nicht“, meinte sie lächelnd zu ihm. „Da müssen wir eben den Abend bei Kerzenschein verbringen, das haben wir schon viel zu lange nicht mehr gemacht.“
    Siegfried fiel fast der Kloß von der Gabel. Das waren ja ganz neue Töne von ihr. Sollte er sich so in ihr getäuscht haben?
    „Aber ich kann es nicht selbst reparieren, die Hauptsicherung ist verplombt. Da kommt nur ein Elektriker ran und morgen und übermorgen ist Feiertag und dann Sonntag.“ Er seufzte.
    Doch seine Frau lächelte immer noch. „Na gut, dann muss ich es dir schon jetzt sagen: Klaus ist in der Stadt, seinem Schulfreund Michael beim Anschluss des Sicherungskastens seines neuen Eigenheims helfen und morgen kommt er mit seiner Familie zu uns zum Mittagessen und du kannst ihn ja früh anrufen, dass er seine Plombenzange mitbringen soll.“
    Siegfried war überrascht und erleichtert. Da hatten sie ja noch einmal richtig Glück gehabt.

    Nach dem Essen räumte seine Frau den Tisch ab, bat ihn, eine Flasche Rotwein zu öffnen und fing an, Weihnachtslieder zu singen. Da konnte er nicht anders und brummte leise mit. Als die Kerzen schon fast heruntergebrannt waren und sich seine Frau wie früher an seine Brust kuschelte, fühlte er sich wohl, wie lange nicht.
    Siegfried konnte ja nicht ahnen, dass sie sich insgeheim schon Gedanken darum machte, wie sie ihn morgen ablenken könne. Schließlich soll er nicht mitbekommen, wenn Klaus die Schaltuhr wieder ausbaut, die er heute Vormittag heimlich angeschlossen hatte.

  15. Über den Truthahn, Weihnachten und den Lauf der Zeit

    Seit fünfzehn Jahren gibt es zu Weihnachten Truthahn. Siebeneinhalb Kilo schwer und riesig. Die Truthahnhöhle fülle ich mit Serviettenknödelmasse, Äpfeln, Karotten und Maroni. Seit ein paar Jahren belege ich den Vogel mit Speck. Das macht ihn saftig und würzig. Und der ausgebratene, knusprige Speck ist höchst begehrten Beilage.
    Die passende Pfanne ist rot, aus Gusseisen und schwer wie der Truthahn selbst. Ich liebe das monströse Stück. Gut eingebeizt schmurgelt darin der Weihnachtsbraten. Das Backrohr ist vollständig ausgefüllt. Die Temperatur habe ich längst im Griff: kurzer Bratstart um elf Uhr bei vorgeheiztem Rohr und zweihundertfünfzig Grad. Nach einer Viertelstunde zurückdrehen auf einhundertzwanzig Grad. So ist das gute Stück um siebzehn Uhr sicher durch. Und ich kann ohne Sorge das Haus verlassen.

    Der Truthahn gehört über die Jahre zu den beständigen Weihnachtsbestandteilen.

    Anfangs nehmen beim Weihnachtsfestmahl mein Mann und ich, unsere drei Kinder, die Eltern meines Mannes und sein Großvater, damals über achtzig, teil. Er ist zu Weihnachten froh nicht allein zu sein. So lange er lebt, feiert der Urgroßvater meiner Kinder Weihnachten mit uns.

    Nach seinem Tod verläuft das Weihnachtsfest Jahr für Jahr ähnlich: Ich bereite tagsüber das Fest vor, mein Mann geht mit den Kindern am Nachmittag zum weihnachtlichen Musizieren in der Stadt und um siebzehn Uhr treffen alle bei mir ein. Es riecht nach Truthahn und Bratäpfeln. Gemeinsames Festmahl, Bescherung, Christmette.

    Die Kinder werden erwachsen. Die beiden Älteren haben Partner. Den Weihnachtsabend feiern sie zu Hause.

    Der Schwiegervater erkrankt an Demenz. Eine Herausforderung, die während des Jahres immer wieder zu Spannungen führt.

    Der Heilige Abend verläuft harmonisch. Der Truthahn und seine Zubereitung geben mir Zeit, mich auf die bevorstehende Familienfeier einzustellen. Alles, was zum Zerreißen meiner inneren Spannungen hätte führen können, findet in den Vorbereitungsarbeiten ein Ventil. Der Höhepunkt liegt im Zerteilen des großen, gebratenen Vogels. Das verlangt physische Kraft und treibt mir in der ohnehin warmen Küche den Schweiß aus jeder Pore. Kein Zuviel an Druck verbleibt in Körper und Seele. Wenn dann die weihnachtshungrige Familie nach dem Musizieren zu Hause ankommt, ist der Tisch feierlich gedeckt, der Weihnachtsbraten portioniert, die Beilagen – Rotkraut und Serviettenknödel – fertig und der Bratensaft püriert. Die Stimmung ist weihnachtsgar.
    Das Kerzenlicht zeichnet unsere Seelen weich. Es darf angerichtet werden!
    „Es schmeckt hervorragend!“, sagt dann mein Mann und alle stimmen zu.

    Erwachsengeworden sind die Kinder nicht mehr aufgeregt wegen der bevorstehenden Bescherung. Die Demenz des Schwiegervaters schreitet voran. Er ist mager und es erfordert eine Portion Disziplin über das nicht mehr festsitzende Gebiss hinwegzusehen und den Ekel zu verbergen. Menschwerdung findet in vielerlei Hinsicht und das hellste Fest in der dunkelsten Jahreszeit statt.

    Längst ist der Schwiegervater verstummt. Eines Weihnachtsabends spielen wir nach dem Festessen und der Bescherung das Gesellschaftsspiel „Skip-Bo“ und meine Tochter ist im Begriff zu verlieren. Plötzlich entkommt ihr ein herzhaftes „Scheiße!“ Als wäre es selbstverständlich, dass der Schwiegervater spricht, setzt der ihr Wort fort: „Sprach der Kaiser und das Volk brachte ihm Papier.“ Nun sind wir sprachlos. Überraschung gelungen! In einer stummen Pause schauen wir uns in die Augen, um im Anschluss loszulachen. Befreiendes Lachen.
    Dieser Abend gehört dem Großvater und erhält einen Ehrenplatz in der Galerie der Erinnerungen. Es ist das letzte Weihnachtsfest, das er mit uns feiert. Im Lauf des darauffolgenden Jahres übersiedelt er ins Pflegeheim.

    Die Schwiegermutter fürchtet sich vor dem nächsten Weihnachten. Wird sie es überstehen? Was tun mit den Vorwürfen, die sie sich macht, weil ihr Ehemann im Pflegeheim ist? Er fehlt ihr!

    Weihnachten. Das Fest der Vergänglichkeit.

    Weihnachten. Das Fest, das jedes Fehlen und jeden Mangel bewusst macht.

    Den Platz des Schwiegervaters hat die Freundin des Ältesten eingenommen. Nach dem Truthahn-Ritual und der Bescherung richte ich einen Keksteller. Mir kommen die Graskekse in den Sinn. Mein Mann hat sie irgendwann im Laufe des letzten Jahres von wer weiß schon wem geschenkt bekommen. Seither liegen sie unberührt im Kaffeeschrank. Ich platziere die fünf Sterne obendrauf und präsentierte den Teller zwecks Entscheidungsfreiheit ehrlich:
    „Die Zimtsterne sind von Moni, die Rumkugeln von mir, den Lebkuchen hat die Schwiegermutter gemacht und diese fünf da sind Graskekse.“
    „Mein Lebkuchen sieht schöner aus!“, sagt die Schwiegermutter und beißt ab. „Und schmeckt besser.“ Schon verdrückt sie den ganzen Keks.
    Die beiden Söhne essen nur je eine Stern-Zacke. Sie gehen wie jedes Jahr Turmblasen und wissen mehr über die Wirkung der Kekse als ich. Die anderen teilen einen Keks, die Schwiegermutter und ich verzehren einen ganzen.
    Eine Stunde später verabschieden sich der Älteste und seine Freundin. Ich fühle mich etwas schwindlig und gehe in die Küche. Den Resttruthahn verstauen.
    Plötzlich muss ich lachen. Im selben Moment setzt die Schwiegermutter ein. Unser Lachen schwillt an wie eine Sinfonie mit Crescendi und Decrescendi mit Pauken und Trompeten und einem ganzen Orchester. Wir lachen und prusten und die Tränen rinnen uns über die Wangen und wir können nicht aufhören. Ich habe Bauchweh und die Schwiegermutter zerkugelt sich immer noch. Der Jüngste und die Tochter sitzen da und lachen mit, weil sie weder Mutter noch Großmutter je so erlebt haben. Ich sehe mir selber zu und räume die Küche auf – lachend, langsam wie in Zeitlupe.
    Die Christmette ist an diesem Heiligen Abend den Lachsalven zum Opfer gefallen. Mein Mann bringt seine Mutter nach Hause. Ihre Sorge ist gelindert und die neue Situation ohne Großvater auf fröhliche Art entspannt. Das Experiment bringt der Trauernden Trost und in der Folge einen göttlichen Weihnachtsschlaf. Dieser Abend landet auf einem Stockerlplatz im Weihnachtsranking.

    Mein Schwiegervater stirbt im Sommer darauf an den Folgen eines Sturzes und das nächste Weihnachten ist von seinem Tod und unserer Trauer überschattet.

    Das Jahr darauf feiern wir wieder ein freudiges Ereignis. Zum ersten Mal ist die acht Monate alte Enkeltochter dabei.

    Das Einzige, das bleibt ist die Veränderung.

    Das Leben verändert sich, die Familie verändert sich, die Art, Weihnachten zu feiern, verändert sich. Vielleicht werden die Kinder bald ohne uns in ihren Familien feiern. Dann gibt es Truthahnrollbraten für Zwei. Sollte ich einmal allein eine einzige Puten-Keule für mich braten und nicht allein sein wollen, dann stelle ich – wie bei „Dinner for one“ – einen Butler ein.

    1. Liebe Gabriele,
      du zeigst mit deinem Text wunderbar wie sehr das Leben im Fluss ist. Weihnachten dient hier als ein Anhaltspunkt für eine Reise durch die unterschiedlichsten Momente der beschriebenen Familiengeschichte.
      Vielen Dank!
      Andreas

  16. Die heiligen drei Königinnen
    von Timm Kruse – http://www.gekritzeltes.de

    Als Kind hatte ich immer schrecklich Heimweh. Ich erinnere mich an eine Klassenfahrt in den Harz, wo mich das Heimweh beschämenderweise so geplagt hat, dass ich vor der ganzen Klasse geheult habe. Ich war immerhin schon zwölf Jahre alt. Oder an Skiurlaube, wo ich es keinen Tag in der Skigruppe aushielt, ohne vor Sehnsucht nach meinen Eltern zu heulen. Oder an die wenigen Urlaube meiner Eltern ohne uns. Es war die Hölle.
    Doch spätestens mit der Pubertät verschwand dieses Gefühl. Ich hatte diesen schwer zu definierenden Schmerz sogar ganz vergessen, bis ich an Weihnachten in einem indischen Ashram unter lamettageschmückten Palmen saß und dem Christen-Bashing „meines“ Gurus zuhörte.
    Ich hatte wenige Monate zuvor alles hingeschmissen: Job, Wohnung, Auto – alles, um diesem Guru zu folgen. Natürlich setzte ich damit auch meine Beziehung aufs Spiel. Aber der Guru schien mir damals wichtiger als alles andere. Meine Freundin konnte mich zwar nicht verstehen, ließ mich aber gewähren. Sie wusste, dass ich nicht aufzuhalten war, wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt hatte.
    Der Guru war mir auf einem Festival für indische Musik in Baden Baden begegnet. Er hielt damals einen Vortrag in einem Park und schaffte es innerhalb einer halben Stunde, mich völlig für sich einzunehmen. Er erklärte mir den Wahnsinn unseres Systems, machte mir klar, dass die Freiheit woanders zu finden wäre, und dass ein Leben mit ihm und seiner Gemeinschaft das beste wäre, was mir je zustoßen könnte.
    Ich war damals Mitte dreißig, hatte also eine verfrühte Midlife-Crisis und wollte einfach nur weg aus unserem System. Ich wollte dem Druck entfliehen, allen Verantwortlichkeiten, aller verlogenen Angepasstheit.
    Also ging ich tatsächlich weg – weiter weg als je zuvor. Wochenlang versuchte ich mich einzuleben, versuchte dem Guru und der Gemeinschaft zu gefallen, suchte sämtliche Unebenheiten auf dem Weg als Lernprozess zu verstehen, lauschte täglich den holden Worten des Gebenedeiten.
    Und dann kam Weihnachten in diesem Ashram, und plötzlich sehnte ich mich nach einem Zuhause, wie ich es als Kind hatte. Ich wollte wieder behütet sein. Genau wie damals. Ich wollte mit meinen Brüdern unterm Weihnachtsbaum sitzen, Geschenke auspacken, Spielzeuge zusammenbauen und das kleine, flüchtige Glück der Weihnachtstage mit denen feiern, die ich am längsten kannte.
    Ich wollte, dass es draußen schummerig war, dass Kerzen brannten, dass es nach Kuchen, Plätzchen oder gutem Essen roch. Ich wollte eine Decke über mich legen können, dem Kamin zuschauen und „War is over“ von John Lennon hören und leise mitsingen.
    Stattdessen saß ich im Halbkreis mit weiß gekleideten Jüngern aus Europa und Amerika, schwitzte die triefende indische Luft aus und hörte dem Guru zu. Inder fanden sich komischerweise in diesem indischen Ashram nicht ein.
    Der Heiland 2.0 hatte sich an diesem heiligen Abend besonders hübsch gemacht: Sein Bart gestutzt, das Haar frisch geölt, sein weißer Umhang von güldenen Fransen durchzogen.
    „Merry Christmas“, wünschte er uns. „Ihr wisst, dass ich nicht religiös bin und Eurem gekreuzigten Sohn Gottes nicht viel abgewinnen kann. Wäre er cleverer gewesen, hätte er dem Kreuz entkommen können. Isn´t it?“, fragte er, um sich unserer Zustimmung zu versichern.
    Der Guru hatte seinen Ashram im Südosten Indiens aufgebaut. In dieser Gegend wimmelte es von Gemeinschaften. Es gab den Wiedergeburts-Ashram, die Tree-Community, die weltberühmte Auroville-Gemeinschaft und – uns. Den einzigen Ashram ohne Etikett oder Stempel. Unser Guru wollte uns einfach nur in den natürlichen Zustand zurückführen, in dem wir geboren wurden. Bevor wir von Eltern, Lehrern, Religionen, Sitten und Kulturen versaut wurden. Wir mussten hierfür einfach nur mit ihm leben und seine Weisheit aufsaugen. Irgendwann würden wir schon einen Klumpen Erleuchtung abbekommen.
    An diesem Weihnachtsabend in der großen Meditationshalle nervte mich sein Geläster über Jesus. Ich war zwar auch kein religiöser Mensch. Aber Jesus mochte ich. Schon immer. Natürlich ist Jesus nicht für uns gestorben. Oder für unsere Sünden. Oder für sonst irgendeinen blöden Einfall der Kirche. Er ist gestorben, weil er sich für Menschenrechte eingesetzt hat. Weil er die Welt verbessern wollte. Und das fand ich grundsätzlich vorbildlich.
    „Jesus hatte aber auch keinen leichten Start ins Leben, muss man sagen“, fuhr der Guru fort. Ich hörte an seiner Stimme, dass er in den Verarschungs-Modus geschaltet hatte.
    „Wer glaubt denn noch an diesen ganzen Unfug? Wann entwickelt sich Eure Religion weiter, so dass sie modernen Standards entspricht? Ihr kennt die Antwort: Nie!“ Der Guru lachte.
    Außer einem lachten alle mit.
    „Wie lange soll Maria eigentlich noch Jungfrau bleiben? Wie lange wollt Ihr an Eure Sünden glauben? Wieviel Weihwasser wollt ihr noch über Eure Kinder schütten? Das ist alles Unsinn, den sich bigotte Kirchenmänner ausgedacht haben, um ihre Macht zu steigern. Lasst uns diesen ganzen Kram einfach vergessen. Isn´t it?“ Um mich herum riefen alle „Yeah!“
    „Wie würde die Weihnachtsgeschichte eigentlich klingen, wenn die heiligen drei Könige in Wahrheit KönigInnen gewesen wären – mit großem „i“?“ Der Guru stand auf und versuchte, den Gang edler Frauen mit großen Hintern nachzumachen. Wieder lachten alle.
    „Ich kann Euch garantieren, dass die drei heiligen Königinnen erst einmal nach dem Weg gefragt hätte. Isn´t it? Dann wären sie auch pünktlich angekommen und hätten bei der Geburt helfen können. Anschließend hätten sie mit Sicherheit den Stall saubergemacht und der armen Maria und ihrem vertrottelten Josef sinnvolle Geschenke überreicht und was Vernünftiges zu Essen gemacht. Isn´t it?“ Um mir herum grölten die Jünger des 21. Jahrhunderts.
    „Aber wisst Ihr, wie es auf der Heimreise abgegangen wäre? Könnt Ihr Euch das Gegacker und Geläster der drei heiligen Königinnen vorstellen?
    „Habt ihr die Sandalen gesehen, die Maria zur Tunica trug? Scheußlich!“
    „Und habt Ihr gehört? Josef ist jetzt arbeitslos. Wie beschämend ist das denn?“
    „Wie hält Maria das alles aus – noch dazu mit den ganzen Tieren im Haus? Und WLAN haben die auch nicht.“
    „Ist Euch aufgefallen, dass Jesus seinem Vater überhaupt nicht ähnlich sieht?“
    „Jungfrau? Wisst Ihr noch früher? Maria war ja wohl die Schlimmste von allen.“ Um mich herum fielen die Leute in das Geläster ein und bogen sich vor Lachen auf dem Boden.
    Ich stand auf und ging hinaus. Bei dem ganzen Tumult fiel das hoffentlich nicht auf. Ich setzte mich draußen auf eine Bank und schaute in den Himmel. Ich wünschte mir so sehr, eine Sternschnuppe zu sehen. Vielleicht als Zeichen, dass es Jesus damals doch gegeben hat. Und dass die heiligen drei Könige gar nicht so vertrottelt waren. Aber es kam keine Sternschnuppe. Über mir leuchteten nur die gleichen Sterne wie vor 2017 Jahren. Vielleicht waren die Sterne die einzige Konstante im Leben der Menschheit, dachte ich. Vielleicht schauen wir sie deshalb so gerne an und fühlen bei ihrem Anblick eine gewisse Geborgenheit.
    Langsam senkte ich meinen Blick wieder zurück auf unsere Erde. Vor mir stand eine riesige Palme mit schillerndem Lametta in ihrer Krone. Um ihren Stamm schlängelte sich eine Lichterkette. Davor stand ein leuchtendes Rentier neben einer Krippe. Ich hatte nie zuvor in meinem Leben etwas so lächerlich Unpassendes gesehen wie dieses Arrangement. Weihnachtssterne, Rentiere und Krippen passten einfach nicht in ein suptropisches Land – auch wenn hier neben Hindus, Sikhs und Moslems Millionen von Christen lebten.
    Das Ganze sah einfach nur zum Heulen aus. Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren brach akutes Heimweh in mir aus. Ich sehnte mich plötzlich nach nordeuropäischer Gemütlichkeit. Nach allem, was ich hinter mir lassen wollte. Ich sehnte mich zurück in meine Heimat. Ich wollte mit meiner Familie und meinen Freunden durch die Kälte des Winters verbunden sein. Gemeinsam bibbern, gemeinsam ein bisschen schwermütig sein. Gemeinsam über den Weihnachtsmarkt gehen, gemeinsam Glühwein trinken, gemeinsam schenken und Geschenke bekommen.
    Umarmen, andächtig sein, die gleiche Atmosphäre erleben, die uns seit Kindesbeinen an Weihnachten zusammenschweißt.
    Ich stand auf, ging in mein Zimmer, holte meinen Computer, loggte mich ins WLAN ein und buchte den nächsten Flug nach Deutschland. Ich besaß ein offenes Ticket, zahlte 200 Euro nach und buchte mein Taxi zum Flughafen. Es kam in vier Stunden.
    Ich würde am zweiten Weihnachtstag zu Hause sein. Und nie wieder Weihnachten unter Palmen verbringen.

      1. Lieber Timm,
        deine Geschichte greift wunderbar die Frage nach kultureller Prägung und Identität auf. Gerade an Festen wie an Weihnachten kann dies wichtig werden. Sie gehört zu meinen Favoriten und hat nur knapp nicht gewonnen. Vielen Dank für den tollen Beitrag!
        Schöne Schreibgrüße
        Andreas

  17. Ulrich Lanin
    Weihnachtstrunkenheit
    Eine Weihnachtsgeschichte

    Es wollte einst der Weihnachtsmann
    zum Weihnachtsfeste
    die Gaben bringen.
    Heiligabend kam heran.
    Der Weihnachtsmann,
    der packte ein von vielen Dingen
    in seinen Sack das Allerbeste.
    Es waren drin gar schöne Sachen,
    die vielen Menschen Freude machen.
    Er zog nun los mit seinem Schlitten,
    denn wer läßt sich schon lange bitten,
    wenn er was Gutes tuen kann.
    Genau so dacht` der Weihnachtsmann
    und kam nun an, im Sack Geschenke,
    im ersten Dorf. Hier gab`s Getränke
    in einem Gasthaus. Er sah Licht.
    Der Weihnachtsmann, der dachte sich:
    Ich habe doch noch etwas Zeit,
    denn zur Bescherung ist es weit.
    Ich könnt` vielleicht für eine Stunde
    hier setzen mich in froher Runde
    bei einem Tee, bei einem Wein. –
    So kehrte er ins Wirtshaus ein.
    Hier jubelte, als man ihn sah,
    der ganze Stammtisch. Der saß da,
    lud ein den durst`gen Weihnachtsmann
    zum Gläschen Grog, zum Gläschen Bier,
    es saßen dort der Gäste vier.
    Gleich schaute er auf seine Uhr
    und sagte: „ Eine Stunde nur
    kann ich hier bleiben, mit euch singen.
    Danach muß ich Geschenke bringen
    hin zu den Kindern, die mich mögen.
    Ich bleib` nur kurz, gib euch den Segen
    zum Weihnachtsfeste dann. “
    „ Kommt, stoßen wir nun endlich an!“
    Und jeder weiß, man kann nicht stehen
    auf einem Bein, schon war`s geschehen,
    daß man zum zweiten Gläschen griff,
    der Weihnachtsmann ein Liedchen pfiff.
    Er fing ganz laut zu singen an,
    der Stammtisch macht` es nach dem Mann
    und sang so kräftig mit im Takt,
    daß jeden die Begeist`rung packt`
    am Singen, Trinken, Fröhlichsein.
    Der Wirt, der schenkte ständig ein.
    Und so verging bei Heiterkeit
    der Abend und die schöne Zeit.
    Doch irgendwann nach Mitternacht
    öffnete sich die Türe sacht`.
    Herein kam dort ein kleines Kind.
    Und wie die Kinder nun mal sind,
    fragt`s höflich dann: „Ach, bitte schön,
    habt ihr den Weihnachtsmann gesehn?“
    Der Weihnachtsmann, sehr gut gelaunt,
    sah auf die Uhr und war erstaunt,
    erhielt vom Kinde die Belehrung,
    noch durchzuführen die Bescherung.
    Flugs packt er Rute, griff zum Sack,
    der, noch gefüllt, am Boden stand,
    das Kind hielt dabei seine Hand.
    Er eilte los mit schnellen Schritten,
    und teilte nun von Haus zu Haus
    mit viel Gesang die Gaben aus.
    Stark torkelnd sah man schwanken,
    den Weihnachtsmann, der in Gedanken
    zu sich nun sprach: „Ich armer Tor,
    das kommt niemals nicht wieder vor:
    Die Sauferei von Alkohol
    am Heiligabend tut nicht wohl.
    Im nächsten Jahr, das will ich schwören,
    wird`s Wirtshaus mich bekehren
    nicht noch einmal und gar nicht mehr,
    das ich gelob` euch allen sehr.“-

    Im Nachhinein, das muß man sagen,
    gab`s weder Schimpfen noch ein Klagen.
    Den Weihnachtsmann, den fand man toll,
    auch wenn er war sternhagelvoll.
    Der Wunschzettel für nächstes Jahr
    hat seinen Text schon, das ist wahr.
    Geschrieben steht der Wunsch ganz offen:
    Komm wieder, Weihnachtsmann,
    doch nur besoffen!

    Notariell hinterlegt.
    d.24.03.2001/0184./ Kurzform
    U. Lanin

  18. Die längste Nacht
    „Na dann schlaf mal gut, Mara“, sagte Mama. „Und träum was Schönes.“
    Mit einem leisen Klicken fiel meine Zimmertür ins Schloss. Mama ging ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Ich war allein. Eigentlich hatte ich ja schon lange keine Angst mehr im Dunkeln, schließlich war ich schon zehn Jahre alt. Aber in den letzten Nächten hatte es wieder angefangen! So wie jedes Jahr, wenn es auf Ende Dezember zuging.
    Mama hatte mir erklärt: „ Der einundzwanzigste Dezember hat die längste Nacht und den kürzesten Tag. Kaum ist die Sonne aufgegangen, geht sie auch schon wieder unter. Danach werden die Tage wieder länger, deshalb nennen wir diesen Tag: Wintersonnenwende. Vor langer, langer Zeit haben die Leute geglaubt, dass in der Nacht vor der Wintersonnenwende dunkle Mächte am stärksten sind und ihr Unwesen treiben. Aber das ist natürlich Unsinn“, hatte sie lachend gesagt. Ich war mir da nicht so sicher. Denn immer, wenn es auf den Einundzwanzigsten zuging, kriegte ich richtig komische Beklemmungen, als wäre da wirklich Etwas, dass einem Angst einjagen könnte.
    Am Vorabend dieses einundzwanzigsten Dezember spürte ich aufs Neue, dass etwas nicht stimmte. Die Schatten in meinem Zimmer wuchsen von Minute zu Minute. Sie sahen aus wie finstere Klauen die sich langsam auf mein Bett zuschoben. Der Wind rüttelte am Fenster. Ein wütender Sturm hatte sich zusammengebraut. Und es wurde kalt, eiskalt. Schaudernd zog ich die Bettdecke enger um meine Schultern, doch es half nichts. Im Wohnzimmer murmelte der Fernseher – eigentlich beruhigend, aber nicht heute. Die Angst fühlte sich mittlerweile wie ein einziger riesengroßer Schatten an. Er setzte sich auf meine Brust und raunte: „Jetzt hab ich dich!“
    Ich musste hier weg. Verzweifelt versuchte ich, meine Füße zu bewegen. Langsam die Zehen krümmen – gut – und dann erst einen Fuß und ein Bein über die Bettkannte, danach das zweite Bein. Ich angelte nach dem Fußboden. Doch da war nichts. Das gab´s doch nicht. Ich nahm allen Mut zusammen und sprang. Ich fiel und schrie und dann landete ich. Aber was war das unter meinen Füßen? Ich spürte Blätter und feuchte Erde. Das konnte unmöglich mein heißgeliebtes Lammfell sein. Ich stand im Wald. Mein Bett und mein Zimmer waren verschwunden.
    Graues Licht waberte zwischen dicken, alten Tannen. Schnee hatte die Äste und Nadeln eingehüllt. Still war es hier. Das einzige Geräusch war mein Atem. Kleine Wölkchen standen vor meinem Mund und meine Zähne machten leise klappernde Geräusche. Ein Nachthemd und bloße Füße waren wohl kaum die richtige Kleidung für diesen Ort. Aber wo war ich eigentlich?
    Plötzlich spürte ich ein Kribbeln im Nacken. Jemand beobachtete mich. Aus den Augenwinkeln nahm ich ein Huschen wahr. Dann stand auf einmal ein kleines Wesen vor mir. Es hatte große durchscheinende Augen, blonde Locken und trug eine Art weißen Kittel. Verblüfft starrte ich die Mischung aus Engel, Gespenst und kleinem Jungen an.
    „Hallo, da bist du ja endlich! Wir warten schon so lange! Hast du vergessen dich anzuziehen?“ Interessiert zeigte er auf meine bloßen Füße und mein Nachthemd. „ Hier, nimm das.“ Schnell griff er hinter einen Baum und reichte mir einen Umhang und Stiefel. Beides passte, als hätte es schon immer zu mir gehört.
    „Danke, aber wo bin ich und wer bist du?“ Seltsamerweise hatte ich gar keine Angst und war nur neugierig.
    „Ich bin ein Waldgeist und heiße Angelo. Du bist im Wald des ewigen Winters. Aber das müsstest du doch eigentlich wissen.“ Erstaunt zog er die Augenbrauen hoch. Da Waldgeister anscheinend keine hatten, sahen seine Augen nur noch durchscheinender und noch größer aus.
    In diesem Moment zersplitterte Holz. Eine Tanne, wie von einer riesigen Axt gefällt, kam direkt auf uns zu. „Schnell, nimm meine Hand. Er hat uns schon entdeckt!“ Im nächsten Augenblick saß ich auf Angelos Rücken, und er trug mich mit rasender Geschwindigkeit durch den Wald. Auf einer Lichtung bremste Angelo endlich ab. „Uff, das war knapp.“
    „Was war das?“ Atemlos kletterte ich von seinem Rücken.
    „Das war Satyll, der Herr der Finsternis. Er will nicht, dass du hier bist. Er hält uns Waldgeister gefangen. Nur die mutige Tat eines Menschenkindes kann uns retten. Das will er natürlich mit allen Mitteln verhindern. Aber jetzt bist du ja da!“
    Angelos Stimme klang jetzt wie ein helles Glöckchen voll Hoffnung und Freude. Gerade wirkte er so glücklich. Oh je, ich würde ihn enttäuschen. Das musste alles ein riesen Missverständnis sein. Ich war bestimmt nicht das Menschenkind, auf das er wartete.
    „Komm, ich stelle dich den anderen vor.“ Wieder zog er mich mit sich. „Es ist nicht weit. Wir haben uns versteckt.“ Vor einer besonders dicken Tanne blieben wir stehen. Die Umrisse einer Tür erschienen. Lautlos klappte sie auf und wir schlüpften hinein.
    Und wieder fiel ich. Verdammt, gab es in diesem Land denn keine Treppen? Aber diesmal landete ich so weich, als hätte mich eine Wolke aus vielen kleinen Wattebäuschchen aufgefangen. Winzige Lichter erleuchteten die Wände einer Höhle. Hände griffen nach mir und zogen mich in ihre Mitte. Große Augen blickten mich an, und freudige Rufe wurden laut: „Das Menschenkind ist da. Sie ist gekommen, um uns zu retten.“
    Mir wurde ganz mulmig. Jetzt oder nie! „Es tut mir leid, aber ich bin das nicht. Ich kann keinen retten. Ich habe doch selber ganz viel Angst.“
    Stille, alle hatten meine Worte gehört. Angelo sah mir fest in die Augen: „Wer in dieser besonderen Nacht zu uns kommt, muss einfach mutig sein.“ Das war lieb von ihm, doch ich glaubte ihm nicht. Ich war in diese Welt doch nur zufällig hinein geraten und nicht die lang ersehnte Retterin!
    Mit einem Mal erfüllte ein Brausen und Tosen die Höhle. Die Waldgeister stoben auseinander. „Satyll kommt, um sich sein jährliches Opfer zu holen“, piepste ein winziges Waldgeistmädchen in mein Ohr. Ich drehte mich um und konnte gerade noch sehen, wie Angelo von einer schwarzen Wolke umhüllt verschwand. Ohne nachzudenken packte ich den letzten Zipfel seines Kittels und wurde mitgerissen.
    Hart war der Aufprall. Ich konnte nichts sehen. Alles war schwarz. Niemals hatte ich so ein lichtloses Dunkel erlebt. Meine Hand umklammerte noch immer krampfhaft das Stückchen Stoff.
    „Du kannst jetzt loslassen. Es ist zu spät. Der Herr der Finsternis hat uns in seinem Verließ eingesperrt … aber danke, dass du mit gekommen bist.“ Zitternd drückte Angelo sich an mich. “Wir Waldgeister können totale Dunkelheit nicht lange ertragen. Wir verlieren dann alle Hoffnung und welken, wie Blumen ohne Wasser.“
    „Aber nach jeder Nacht kommt doch ¬ – ein neuer Morgen.“ Das klang auch in meinen Ohren ziemlich lahm.
    „Ohne Licht können wir nicht daran glauben.“ Er sackte an meiner Schulter zusammen. Seine Hand fühlte sich schon jetzt wie ein getrocknetes Blatt an.
    Fieberhaft überlegte ich, wie ich dem kleinen Waldgeist helfen könnte. Er war so fürsorglich zu mir gewesen. Der neue Umhang wärmte mich wie eine zweite Haut. Als ich noch viel jünger gewesen war, hatte Mama mir vor dem Schlafen gehen immer ein leuchtendes kleines Gesicht gegeben. „Das ist ein Nachtlicht“, hatte sie gesagt. „Wenn du mal aufwachst, zwinkert es dir zu und du weißt: Alles ist gut. Nichts kann dir geschehen.“ Und wirklich hatte mir die kleine Lampe in so mancher Nacht „zugelächelt“, bis ich sie irgendwann nicht mehr brauchte. Wenn ich nur in diesem Augenblick das Nachtlicht bei mir hätte. Ganz fest kniff ich die Augen zusammen. Ich sah das Licht vor mir. Ein Auge zwinkerte und die Mundwinkel schoben sich nach oben. Ein Vibrieren ließ mich zusammen zucken. Es war der neue Umhang. Ich griff hinein und zog – wie konnte das sein – mein altes Nachtlicht heraus. Hatte mir Angelo etwa einen Zauberumhang gegeben? Na, das hätte er mir auch gleich sagen können!
    „Angelo, schnell wach auf. Ich hab` ein Licht für dich.“ Ich schüttelte den Waldgeist. Doch nichts geschah. Schnell legte ich ihm die Lampe in die Hände und wartete. Es war doch noch nicht zu spät?
    Es knarrte und knackte und ein helles Viereck erschien in der Dunkelheit. Der Schatten eines riesigen Mannes zeichnete sich in ihm ab: Satyll war gekommen!
    Mit weichen Knien kam ich auf die Beine und stellte mich vor Angelo.
    „Geh mir aus dem Weg, Menschenkind. Heute Nacht kann mich nichts und niemand aufhalten“, dröhnte es. Gierige Schatten flossen Satyll direkt aus den Händen und auf mich zu. Schon leckten sie an meinen Füßen, da zuckten sie jäh zurück. Hinter mir hatte Angelo sich aufgesetzt und warf dem Herrn der Finsternis das Nachtlicht mitten in seinen weit aufgerissenen Schlund. Satyll brüllte und krümmte sich. „ In mein Haus hat es noch nie ein Licht geschafft.“ Die kleine Lampe wurde immer größer und füllte den schwarzen Riesen von Innen aus. Wie rissiges Papier, bekam er Löcher und löste sich schließlich in einem Funkenregen aus Licht auf. Leuchtende Punkte schossen ins Dunkel, verglühten und sanken als Ascheflocken zu Boden. Dann war das helle Viereck leer. Satyll war fort und mit ihm sein Verließ und alle Schatten.
    Sonnenlicht kitzelte mich an der Nase. Wir standen wieder auf der kleinen Lichtung im Wald. Überall schüttelten sich die Tannen den Schnee von den Zweigen. Es war wärmer geworden. Der Boden dampfte. Eine Amsel begann, zu singen und ein Reh lugte keck hinter einem Busch hervor. Angelo riss die Arme nach oben und hüpfte fröhlich neben mir auf und ab.
    „Es ist vorbei. Wir sind frei!“, jubelte er immer wieder. „Und das haben wir nur dir zu verdanken.“ Übermütig packte er meine Hände und wirbelte mich im Kreis herum.
    „Aber ohne deinen Zauberumhang hätten wir das nie geschafft.“, musste ich jetzt doch einwenden.
    Abrupt stoppte Angelo den Freudentanz und schüttelte erstaunt den Kopf. „Das ist kein Zauberumhang. So etwas gibt´s doch gar nicht.“
    „Aber …“
    „Mensch Mara, nun glaub es doch, das warst ganz allein du!“

    Mit einem Ruck erwachte ich. Ich lag wieder in meinem Zimmer unter der warmen Bettdecke. Gerade hatte ich mit einem Waldgeist auf einer Lichtung gestanden. Seine letzten Worte hallten noch in meinem Kopf. …ganz allein du! Was für ein merkwürdiger Traum. Alles hatte sich so echt angefühlt.
    Obwohl die Nacht noch nicht vorbei sein konnte, wirkte mein Zimmer hell und friedlich. Bett, Regal, Schreibtisch – alles wie immer. Aber der Stuhl … darauf lag etwas. Gestern Abend war er noch leer gewesen. Da half nur eines, Augen zusammen kneifen und von zehn runter zählen: … vier, drei, zwei, eins. Ich blinzelte. Der Umhang und ein paar Stiefel waren immer noch da.

  19. Fürchte dich nicht
    Es war vier Tage vor Weihnachten. Der Himmel sprühte nasskalte Güsse über die Stadt. Ich fürchtete mich vor Weihnachten. Ich sah durch die Regentropfen an der Scheibe auf den Hinterhof, wo die Mülltonnen stehen. Ich kochte Kaffee. Ich fürchtete mich vor dem langen Winter. Ich ging zur Arbeit und tat meine Pflicht. Ich bereitete das Abendbrot. Ich wusch mein Gesicht und fürchtete das Alter. Ich deckte das Bett auf und fürchtete mich vor dem Tod.
    Am dritten Tag vor Weihnachten standst du an meinem Lebensweg, berührtest meine Seele, mein Herz und meinen Schoß. Eine große Liebe nahm ihren Lauf und ließ uns wieder los.
    Ach, könnt ich dich noch einmal lieben. Vier Tage vor Weihnachten ginge es los:
    Der Himmel sprüht nasskalte Güsse über die Stadt. Ich fürchte mich nicht. Ich sehe durch die Regentropfen an der Scheibe auf den Hinterhof, wo die Mülltonnen stehen. Ich koche Kaffee. Ich fürchte mich nicht. Ich gehe zur Arbeit und tue meine Pflicht. Ich bereite das Abendbrot. Ich wasche mein Gesicht und decke das Bett auf. Ich fürchte mich vor nichts.

  20. Weihnachten 1944

    Persönliche Erlebnisse von Günter Hellmann (geboren 1926 in Solingen, Struppsmühle, bis 1957 wohnhaft Neustraße 31) verstorben 2012

    „Mach die Tür zu! Mensch, wieso warst du überhaupt draußen?“ Karl fährt heftig mit dem Stocheisen in die Glut vom Kanonenofen.
    Wie der mich anblafft! Ich kann doch nichts dafür, dass heute der 24. Dezember ist! „Werd‘ doch wohl noch austreten dürfen! Und außerdem kommt gleich die Feldküche. Ich wollte dem Fritz nur begreiflich machen, dass er diesmal an der Straßen stehen bleiben soll, sonst kriegen wir wieder Ärger wegen der Reifenspuren bis zu uns hin.“ Karl feixt. „Der Fritz denkt auch: Was der Hauptmann kann, weil ihm die paar Schritte durch den Schnee zu weit sind, das kann ich schon lang. Und wo das immer noch so tüchtig saut von oben, sind die Spuren eh im Nu zu. Da können die Tommies noch so tief fliegen, die sehen nix.“
    Karl hat Recht. So viel Schnee wie in diesem Dezember gab es schon lange nicht mehr. In dem pottflachen Holland, in den Feldern bei Roermond, sieht es aus wie in Sibirien, wo ich beinahe gelandet wäre.
    „Weihnachten muss Schnee liegen,“ murmelt Karl. Er horcht. „Was hab ich gesagt? Da kommt er ja!“ Karl hat gute Ohren. Der alte Opel mit dem Feldküchen-Anhänger hält 50 Meter weiter an der Straße. Wir ziehen Stiefel und Mantel wieder an. Der Feldgeschirr für Unteroffizier Weber und Feldwebel Scholz drückt uns Fritz auch noch in die Hand, wie immer. Heute gibt’s aber mehr zu tragen. Karl kratzt sich hinterm Ohr. „Sonderzuteilung, was? Weil Weihnachten ist?“ „Klar, Karl! Was denn sonst?“ Fritz lacht ein bisschen zu laut. Vom Hörensagen weiß er es: Wenn eine Sonderration Schnaps dabei ist, geht es am nächsten Tag garantiert in irgendeine brenzlige Situation. Na, irgendwer wird sich über meine eigene Ration Schnaps schon erbarmen, Alkohol ist nicht mein Fall. Vielleicht hätte ich mich besser in den Bunker drei melden sollen. Die essen jetzt sicher gemütlich Buttercreme-Torte und Schokoladenkekse. Karl hat sich gestern abend halb tot gelacht, als er mir das Ding erzählte. Die Kameraden haben in einer Art Cowboy- und Indianer-Anwandlung ein paar Engländer aus deren Bau verscheucht. Die Burschen sind auf Socken in den Schnee gelaufen, und die Unsrigen haben sich an den Weihnachtspaketen der englischen Mammies bedient. Wir sitzen hier in unserem Erdbunker ziemlich aphatisch herum. Ich bin seit zwei Wochen dabei. Außer den Ofen ingang zu halten und Zivilarbeiter beim Bunkerbau zu beaufsichtigen brauchen wir im Moment nichts zu machen. Die ungefähr zehn Quadratmeter mit den beiden dreistöckigen Betten, dem kleinen Tisch und der rohen Holzsitzbank sind alles, was zu besichtigen ist.
    Am 2. Januar werde ich neunzehn. Ob wir dann noch hier sind? Karl setzt einen Topf auf den Ofen. „Wie isses mit dem Rest von unseren Gummiadlern?“ Unser Unteroffizier hat sich aus Gewehrkugeln und Watte so eine Art Schrot-Munition gebastelt und kam gestern sogar mit drei erlegten Schneehühnern zurück. Als „Weihnachtstorte let Karl noch zwei Scheiben Kommoissbrot auf die heiße Platte. Wenn sie schön braun sind, knabbert er den „Adolf-Hitler-Kuchen“ wie Zwieback. Über die Verpflegung können wir uns eigentlich nicht beklagen. Trotz Schweinekälte, Schnee, und ab und zu Feindberührung haben wir bis jetzt noch nicht gehungert.
    Durch den schmalen Flur kommen Tritte. Stimmt ja! Die Kameraden aus den Bunkern hinterm Wald sind hierher beordert worden. Zur Weihnachtsansprache! Hauptmann Börner vom Kompagnie-Gefechtsstand macht an Heiligabend die Runde und hält auch bei uns eine schöne Rede. Neun Mann passen in unseren Bunker rein, wenn keiner das breite Hemd anhat. Aber so viele, wie der Hauptmann schon doppelt sieht – dafür müsste man den Saal runter lassen. Wie viel Weihnachtsfeiern mag der heute schon runter gespült haben? „Kameraden! Es geht wieder vorwärts! Wir haben alle gehört, dass unsere Truppen wieder vor Malmedy stehen und auf Lüttich zu marschieren. Wir werden im neuen Jahr den teuer verdienten Endsieg erringen! Hauptmann Börners Zunge kommt noch so eben um die Kurven. Dabei versucht er krampfhaft, die Tischkante fest zu halten – sie hat heute einen besonders starken Seegang. Hinter dem schwankenden Redner fiepst eine Mundharmonika. Stille Nacht, heilige Nacht soll das wohl sein. Ein paar von uns singen streifenweise mit. Draußen gibt’s Radau. „Hintern weg, ich muss die Tür aufmachen!“ Drei Frauen klopfen sich den Schnee ab. Eine nimmt mich am Revers. „Onsere Meis-ches! Wo sein onsere dochtern?“ Feldwebel Scholz zwängt sich durch. „Was ist hier los? Seit fünf Uhr ist Sperrstunde! Sie kennen doch die Vorschriften!“ „Onsere dochtern! Sofie, Annika on Berta! Die mütten in datt Camp sein, wat is dat met onsere Kinderen?“ Die Frauen zittern. Vielleicht vor Kälte, eher noch vor Sorge. Scholz quetscht sich wieder in den Raum. Er macht Meldung. Der Hauptmann stellt sein Glas hin. Neben mir macht sich einer ganz dünne und huscht zur Tür hinaus. Karl merkt es auch. „In dem seiner Haut möcht ich jetzt nicht stecken“, murmelt er. „Der rennt jetzt rüber und schmeißt die Schnecken aus der Unterkunft! Hoffentlich haben die noch Zeit, sich anzuziehen und zu verschwinden!“
    Hauptmann Börner stolpert an mir vorbei durch den Gang und wird von seinem Fahrer in den Kübelwagen gehievt. Ich brauche Luft, mir ist kotzig zumute. Weihnachten ist heut – Heiligabend. Sterne gibt es keine zu sehen, nur Schneekristalle im Wind – fast so vergänglich wie Menschenleben – fast so schön wie Frieden auf Erden.

    So oft mein Mann diese Szenen erzählte, standen ihm Tränen in den Augen. Das Lied „Stille Nacht..“ konnte er mehr als dreißig Jahre weder singen noch unbelastet hören. Warum waren die holländischen Mütter so voll großer Angst um ihre Töchter? Er hat es mir so brutal geschildert, wie es wirklich unzählige Male vorgekommen ist. „Hätten die Eltern der Mädchen, oder sogar Dorfnachbarn – ihre Kinder erwischt in der eindeutigen Situation mit deutschen Soldaten – diese Töchter wären in ihrem Ort Spießruten gelaufen – die Haare bis auf die Glatze abrasiert, sie und ihre komplette Familie hätten von niemandem in der Stadt jemnals mehr ein gutes Wort erwarten können, hätten nirgendwo irgendwas kaufen dürfen; sie wären beschimpft und ausgegrenzt worden. Und wenn von der „todeswürdigen“ Fraternisierung schon ein lebendiges Andenken unterwegs war? Das wäre das Ende gewesen. Auswandern? Wohin? Selbstmord? Nicht selten – alles in allem kein Weihnachtsgeschenk – jedenfalls nicht auf den ersten oder zweiten Blick.

    1. Liebe Ursula,
      deine Erzählung von Weihnachten in dunklen, kriegerischen Zeiten geht ans Eingemachte. Es ist sicherlich heilsam, wenn wir uns die Abgründe unserer Geschichte vor Augen führen, wenn wir uns bewusst machen, wie es uns heute im Vergleich dazu geht. Darüber hinaus ist es so wertvoll, die eigenen Lebenserinnerungen mit anderen zu teilen – vielen Dank dafür!
      Andreas

  21. Áfram, die vorwärts Gehende – oder wie ein Baum in unsere Wohnzimmer kam

    Es begab sich vor einigen Hundert Jahren hoch oben im Norden, dass eine junge reidgotische Wikinger-Kriegerin, eine Berserker, sich auf ihre erste und wichtigste Reise begab. Áfram war ihr Name, Kriegerin der Rose. Áfram war die Tochter eines großen Princeps namens Erik, doch ihr Vater war bereits vor einigen Jahren auf einer Reise verschollen. Gemeinsam mit elf seiner Männer hatte er abgelegt, doch niemand von ihnen war zurückgekehrt. Erik war nie mit mehr als zwölf Berserkern in Schlachten oder auf Reisen gewesen. „Man sollte dem Gegner immer eine faire Chance lassen“, hatte er einmal zu Áfram gesagt. Und niemals hatte Erik eine Schlacht verloren. Immer war er zusammen mit all‘ seinen Männern siegreich zurückgekehrt. Doch als er vor einigen Jahren aufbrach, das Ende der Welt zu suchen, kehrte er nicht zurück und auch die anderen elf Berserker blieben verschwunden.
    An dem Tag, an dem Áfram ihre Ausbildung zur Berserker beendete, brach sie auf. Allein. Sie hatte kein Schiff zur Verfügung, denn mit dem einzigen, welches ihr Volk besaß, einer Knorr, war ihr Vater verschwunden. So blieb ihr nur ein kleines Segelboot. Sie hatte niemandem von ihrem Vorhaben berichtet und segelte mitten in der Nacht davon.
    Zunächst glaubten die Reidgoten an eine Entführung Áframs, doch als sie das verschwundene Segelboot bemerkten, wurde ihnen klar, dass sie allein aufgebrochen war. Lange Zeit hörte niemand von ihr und auch Erik, seine elf Berserker und die Knorr blieben verschollen.
    Zehn Monate lang tauchte Áfram nicht wieder auf und zehn Monate lang herrschte der Winter im Lande der Reidgoten. Schnee und Eis wohin sie nur blickten und nicht ein Fleckchen grün war zu sehen. Sie mussten sich von Fischen, die sie aus dem zugefrorenen Meer angelten ernähren, um nicht zu verhungern.
    Im elften Monat aber wurde es ein wenig wärmer und die Reidgoten schöpften Hoffnung. Das erste Zeichen dafür, dass der Boden unter all‘ dem Eis noch fruchtbar und lebendig war, stellte der Sprössling eines Nadelbaums dar. Die Menschen hegten und pflegten ihn, damit er die eisigen Temperaturen überstand und nach einiger Zeit wuchsen weitere Pflänzchen aus der eisigen Erde und es wurde sogar ein wenig wärmer. Im zwölften Monat nach dem Verschwinden von Áfram wurde es endlich Frühling. Die Reidgoten jubelten und veranstalteten ein großes Fest. Es wurde rund um den jenen ersten Nadelbaum getanzt, gesungen und gelacht, welcher das Ende des langen Winters verkündet hatte.
    An jenem Abend gab es erneut Grund zur Freude, denn als das Volk der Reidgoten um den Baum versammelt war, legte die vermisste Knorr unten am Hafen an. An Bord befanden sich Princep Erik mit seinen elf Berserkern sowie seiner Tochter Áfram. Die Krieger kehrten mit Geschenken für jeden einzelnen Reidgoten zurück und hatten genug Lebensmittel dabei, um sie alle für einige Monate zu ernähren.
    Wo sie all‘ die Zeit gewesen waren, was sie erlebt hatten und wie sie an die vielen Gaben gelangt sind, ist nicht überliefert worden, doch noch heute feiern wir am Ende des zwölften Monats ein Fest unter einem Nadelbaum, wie essen und trinken und übergeben uns gegenseitig Geschenke, um an die heimgekehrten Berserker zu erinnern und an den kleinen Nadelbaum, der, als Zeichen für das Ende des Winters, den Menschen neue Hoffnung gab.

    1. Liebe Susan,
      in der Tradition der Mythen liefest du uns hier eine ganz besondere Erklärung für das Weihnachtsfest. Mythen begleiten den Menschen von Beginn an, es macht Freude zu lesen, wie du dich in diese Tradition stellst.
      Vielen Dank!
      Andreas

  22. In stiller Nacht
    Martina E. Siems-Dahle

    Der Trubel des Heiligen Abends neigt sich dem Ende zu. Die Spülmaschine läuft. Die Kinder streiten ein letztes Mal. Die Eltern sinken erschöpft zu Bett.
    Stille Nacht.
    Für Mensch.
    Für Tier.
    Für Möbel.
    ***
    „Ist das schschschön!“, säuselt die Türklinke durch das Schlüsselloch.
    „Mmmmh, endlich!“, bestätigt Khan, der alte Perserteppich.
    „Hab’ nun hundertzehn Jahre in meinen Knoten. Es wird mir langsam zu viel.“ Er dehnt und streckt sich. Der baumlange Eichentisch, der auf ihm steht, knarrt dazu.
    „Wie ist denn die Luft da oben, FB4?“, fragt Khan die Klinke.
    „Es könnte frischscher sein. Letzte Rauchschschwaden schschwabbeln durch mein Loch. Als Türklinke muss man so manchen Gestank durchlassen.“
    „Es ist wahr! Geduldig ertragen wir die menschlichen Ausdünstungen“, bestätigt Khan. „Dennoch, dürfen wir uns beklagen? Schließlich hat er uns erschaffen!“
    Mondlicht fällt in ein geräumiges Esszimmer. Die beiden Kameraden sind gerade dabei, ihr Gespräch zu vertiefen, als plötzlich eine jugendliche Stimme sie stört.
    „Hey, was geht?“
    „Bitte, was?“, erwidert FB4 erschrocken.
    „Yepp, was geht?“
    „Was für eine dreiste Frage! Wer stellt sie überhaupt?“, bläst die Klinke durch das Schlüsselloch.
    „Hallo, Deutschland! Immer schön cool bleiben. Hier spricht Flatti. Ich bin das geilste Weihnachtsgeschenk, das man sich vorstellen kann! Ich bin ein 40-Zoll-Full-HD-Backlight-LCD-Fernseher!“
    Khan schüttelt es.
    „Dann sind das also deine Tentakel, die auf meinem wertvollen Wollkleid liegen?“
    Aber Flatti stichelt weiter.
    „Sag an, du Lost Generation, wie bist du denn drauf? Schon mal was von Kabeln gehört, den Quellen meiner Energie, den Fundgruben meines allumfassenden, telemedialen Wissens?“
    „Schschtop! Mein Bart dreht sich schon im Loch herum!“ stöhnt FB4.
    „In aller Freundschaft!“, entgegnet Flatti. „Ich bin der Weltspiegel. In mir stecken gute Zeiten, schlechte Zeiten! Wetten, dass ich the next topmodel bin?“ Dabei lässt er sein blaues On-Lämpchen erregt flackern.
    „Pah! Ich kenne deine Schschpezies“, speit FB4. „Dein Vorgänger war auch so ein Schschlaumeier. Es dauerte nur einen kurzen Moment, da knallte er durch.“ Höhnisch fügt die Türklinke hinzu. „Deine kümmerliche Existenz hängt doch nur von einem Kontakt in der Wand ab. Ich hingegen erfahre täglich zahlreiche.“
    „Ein sehr delikates Thema“, mischt sich Khan ein und stellt dabei ein Bündel wollener Fransen hoch.
    „Da sprechen ein Stück Plastik und ein Klumpen Metall über den Nutzwert ihrer Existenzen! Meine Freunde: Leben bedeutet, eine Seele zu haben. Die wurde mir schon bei meiner Entstehung im fernen Afghanistan eingewoben. Auf meiner Reise vom Orient zum Okzident haben mich die Menschen in die Gebete einbezogen. Ich bin eine Brücke zwischen den Welten!“
    „Halleluja!“, prustet FB4. „Im Dienste der Menschheit: Wer ist der Nützlichste? Ein alter Wolllappen oder eine Mattscheibe? Ich sag’s Euch: ICH bin der Nützlichste!“ Die Türklinke holt tief Luft.
    „Als ich vor wenigen Jahren im wiedererstarkten Bauhaus, Fachbereich 4, in Dessau entstand, wurde mir schon bald bewusst, welche Bedeutung mir zuteil geworden ist. Abgesehen davon, dass ich als Nachfahre der Gropius-Linie …“
    „Um Himmelswillen, FB4!“, unterbricht Flatti. „Gibt’s eine Fortsetzung oder kann ich in die Sendepause gehen?“
    „Bei meinem edlen Glanze, du Ignorant“, kontert FB4. „Seit ewigen Zeiten öffnet meine Gattung dem Menschen die Türen. Mein Schlüsselloch ermöglicht den Blick in fremde Welten. Mein Schlüssel ist das Zentrum der Macht!“
    „Und den Schlüssel hat immer noch der Mensch in der Hand, mein Freund. Vergiss das nicht!“, mahnt Khan.
    „Freiheit für die Klinken dieser Welt!“ FB4 lässt das Türblatt erzittern. „Jede Klinke hat das Recht, dem Menschen die Tür zu weisen. Fort mit den Stiften und Dornen!“
    Dieser Forderung folgt Stille. Das Mondlicht wird schwächer. Das Wohnzimmer taucht in nächtliches Dunkel.
    ***
    Kaum ist es Tag geworden, stürmen Kinder die Treppe hinunter.
    „Ich will den Fernseher anstellen!“, schreit das Mädchen.
    „Nein, ich!“, brüllt der Junge. Er reißt an der Türklinke, die Tür fliegt auf, – es scheppert metallisch.
    „Was ist denn da los?“ Die Mutter eilt ins Wohnzimmer. „Jetzt aber raus hier. Fernsehen, so früh am Morgen, das gibt es nicht!“
    Sie zieht den Stecker des Fernsehers aus der Wand, das blaue Lämpchen erlischt; sie bückt sich nach der heruntergefallen Klinke, verlässt das Zimmer ohne die Tür zu schließen.
    Stille kehrt zurück.
    „Ja, ja“, murmelt der alte Perser. „Hochmut kommt vor dem Fall. In den Sprüchen Salomos steht’s geschrieben.“
    Doch das haben nur die Möbel gehört.

    © 2016

    1. Liebe Martina,
      jeder deiner Gegenstände hat seine ganz eigene Persönlichkeit. Dies schlägt sich auf die Wortwahl, die Ausdrucksweise und die Weltsicht nieder. Es macht Freude, dieser ungewöhnliche Debatte zu lauschen.
      Schöne Schreibgrüße
      Andreas

  23. Das war’s

    Rumms! Mit lautem Getöse fiel alles, was sie mühsam aufgebaut hatte, in sich zusammen. Henriette verlor viele Tränen im Schnee an diesem Neujahrsmorgen. Natürlich hinten im Garten, am Komposthaufen, wohin sie mit dem schweren Biomülleimer geflüchtet war. Es war noch ganz früh, sie hatte kaum geschlafen und fühlte sich wie gerädert. Weder Schwiegermutter Elli, noch Hartmut – der Name passte immer besser zu ihm – erst recht nicht Klara, das unschuldige Kind, sollten sehen, wie ihr zu Mute war.
    Diese schauerlichen Festtage. Mühsam hatte sie sich am Heiligen Abend zusammen gerissen, um des lieben Friedens willen, als Hartmut ewig lange verschwunden blieb, unter dem Vorwand, den Baum gleich im Keller einzustielen. Nachdem sie allein die Gans gestopft und in den Ofen geschoben hatte, war sie selbst in den Keller hinab gestiegen, dessen Vordertür abgeschlossen gewesen war. Klar, er hatte sich zu einem „Aperitif“, wie er das nannte, in die nächste Kneipe verabschiedet, typisch. Als sie vor dem Keller, der zu ihrer Wohnung gehörte, ankam, fiel ihr der schmale Lichtstreifen unter der Tür auf. Sie hörte fröhliches Pfeifen. Da saß der Idiot, der ihr Mann war, hatte sich eine Flasche Schaumwein geöffnet – es stank schon infernalisch nach Alkohol, wie sie missbilligend bemerkte – und die Nordmanntanne – schief eingestielt, natürlich – schon mit der elektrischen Lichterkette behängt. Mühsam beherrscht hatte sie gefragt, warum er denn seit einer geschlagenen Stunde verschwunden sei. Hartmut hatte fröhlich geantwortet, irgendjemand aus dem Haus habe ihn wohl aus Versehen eingeschlossen „Und, wie du siehst, habe ich die Zeit gut genutzt“. Sie hatte verbissen zugestimmt und still auf den jämmerlichen Rest in der Champagnerflasche gestarrt. „
    Wo du jetzt schon hier bist, Schatz, kannst du mit anpacken.“ Wortlos hatte sie den Stecker der Lichterkette gezogen, sich das Kabel um die Hüfte gewickelt und den Baum – natürlich am schweren Fuß – ergriffen, das ganze Gewächs und an dessen Spitze den leicht schwankenden Hartmut vor sich. In der zweiten Etage hatte sich das Kabel genau in dem Moment ins Rutschen und Fallen verabschiedet, als sie den 2,50 Meter-Baum um die enge Kurve der Treppe bugsierten. Sie hatte zu spät gemerkt, dass sich die Schnur um einen Ast und ihren linken Fuß verheddert hatte, und war ins Stolpern und Fallen gekommen. Der nichtsahnende Hartmut war auch nach unten gerissen worden und auf dem Baum und ihrem Hintern gelandet. Eine Wohnungstür war in dem Moment aufgerissen worden, als das Treppenhauslicht erlosch.
    „Mama, Mama, guck doch mal, Gesterkamps treiben’s auf der Treppe!“ Nach diesem Schrei ging das grelle Licht über ihnen wieder an, das wiehernde Gelächter schrillte ihr noch jetzt in den Ohren. So hatte die Stille, Heilige Nacht angefangen.
    Danach waren nur noch eine verkohlte Gans, eine wegen der falschen Barbie heulende Klara, anzügliche Blicke von Elli, als sie Hartmuts Geschenk auspackte – BH und String-Slip in Leopardenmuster mit rosa Spitze – der betont leidende Anruf ihrer Mutter, die ihr deutlich zu verstehen gab, wie einsam sie in ihrer Wohnung saß, zu überstehen gewesen. Hartmut hatte sich vor den Fernseher gesetzt und eine Bierflasche nach der anderen geöffnet. Als endlich Elli ins Gästezimmer einquartiert, Klara ihre Barbie zehnmal umfrisiert und mit leisem Gejammer “Mir ist so schlecht, Mama“ – kein Wunder nach diesen Unmengen von Zimtsternen – ins Bett gegangen war und Hartmuts Schnarchen den Raum füllte, war sie einfach ins Bett gefallen.

    Am Weihnachtsmorgen hatte sie die blauen Flecken gezählt, die Leopardendessous in die hinterste Ecke des Wäscheschranks gestopft und die Treppe gefegt, die voller Nordmanntannenadeln war, wohingegen auf ihrem Baum, das hatte Elli sich natürlich nicht verkneifen können, „Kahlheit und Leere“ geherrscht hatte.
    „Henriette, warum lässt du dir den Baum denn nicht liefern, dann hätte der arme Hartmut nicht solche Arbeit damit gehabt.“ Der arme Hartmut war da schon längst zum Frühschoppen aufgebrochen.

    Und jetzt hatte das neue Jahr angefangen und alles war noch schlimmer geworden. Die Tränen liefen nicht mehr, sie schniefte nur noch leise. Am Silvesterabend – das war erst gestern gewesen und kam ihr doch so ewig weit zurück liegend vor – hatte sie sich mit Hartmut versöhnen wollen. Eigentlich, so hatte sie gestern noch gedacht, war er doch ganz lieb. Für seine Mutter konnte er schließlich nichts.
    Klara verbrachte Silvester bei einer Freundin im Haus nebenan – mitsamt der Rosamunde getauften pinkhaarigen Barbie. Ihr gemeinsamer Abend ohne Schwiegermutter und Kind sollte ganz romantisch – mit Kerzen, Käsefondue, ein bisschen Klaviermusik von André Rieu – verlaufen, so hatte sie sich das gedacht. Hartmut war noch unterwegs, Rinderfilet besorgen. Wo waren die Leopardendessous eigentlich geblieben? Sie sah sich noch in kaum gebändigter Vorfreude ihre biedere Unterwäsche durchwühlen – nach einem Rosenschaumbad würde sie in die winzigen Teile schlüpfen, so hatte sie sich das gedacht. Henriette schluchzte noch einmal auf. Wie grausam war das alles!
    Endlich hatte sie die hauchdünnen Dinger gefunden, die sie achtlos in ihre goldglitzernde Schachtel zurück geworfen hatte. Sie zog den BH heraus und wunderte sich. Körbchengröße C, das war doch viel zu groß für sie. Und der Slip in Größe 38. Da flatterte ein kleines Kärtchen heraus, Hartmuts Schrift, eindeutig: „Für meinen süßen Tiger – ich bin so wild nach deinem Erbeermund, du meine einzige Lust-Luise!“.

    Sie zitterte vor Kälte. Der Garten war grau und kahl. Sie hatte die Unterwäsche und die Karte fallen lassen, als hätte sie sich verbrannt. Das Rosenbad hatte sie sich geschenkt. Sie stand schon in der Küche am Spülbecken, als die Wohnungstür aufgegangen war. Ellis schrille Stimme war nicht zu überhören gewesen:
    „Huu, Henriette, Überraschung! Wo steckst du?“
    Von da an war alles nur noch mühsam gewesen. Hartmut hatte abgepacktes Fleisch von Lidl mitgebracht – wo war er die ganze Zeit gewesen? Man hatte gemeinsam „gemütlich“ ferngesehen, sie hatte vermieden, Hartmut anzusehen, der ihr um Mitternacht einen verrutschten Kuss auf die Wange verpasst und „Frohes Neujahr, Schatz“, gemurmelt hatte.

    Und jetzt? Sie setzte den schweren Eimer endlich ab, an den sie sich geklammert hatte, obwohl ihre Knöchel schmerzten und die Fingerspitzen schon lange bläulich aussahen. Der Komposthaufen war eisverkrustet, hart und glatt, sie hatte nicht aufgepasst.
    Rumms. Mit lautem Getöse kippte der Metalleimer um. Die Reste des zähen Filets von gestern, glibberige Soße, angeschimmelte, schwarz verkohlte Stücke der Weihnachtsgans, runzlige Salatblätter, Obstschalen – alles ergoss sich über ihre Füße.
    Was sie mühsam zu halten versucht hatte, war nichts mehr wert.

  24. Die alte Frau feiert Weihnachten

    Die alte Frau war fast fertig. Die Weihnachtsgans musste noch fünf Minuten im Ofen bleiben, aber sie sah schon sehr knusprig und goldbraun aus. Für jeden war auf dem großen Tisch im Wohnzimmer gedeckt. Auch die Plätzchendose wartete nur darauf, geplündert zu werden. Der Weihnachtsbaum leuchtete, es war halbdunkel. Draußen lag Schnee, aber in ihrem Haus war es dank des Kamins sehr warm. Die alte Frau sah zum Kopfende des Tisches. Der Stammplatz ihres Mannes. Er würde leider nicht kommen können. Sie legte ein schwarzes Band auf seinen Teller. Sie blickte zu dem Teller links daneben und verzerrte leicht das Gesicht. Sie würde auch nicht kommen. Und er? Lag mit Grippe im Bett. Sie? Musste auf die Kleinen aufpassen. Die alte Frau holte einen Schlüssel, der zwei Tonnen zu wiegen schien, und schloss die Haustür dreimal ab. Dann ging sie von Zimmer zu Zimmer und ließ die Rollläden herunter. Um 18:24 Uhr lief sie ganz langsam in den Keller und holte drei Weinflaschen. Schon auf dem Weg nach unten spürte sie, wie ihr Hals sich verengte und der Bereich um ihre Augen ein wenig nass wurde. Aber sie hatte dagegen ein Mittel. Sie öffnete die erste Flasche und schüttete sie ansatzlos in sich hinein. Die alte Frau sah nicht ein, warum sie damit aufhören sollte und öffnete die nächste Flasche Wein. Hatte es gerade an der Tür geklingelt? Es klingelte tatsächlich. Sie hauchte prüfend in ihre Handflächen und stellte fest, dass sie eine schlimme Alkoholfahne hatte. Vielleicht war es besser, nicht die Tür zu öffnen? Sie wollte nicht, dass jemand sie in diesem Zustand sah. Aber vielleicht war es etwas Wichtiges? Wenn sie sich nur entscheiden könnte.

  25. Minced Pies & chrismaspudding: Irische Weihnacht

    „Schreibst du wie deine Weihnachtstage verlaufen sollen?“, im Brief einer Freundin .
    die Frage, vor der mir bangt.
    Weihnachten steht vor der Tür. Hier an der Küste Irlands ebenso wie in Rom, Paris, London, Frankfurt oder in Hannover. Es lässt sich eine Weile verdrängen bis sich Glitzerketten, Jingle bells Klänge und Wohltätigkeitspendenaufrufe an die Oberfläche des Bewusstseins drängen und erinnern: „Weihnachten, Weihnachten, Weihnachten…“
    „Du fragst mich, wie mein Weihnachten verlaufen soll…“
    Es gibt zwei Fixunkte: am 25.12. abends werde ich Truthahn essen, Wein trinken und chrismaspudding essen. Ich bin eingeladen. Vor dem Pudding wurde ich schon gewarnt: sehr süß und schwer sei er und werde mit viel Whiskey übergossen.
    Aber was mache ich bis zum Abend? Und am 24.?
    Vielleicht schreibe ich Briefe oder telefoniere oder fahre mit dem Auto rum oder gehe spazieren oder lese……
    Schauen was hier passiert:
    Im Laden, der nach billigem Parfüm und Kälte riecht, werden Girlanden verkauft. Scharzgoldplastik mit Kunstschnee, Grüngoldplastik mit Kunstschnee und das Gleiche in Rotgold; daneben Santaclaus in unterschiedlichsten Varianten aus Filz, Glitzersterne in violett oder Rentiergeweihhaarreifen unisex.
    Eine Frau sucht aus dem Bündel Girlanden die für ihre Wohnung richtige aus; die selbst weihnachtlich dekorierte Verkäuferin hilft ihr geduldig, entzerrt verwuselten Glitter und betont das diese Deko „lovely“ sei, „abolutly lovely“
    Jedes noch so kleine Lebensmittellädchen verkauft minced pies, kleine Mürbeteigtörtchen mit einer Rosinenzimtfüllung und chrismaspudding, den klassischen Weihnachtskuchen, der mit viel Whiskey getränkt genossen wird. Alles ist in unterschiedlichen Größen und Preisen aufwendig verpackt in Gold oder bunter Staniolfolie zu haben.

    Überall ist der sonst sehr teure Wein heruntergesetzt – Chrismasday wird ein Feiertag, es soll mehr als Guiness sein.
    Im Pub vor der Brücke über den „river Moy“, ein El Dorado der Lachsangler, singt einer, sie sagen ‚wie Leonard Cohen‘ und meinen seine Stimme. Eine Gruppe junger Leute mischt das Stammpublikum, abwechselnd melancholisch schweigende und dann heftig diskutierende Mitfünfziger, auf. Die neu Hinzugekommenen tragen Chrismaspullover – wahlweise Rentier- oder Santaclausmotiv. In das Strickdesign sind kleine Glühbirnen eingearbeitet, die auf Knopfduck (wo mag der Knopf sein?) auf den jeweiligen Bäuchen oder Brüsten blinken. Zusätzlich oder auch alternativ tragen sie Zipfelmützen oder Rentiergeweihe als Kopfbedeckung – Geweihträger sind ansonsten noch die Kühlerhauben oder Gepäckaufsätze der Autos in der Stadt. Für die weihnachtlich Verkleideten, die offensichtlich einer Betriebsweihnachtsfeier zu entfliehen suchen, stellt sich dieser Pub als ungeeignete Zuflucht heraus, da sie sich – trotz Guiness und Blinkpullover – zu langweilen scheinen.
    Aus den Geschäften tönt seit Anfang Dezember – oder schon früher?- „jingle Bells“, „I wish you a merry chrismas“ oder „Silent night“. Lautsprecher sind auch außen an den Geschäften angebracht, so dass die weihnachtlichen Klänge auch beim Flanieren auf der Straße zu hören sind.
    In Supermärkten, auf Parkplätzen und vergleichbaren Orten bieten freiwillige Helfer Serviceleistungen, wie Tasche packen oder Auto bewachen für wohltätige Zwecke an und Schülergruppen musizieren. Ihre selbstgemalten Schilder weisen auf die caritative Zielbestimmung hin z.B. „dogs for the blind“ oder „Childrens hospital“
    In den Kirchen finden öffentliche „chrismaspenalties“ statt: in Schlangen aufgereiht stehen die Menschen an um zu beichten: einer tritt vor, man lässt einen Sicherheitsabstand, wie man ihn von Banken oder Postämtern kennt, erzählt einem der Priester, die vorne stehen, seine Missetaten um dann von diesem großzügig Vergebung zu erlangen.
    Ich werde chrismaspudding essen und Truthahn, Wein trinken und kein Rentiergeweih, und keinen blinkenden Pullover tragen, nicht zum Chrismaspenalty gehen und mich nur mäßig über die weihnachtlichen Klänge freuen.
    In Bellycastle werden die Gänse schnattern, das Meer wird rauschen, der Wind wird klappern, der Kamin knistern…

    Und dann, an St Stephens’s day, am 26.12. werden meine Kinder mich besuchen kommen !

    Merry Chrismas 2016 in Irland Bellycastle/ Ballina.

    1. Liebe Ingrid,
      eine schöne Schilderung deiner ganz persönlichen Weihnachten in Irland – vielen Dank! So viele interessante Details und Einblicke in deine Festtage auf der Insel…
      Schöne Schreibgrüße!
      Andreas

  26. Die weinrote Bluse

    Sie lag einfach auf der Straße: eine weiße Tüte. Ich war auf dem Weg ins Einkaufszentrum, um nach Weihnachtsgeschenken für meine Familie Ausschau zu halten und fand sie, diese weiße Einkaufstüte von einem Bekleidungsgeschäft. Darin eine weinrote Seidenbluse Größe 42 und ein altmodisch wirkender blauer Pulli mit Glitzersteinchen Größe 50. An der Bluse hin noch das Preisschild: 74,99 Euro. Kein Pappenstiel. Ich sah mich um – suchte die Käuferin vielleicht schon nach ihrem Beutel? – Nein, niemand da.
    Da ich ohnehin dort vorbeikam, brachte ich die Kleidungsstücke zu dem Geschäft, dessen Schriftzug auf der Tüte zu lesen war. Vielleicht kannte man die Käuferin da zufällig? Ich erwischte auf Anhieb die Angestellte, die gleich morgens die Käuferin beraten hatte. „Nein, die alte Frau ist vorher noch nie bei uns gewesen“, sagte die Verkäuferin, „das weiß ich genau, schließlich arbeite ich schon seit 30 Jahren hier und habe ein gutes Gedächtnis für Gesichter“. Sie konnte sich gut erinnern: „Eine gebückte alte Frau, die sich nur mit ihrem Rollator vorwärts bewegen konnte. „ Sie musterte mich eine Weile und sagte schließlich: „Das ist ja nett, dass sie die Bluse vorbei bringen, andere hätten sie sicher zu Geld gemacht.“ – „Und nicht nur die Bluse“, antwortete ich, „natürlich auch den Pulli.“ Die Augen der Verkäuferin weiteten sich, als sie in die Tüte schaute: „Der Pulli? … In dieser Tüte?“ Wie sich herausstellte, hatten die Angestellten das blaue Glitzerstück schon vermisst und das abgerissene Preisschild in einer Umkleidekabine gefunden. Und zwar ebenfalls gleich morgens, zu der Zeit, als auch die alte Frau im Laden gewesen war. Daher also war in der Tüte nur der Bon von der Bluse gewesen! „Ein Teil gekauft, ein anderes gleich so mitgenommen“, sagte die Verkäuferin und schüttelte den Kopf. „Aber es war doch eine alte Dame“, warf ich ein, „ein Diebstahl kommt für diese Generation doch wohl nicht in Frage, oder …doch?“ Wohl doch. Die Verkäuferin hatte sich schon gewundert, weshalb die alte Frau mit ihrer Körperfülle eine Bluse in Größe 42 gewählt und mit hochrotem Kopf und zittrigen Händen an der Kasse das abgezählte Geld aus dem abgeschabten Portemonnaie geklaubt hatte. Für den Pulli, der sogar das Doppelte kostete, reichte es dann wohl nicht mehr. Für wen wohl das Seidenteil gedacht war? Ich würde es nie erfahren, überlegte ich, als ich mich zum Gehen wandte. „Aber lassen sie doch ihre Telefonnummer hier“, die engagierte Verkäuferin lief mir nach, „vielleicht meldet sich die Dame hier, weil sie ihre Kleidungsstücke retten will und nicht ahnt, dass wir ihr auf die Schliche gekommen sind.“ – „Nachdem sie durch mich als Diebin enttarnt wurde?“, ich verzog mein Gesicht, „das glaube ich kaum, aber bitte, ich schreibe sie gerne auf.“
    Unkonzentriert begann ich meine Weihnachtseinkäufe. Das Ereignis wollte mich nicht loslassen. Was hatte die alte Dame zur Diebin gemacht? Bezog sie eine Armutsrente, wollte sich aber auch mal schick machen? … Ich hatte recht: „Wagner hier. Sie haben mich beschämt“, brachte eine alte, krächzende Stimme tags drauf am Telefon hervor. „Sie sind so ehrlich gewesen und ich…“ Sie brach mitten im Satz ab. Ich hörte es schnäuzen. „Und ich… ich stehle, nur um zu Weihnachten auch mal etwas Schönes…“ Wieder versagte ihr die Stimme. Warum rief mich die Frau an, wenn sie doch durch mich überführt wurde, fragte ich mich konsterniert. Frau Wagner erzählte schließlich die ganze Geschichte: „Es ist nämlich so: Jahrelang habe ich nichts von meiner Tochter gehört, aber neulich meldete sich Irene doch tatsächlich bei mir und fragte mich, ob wir nicht zusammen Weihnachten feiern wollen.“ Die alte Dame atmete tief durch. „Sie können sich gar nicht vorstellen, wie glücklich ich war. Sie will mich abholen, Heiligabend. Ist das nicht schön?“ – „Und da wollten sie sich mal so richtig schick anziehen und ihrer Tochter auch eine Freude machen, nicht wahr?“ vermutete ich laut in den Hörer und fragte mich, was wohl zwischen Tochter und Mutter vorgefallen sein mochte, dass der Kontakt jahrelang abgerissen war.
    „Ganz genau“, krächzte die Stimme, „aber mein Mann ist früh gestorben und ich habe nie geklebt. Also muss ich mit einer sehr kleinen Rente auskommen. Dabei liebe ich schöne Kleider, auch mit meinen 78 Jahren.“ Frau Wagner klang für einen Moment sehr stolz. Doch schon verfiel sie wieder in den bedrückten Tonfall: „Dabei sehen schöne Kleider gar nicht mehr elegant aus, wenn man einen Rollator vor sich herschiebt so wie ich. Rheuma, wissen sie. Und einmal, wirklich das erste und einzige Mal in meinem langen Leben lasse ich mal etwas mitgehen, da rutscht mir die Beute doch glatt vom Wagen und verrät mich.“ Fast musste ich schmunzeln. Sie fuhr fort: „Dabei hatte ich viel mehr Angst, im Laden in flagranti erwischt zu werden. Sie glauben ja gar nicht, wie erleichtert ich war, als ich mit dem schönen Paillettenpulli unter meinem Regencape unbehelligt den Laden verlassen hatte.“ Hörte ich ein kleines Kichern? Ganz schön viel kriminelle Energie für eine 78-jährige… unter dem Regencape… „Und als ich mich in Sicherheit wähnte“, riss mich Frau Wagner aus meinen Gedanken, „da habe ich das Teil schön zusammengelegt und zu der Bluse in die Tüte umgebettet. Auf eine alte Frau achtet ja niemand besonders.“ – „Und nun?“, fragte ich nach einer Pause, „Haben sie eine Anzeige bekommen?“ Das Krächzen schien sich in ein Summen zu verwandeln: „Nein! Stellen sie sich das bloß vor!“ – „Was? Seit wann bringt ein Geschäft, das den Gewinn, aber auch nur den Gewinn vor Augen hat, plötzlich so viel Herz auf?“ Sie müsse ihre Strafe abarbeiten, und wenn sie ihre Sache gut mache, wolle man tatsächlich noch mal ein Auge zudrücken. Ausnahmsweise. Nun verstand ich gar nichts mehr. „Aber was können sie denn noch arbeiten, als ältere, behinderte Dame? Verkäuferjobs sind bekanntlich anstrengend!“ – „Ganz ruhig, ich will es ja“, beschwichtigte mich die Alte. „Es ist eine Möglichkeit, wieder etwas gut zu machen, außerdem eine Tätigkeit, die ich im Sitzen erledigen kann.“ Nun war ich aber gespannt. „Vielleicht etikettieren?“ – „Nein, nein“, sagte Frau Wagner nur geheimnisvoll, „kommen sie doch in den nächsten Tagen mal vorbei, dann können sie sich davon überzeugen, dass ich nicht ausgebeutet werde. Und wir lernen uns einmal persönlich kennen.“ Sie mache das noch bis Heiligabend. Mehr war aus ihr nicht herauszubekommen. Das war interessant. Und da ich den Stein ins Rollen gebracht hatte, wollte ich nun auch wissen, wie es weiterging. Schon am nächsten Tag machte ich mich wieder auf den Weg zu dem Geschäft.
    Ich schlenderte durch die Abteilung, in der ich einige Tage zuvor die Tüte abgegeben hatte. Schon von weitem begrüßte mich die Verkäuferin. „Sie suchen sicher ihre neue Freundin, was?“ Sie lächelte. „Fahren sie mal hoch in den 1. Stock. Frau Wagner scheint es blendend zu gehen.“ Oben angekommen, hörte ich gleich das Krächzen, das ich vom Telefon kannte. Da saß sie: eine korpulente alte Dame, umringt von Kindern, die ihr gebannt an den Lippen hingen, während sie von Hexen und Zauberern erzählte. Frau Wagner war als Vorleserin angeheuert worden. Das Geschäft hatte eine Kinderecke eingerichtet, in der die Eltern ihre Sprösslinge abliefern konnten, um ungestört Geld auszugeben. Und da arbeitete die alte Frau und junge Diebin nun ihre Schulden ab. Und zwar mit dem größten Vergnügen, wie es schien. Es war faszinierend, ihr zuzuhören. Das Buch benötigte sie gar nicht. Ganz frei schilderte sie spannende Geschichten, ja eigentlich spielte sie die Szenen fast. Zwar saß sie in einem bequemen Sessel, aber ihre Mimik war ungeheuer lebendig. Und wenn die Eltern ihre Kinder wieder abholen wollten, hatten sie die größte Mühe, sie von Frau Wagner und ihren Geschichten loszueisen. Erst in einer Pause gab ich mich zu erkennen. Die Alte strahlte mich an. „Das ist das Beste, was mir passieren konnte“, sagte sie, „ich habe wieder eine Aufgabe! Wenn das Strafe sein soll, dann muss ich wohl noch häufiger etwas mitgehen lassen….“ Ihre Blicke schweiften über einen Kleiderständer. „Nein, im Ernst“, krächzte sie noch stärker, denn sie war inzwischen auch heiser geworden, „das habe ich alles ihnen zu verdanken. Und dafür möchte ich sie zum Kaffee einladen, zu mir nach Hause, einverstanden?“ – „Na klar“, ich schlug spontan ein.
    Wenige Tage später saß ich in der Wohnung der reuigen Diebin auf einem angegrauten Sofa. Ich genoss die selbstgemachte Schwarzwälder Kirschtorte, die Frau Wagner trotz ihres Rheumas köstlich hingezaubert hatte. Nachdem sie mich über mein Leben und meine Familie ausgefragt hatte, erzählte sie, dass sie früher Kindermädchen in vielen reichen Haushalten gewesen sei und daher geübt im Umgang mit Kindern. Mit glühenden Wangen berichtete sie mir lustige und traurige Anekdoten, die sie mit ihren Schützlingen erlebt hatte. Sie konnte wirklich mitreißend erzählen. Nur einmal brach sie mitten in der Schilderung ab, schaute nachdenklich und schwieg eine Weile. Dann wechselte sie das Thema. „Stellen sie sich vor“, berichtete die kleine, runde Frau stolz, „täglich kommen mehr Kinder zu meinen Lesestunden in den Laden. Aber das Beste wissen Sie noch gar nicht: Ich habe wieder einen Job. Eine echte, bezahlte Arbeit!“ Der Geschäftsführer des Bekleidungsgeschäfts sei so begeistert von der betagten Entertainerin – vor allem natürlich dem gestiegenen Umsatz – dass er Frau Wagner einen unbefristeten Vertrag angeboten hätte. Wöchentlich 12 Stunden. Frau Wagner machte sich schon Gedanken, wie sie sich künftig ihre Woche einteilen wollte und was sie sich vom 1. Gehalt gönnen wollte. „Vielleicht einen blauen Glitzerpulli?“ ich zwinkerte ihr zu. Sie lachte und verriet mir, dass sie schon wochenlang vor ihrer „Tat“ mit dem teuren Stück im Schaufenster geliebäugelt hatte.
    Die Stunden bei der alten Dame waren im Nu vergangen und ich wollte endlich gehen, da fiel mein Blick auf eine Schwarz-weiß-Fotografie auf einer Kommode: Ein melancholisch blickendes Mädchen sah mich eindringlich an. „Ist das…“, hob ich an, konnte meine Frage aber nicht beenden. – „Meine Tochter Irene“, krächzte es hinter mir. – „Ah, sie wird sie Heiligabend abholen. Haben sie denn kein neueres Bild von ihr?“ – „Nein“, kam es einsilbig von Frau Wagner. Nach einer Weile hievte sie sich aus ihrem Sessel. „Sie müssen jetzt gehen“, sagte sie bestimmt und verabschiedete mich fast unhöflich.
    Verwirrt verließ ich die kleine Wohnung der seltsamen Alten. Wieso reagierte sie so verschnupft auf meine Frage nach ihrer Tochter? Sie wirkte geradezu abweisend.
    Es waren noch zwei Wochen bis Heiligabend und ich hatte noch viel zu tun mit meinen Weihnachtsvorbereitungen. Einmal kam ich noch in das Einkaufszentrum und beobachtete Frau Wagner unbemerkt an ihrem neuen Arbeitsplatz. Wieder schaffte sie es, die Kinder mit ihren Geschichten zu fesseln. Dann war doch alles noch gut gegangen. Vielleicht sollte man es einfach dabei belassen, dachte ich. Aber dann kam es doch anders.
    Heiligabend machte unsere Familie vor der Bescherung noch einen kleinen Winterspaziergang. Wir schlenderten durch die verschneiten Straßen und bewunderten die herrlichen Weihnachtsdekorationen an den Balkonen und in den Fenstern. Wir kamen auch bei Frau Wagner vorbei, die gar nicht weit von uns entfernt wohnte. Wieso brannte in ihrer Wohnung Licht? Sie sollte doch heute bei ihrer Tochter sein! Ich musste der Sache auf den Grund gehen und klingelte. Schneller, als man es von einer gehbehinderten, molligen Dame erwarten konnte, öffnete Frau Wagner die Tür. Ich sah in ein völlig verweintes Gesicht. Sie musste schon an der Eingangstür gewartet haben. Die gebückte Frau stand vollständig angezogen mit Mantel, Mütze und Handschuhen bekleidet vor mir, neben sich den Rollator und eine Tasche, aus der eine Schleife herauslugte. Jetzt hellte sich ihr Gesicht auf und sie rief: „Irene! Da bist du ja endlich! Ich dachte schon, du hättest mich vergessen!“ Und dabei schlang sie ihre Arme um mich und wollte gar nicht mehr aufhören, mich zu drücken. „Aber Frau Wagner“, sagte ich vorsichtig und versuchte mich aus ihrer Umklammerung zu befreien, ich bin nicht Irene. Ich bin die Frau, die ihre Tüte gefunden hat!“ Frau Wagner trat einen Schritt zurück, sah mich lange an und schüttelte schließlich traurig den Kopf. „Entschuldigung“, brachte sie unter Tränen hervor, „ich habe sie im ersten Moment wirklich für meine Tochter… ich hatte so gehofft…“ Mühsam stützte sie sich auf ihren Rollator. „Sollen wir Irene anrufen?“ schlug ich vor. Wieder schluchzte sie. „Nein, ich habe gar nicht… kann gar nicht…“ stammelte sie, „ach, es hat sowieso keinen Zweck.“ Ich fragte lieber nicht weiter, griff ihre Tasche und lud sie kurzerhand ein, mit uns zu kommen. Ich brachte es einfach nicht übers Herz, sie so verzweifelt allein zurückzulassen. Frau Wagner lehnte anfangs aus Höflichkeit ab, freute sich aber über das Angebot und schlug schließlich ein. Und so feierten wir gemeinsam mit unserer neuen Oma Weihnachten. Kartoffelsalat und Würstchen hatten wir immer reichlich da, und so wurden alle satt. Bei der Bescherung überreichte mir Frau Wagner feierlich ihr Geschenk: die weinrote Seidenbluse. Leider war mir das gute Stück zwei Nummern zu groß. „Sie sind viel schmaler als mein Irenchen“, bemerkte die alte Dame und bot an, sie in den nächsten Tagen enger zu machen.
    Hochzufrieden schmetterten wir Weihnachtslieder. Dann spielte Frau Wagner mit meinen Kindern, die sofort Vertrauen zu der Alten gefasst hatten. Es war spät geworden, und so richtete ich das Gästebett, damit sie nicht mitten in der Nacht nach Hause gehen musste. Bevor sie sich schlafen legte, umarmte mich die Alte nochmal, und diesmal meinte sie auch wirklich mich. „Vielen Dank, ich habe noch nie ein so schönes Weihnachtsfest erlebt.“ Nachdenklich sah ich Frau Wagner nach, als sie die Tür hinter sich schloss. Welches Geheimnis trug die alte Dame nur mit sich herum?
    Als ich sie am nächsten Morgen wecken wollte, lag sie reglos im Bett. Die gutmütige Diebin war tot. Das Herz hatte mitten im Schlaf aufgehört zu schlagen.
    Da ich in ihrer Wohnung keinerlei Hinweise auf Angehörige fand, beschloss ich, mich um ihre Beerdigung zu kümmern. Ich gab Sterbeanzeigen in lokalen und überregionalen Zeitungen auf, in der Hoffnung, dass sich Verwandte, vor allem die ominöse Tochter, melden würden.
    Die Trauerfeier war schon fast vorüber, als doch noch jemand erschien. Eine Frau Ende 50. Ich wusste sofort, dass es Irene war. Der melancholische Blick vom Foto hatte sich im Alter noch verstärkt. Sichtlich bewegt kam sie auf mich zu. „Scholz“, stellte sie sich vor, „Irene Scholz. Ich bin die Tochter.“ Ich nickte. Und übergangslos erzählte sie: „Meine Mutter hat mich zur Adoption freigegeben damals, das habe ich ihr nie verziehen.“ Eine Träne rollte ihr die Wange herunter. „Und nun ist es zu spät.“
    Ich erfuhr, dass Frau Wagner in jungen Jahren ein Verhältnis mit einem Hausherrn gehabt hatte, bei dem sie als Kindermädchen angestellt gewesen war. Und als sie schwanger wurde, hatte der feine Herr sie sofort entlassen. Abtreibungen waren kaum möglich, jedenfalls nicht für mittellose Frauen. Also hatte Frau Wagner das Kind bekommen. Sie wusste aber nicht, wie sich und das Kleine durchbringen sollte. Die Armut, die Schmach, das alles konnte sie nicht länger ertragen und so hatte sie Irene zur Adoption freigegeben. Doch mit dem Alter kam die Reue. „Mama hat alles versucht, um den Kontakt zu mir herzustellen, doch es gelang ihr nie“, berichtete die Frau die, deren Stimme fast auch schon so krächzte wie die ihrer Mutter. Mir fiel auf, wie sehnsuchtsvoll sie „Mama“ sagte. – „Ich hatte meinen Adoptiveltern und den Ämtern gesagt, dass ich keinen Kontakt wünsche und sie meine Daten nicht herausgeben sollen. Aber ich habe sie nie aus den Augen verloren und ihr Leben aus der Distanz verfolgt.“
    Welch‘ tragische Geschichte, dachte ich, offenbar hing Irene aber doch an ihrer leiblichen Mutter. „Wie kam Frau Wagner denn darauf, dass sie sie zu Weihnachten abholen wollten?“, fragte ich Irene. – „Sie hat sich wohl zu sehr in ihre Hoffnung hineingesteigert. So lange meine Stiefeltern noch lebten, wollte ich auf keinen Fall mit ihr sprechen. Schon aus Rücksicht auf diese wirklich netten Leute, die mir ein gutes Leben ermöglicht haben. Aber als auch meine Adoptivmutter vor einigen Wochen gestorben war, habe ich tatsächlich bei Mama angerufen und ihr vage vorgeschlagen, dass wir uns mal verabreden könnten. Sie war unglaublich aufgeregt am Telefon und hat sich hinterher wohl dieses Heiligabendtreffen zusammengereimt.“ Ich nickte, das konnte ich mir gut vorstellen bei dieser fantasievollen Frau. Ich berichtete Irene, wie Frau Wagner in ihren letzten Wochen noch sehr vielen Kindern eine Freude bereitet hatte. Sie schaute traurig. „Immerhin hat sie anderen Kindern Glück gebracht. Aber heute verstehe ich auch besser, warum sie damals so gehandelt hat. Aber es tut verdammt weh.“
    Bevor ich ging, betrachtete ich Irene noch einmal und gab ihr schließlich die weiße Tüte: „Ich hatte gehofft, dass sie zur Beerdigung kommen würden. Dieses Geschenk hat ihre Mutter für sie zu Weihnachten ausgesucht: eine weinrote Bluse.“ Copyright Claudia Falk

  27. Wie die Teigrolle ihren Teigroller kennen lernte

    Es begab sich, dass wieder mehr Lichter aufgestellt wurden, wie auch fast jeden Tag mehr Lametta auf meinem Baum wuchs. Es war Glitzerzeit.
    Viele verschiedene Zutaten kamen in einer gemütlich eingerichteten und hübsch dekorierten Küche zusammen und entwickelten sich mit Hilfe der Geschmacksnerven und flinken Hände der Küchenfee schon bald zu einer attraktiven Backmischung. Es dauerte nicht mehr lange, da war diese zum Teig gereift und wartete, zur Rolle geformt, auf alles, was sie dieser Welt geben würde.
    Da wurde der Teigroller auch schon hereingebracht. Er war so lang und schlank und schön, sie wollte wachsen und ihm entgegenrollen. Als sie einander gewahr wurden, fühlten sich beide so glücklich wie ein Würstchen im Schlafrock oder mehr im Schlafsack – oder fühlte sie sich wohl wie eine Schlummerrolle?
    Schon nach wenigen seiner Berührungen war sie – einfach platt. Sie verging, fühlte sich auseinandergenommen, und es war herrlich wie sie sich in ihre Einzelteile zerlegt wiederfand, zu so hübschen Dingen umgeformt wie Schäfchen, Tannenbäumen und Sternchen. Für eine kleine Weile folgte dann so eine Art Burn Out im positiven Sinne. –
    Der Teigroller verschwand wieder für ein weiteres Jahr in seiner Küchenschublade und erwartete seine nächste Glanzzeit. Von der Teigrolle hingegen war nichts geblieben.
    Aus ihrer einzigen Begegnung hatten die Teigrolle und der Teigroller viele schöne und leckere kleine Kekse gemacht und allen, die Süßigkeiten lieben damit viel Freude geschenkt.

  28. Geheimes Weihnachtsfest

    Die alte Schrift mit ihren Kringeln, Haken und Schleifen dämmerte seit hundert Jahren in einem dicken Buch inmitten der staubigen Regale der Hochschulbibliothek. Nur hin und wieder eilte eine scheue Bücherlaus über ihre Körperteile, doch war sie meist so schnell wieder entfleucht, dass der Schrift nur ein Kitzeln an ihren Gelenken blieb und die Gewissheit, dass ganz in ihrer Nähe ein paar Fünkchen Leben herrschten und hausten. Manchmal rief sie der Laus hinterher oder versuchte sie mit einem Raschel-Laut zurück zu locken, doch die Bücherlaus drehte lediglich den Kopf nach hinten, schlug die Augen arrogant auf und zu, machte sich mit einem Tssss, tssss aus dem Staub und hinterließ eine Spur von Melancholie auf der alten Schrift.
    An einem gewöhnlichen Tag im Winter zog sich jedoch das Arbeitspensum der Studenten in die Länge. Dieses feine Brummen und die Vibrationen, die die Schritte der Menschen und das Rücken der Stühle im Lesesaal verursachten, nahmen kein Ende. Die alte Schrift spitzte die Buchstabenohren. Ihr Herzschlag erhöhte sich spürbar.
    Plötzlich wurde es taghell über dem alten Alphabet. Ein Augenpaar starrte die Buchstaben an und fuhr ihre verschlungenen Linien ab. Dann griffen zwei Finger nach der Seite und rissen sie vorsichtig aus dem Schriftenbuch. Das alte, verträumte Alphabet schrie, doch der Mensch hörte es nicht. Es half nichts, schnell hieß es Abschied zu nehmen von all den Brüdern und Schwestern Schriften, den Alphabeten der Mikmak-, der Tinne- und der Tschiroki-Indianer und besonders von der mexikanischen Zeichenschrift, mit der das verzweifelte Mormonen-Alphabet eng befreundet war. Wie es ihre Bilder verehrte; besonders der Hund, der Falke und die Eule hatten es ihm angetan. Und wie es jetzt schrie! Selbst die anderen Schriften fielen ins Wimmern und Jammern ein, es war ein Wehklagen und Heulen im ganzen Buch, selbst die Buchstaben der Nachbarbücher rieben sich die Tränen aus den Augen.
    Da flatterte diese mormonische Schriftenseite in der Hand des jungen Mannes durch den Lesesaal, und die Buchstaben hielten den Atem an. Er strebte mit dem Blatt einer Nische zu, zog einen Klebestreifen hervor und wickelte die Seite um ein sehr kleines Päckchen. Autsch, der Klebestreifen piekte und das H und das Y wurden leicht gequetscht. Ganz oben auf dem Päckchen prangte der Buchstabe für das G, das gefiel dem Studenten wohl am besten.

    Eine Frau und der Mann breiteten in der dämmrigen Bibliothek auf einem Tisch ein rotes Tuch aus und zündeten darauf Kerzen an. Dann legten sie feierlich ein buntes Päckchen nach dem anderen auf den Tisch, während die Kerzenflammen flackerten. Die beiden setzten sich auf zwei Stühle, Hand in Hand, ganz still betrachteten sie den Berg von bunten Packerln, den sie selbst vorhin noch aufgebaut hatten. „Sollen wir ein Lied singen?“ fragte das Mädchen. „Ich weiß nicht. Wie wäre es mit…“ – sie dachten eine Weile nach. Dann sangen sie ganz leise die alten Lieder „Ach bittrer Winter“, „Nun singet und seid froh“, „O selige Nacht“ und „Es kommt ein Schiff geladen“, mit geschlossenen Augen. Dem Jungen enthuschte eine Träne, so dass auch die alte Schrift einen lautlosen Schluchzer tat. Plötzlich klingelte ein Glöckchen von irgendwoher. Noch einige Male klingelte es so geheimnisvoll. Die beiden hielten sich fest und zögerten offenbar die Bescherung hinaus. Doch als ihr Liedervorrat aufgebraucht war, erhoben sie sich feierlich von den Stühlen, er zeigte ihr ein Päckchen mit den Worten „Für dich! Weil du es dir schon lange gewünscht hast.“ Und sie freute sich über ein Kunstwerk auf Leinwand, einen violetten Baum voller Zöpfe, Fahnen, Gesichter und Segelboote. Dann umarmten sie sich vergnügt, küssten sich und der Junge streichelte das lange braune Haar seiner Freundin bis sie seufzte und ihm auf die Finger klopfte.
    Sie beschenkte ihn mit einem Buch voller wild gekurvter Striche und namentlich benannter Punkte, meist in Grün und Beige gehalten. „Ohhh, wie schön! Danke! Welch ein Glück!“, freute er sich. Dann lagen sie sich wieder in den Armen und das Mädel streichelte die wuscheligen Haare des Freundes, bis er ihre Hand nahm und sie an seine Hose legte, so dass sie ihm wieder kichernd auf die Finger klopfte. Zwischendurch tranken sie Weißwein aus stilvollen Plastikbechern.
    Am Ende blieb nur noch das kleine Päckchen mit dem sonderbaren Geschenkpapier übrig. Die junge Frau zögerte und der junge Mann zögerte ebenfalls, als ob er sich nicht sicher sei. Dabei saßen oder lagen sie schon halb auf dem Tisch, die Kerzen waren mittlerweile ausgepustet, und während er ihr das Päckchen schüchtern entgegen hielt zog er sie weiter an sich. Vorsichtig öffnete sie die Verpackung und gleich darauf die Schachtel, wobei sie das Packpapier nach kurzer Betrachtung über die Tischkante fallen ließ. Der gelbliche Schaumstoff wurde beiseite gelegt und hervor kam ein weißgoldener Ring mit einem hellblauen Stein. Das Mädchen jubelte, stammelte ihm flüsternd ihre Liebe und drückte sich an ihn. In innigen Küssen und Liebkosungen fielen ihre Kleidungsstücke Stück für Stück nach unten. Bald lagen die beiden auf dem Boden, ringelten und rangelten, kicherten, flüsterten, summten und keuchten. Müde blieben sie auf einer mitgebrachten Decke neben der verknickten Buchseite mit der rundlichen alten Schrift liegen, deckten sich mit dem Tischtuch zu und schnarchten und schnauften, drehten sich und rollten sich ein wie Schnecken, die sich ins Häuschen zurückziehen.
    Als zum Morgengrauen wieder Leben in die beiden zurückkehrte, wurden alle Papierreste unter ihren zahllosen Küssen in eine alte Plastiktüte geschoben, auch die arme alte Schrift. Plötzlich wurde den Buchstaben wieder angst und bange. Aua, der Druck war schmerzhaft, das Papier mürbe, die Pigmente gerieten durcheinander und manche Buchstaben lösten sich unter der Reibung auf.
    Die beiden öffneten die große Saaltüre und verschlossen sie wieder bevor sie unauffällig den grauen Gang entlang schlenderten. Bis zum Haupteingang war es nicht mehr weit. Doch der Schlüssel passte nicht, das Mädchen hatte einen falschen in der Hand. Ihre wunderbare Weihnachtsfeier beendeten die beiden kurzerhand in der hinteren Garderobe. Die Tüte landete dabei im Papierkorb.
    Im Papierkorb, der am folgenden Vormittag von der Putzfrau geleert wurde. Weil sich die ältere und leicht gebückt gehende Frau über die Plastiktüte wunderte und irgendwelche Kleidungsstücke darin vermutete, kramte sie sich durch deren Inhalt, fand die ramponierte Buchseite und fingerte sie etwas enttäuscht mit ihren putzmittelbenetzten Händen heraus. Währenddessen fuhren die beiden Liebenden in verschiedenen Zügen zum Weihnachtsfest ihrer Familien. Die verrissene Seite der rundlichen alten Schrift fuhr hingegen auf dem Beifahrersitz des klapprigen Dacia der Reinigungsfrau zu ihr nach Hause und diente ihr abends als Lesezeichen in ihrem Weihnachtsbuch aus Kindertagen. An Heilig Abend las sie sich selber aus dem Weihnachtsbuch vor, wobei das abgehalfterte Blatt, verwundert über die Buchstaben des Weihnachtsbuches, von Seite zu Seite wanderte. Doch auch die Weihnachtsbuch-Buchstaben staunten nicht schlecht über die geheimnisvollen Kringel der alten Schrift.

    1. Liebe Birgit,
      vielen Dank für dieses wirklich außerordentliche Weihnachtsfest, das du beschreibst. Das erwartet man nicht unbedingt von einer Weihnachtsgeschichte, doch genau das macht sie aus!
      Schöne Schreibgrüße
      Andreas

  29. Bahnhofmission
    16.12.2016(c)Obermaier Brigitte

    Mit einem Pappkarton in der einen Hand und seiner Tochter in der anderen betraten Elmar und Ella, nach langen Irrfahrten durch das unbekannte Land, eine Bahnhofmission in einer kleinen Stadt.
    Sie wurden herzlichst aufgenommen und bekamen einen schönen Fensterplatz. Ella hielt eine kleine Puppe ‚Evelin‘ liebevoll ???? in ihrem Arm, die sie fest an ihr Herz drückte. Ihre ärmliche und doch wärmende Kleidung bestand aus mehreren Lagen Kleidung und einem abgetragenen Anorak darüber, den einst ihrem Bruder gehörte.
    Ihr Bruder musste auf der Flucht von ihrem Heimatland das Leben lassen. Papa war sehr traurig, denn seine Frau, Ella’s Mutter, hatten sie beim Aufsprung an einen Zug verloren. Er rief noch laut wir treffen uns am nächsten Bahnhof in der nächsten Stadt. Nur welchen Bahnhof wusste niemand.
    Der Zug fuhr und fuhr eine Haltestelle nach anderen flog vorbei. Als der Zug endlich hielt waren sie in einem fremden Land. Keiner sprach ihre Sprache und so fragte Elmar sich auf englisch durch, denn das hatte er in der Schule, in dem frei-zu-wählenden Fach, gelernt.
    Die Bahnhofmission war warm und sie aßen beide stillschweigend die gespendete Kartoffelsuppe. Ein paar kleingeschnittene Würstchen schwammen darin. Papa bekam Tränen in den Augen, denn an Fleisch konnte er sich kaum noch erinnern. Die Kartoffeln schmeckten nach Kartoffeln, denn ihre karge Mahlzeiten bestanden das letzte Jahr aus Mehl mit Mehlklumpen.
    Ella war zufriede und müde, streckte sich auf der Bank aus und schlief rasch ein. Elmar’s Gedanken hasteten hin und her. Er machte sich Sorgen um seine Frau.
    Elvira stand wie versteinert am heimatlichen, herunter gekommenen Bahnhof. Die Türen vom Zug ließen sich nicht mehr öffnen. Als Elvira die Schlusslichter nicht mehr sah, wachte sie aus ihren starren Zustand auf und fing zu schreien an.
    Keiner kümmerte sich um sie, jeder war mit sich selbst beschäftigt und höchstens ein bedauernder Gesichtsausdruck streifte ihr Gemüt.
    Nach einer Stunde stand sie immer noch auf dem selben Fleck. Das Gras sprießte aus allen Ritzen. Kleine Spinnen und Ameisen wechselten den steinernen Bahnsteig. Elvira hatte kein Auge für die Natur.
    Ein junger Knabe, in abgewetzter kurzer Hose und zerrissenem T-Shirt, fast im gleichen Alter wie ihr verstorbener Sohn, legte seine kleine Hand in ihre Hand. Automatisch umfasste sie ganz zärtlich seine kalte Hand. Sie wärmte ihm seine Hand und es kroch eine heiße Welle in ihr hoch. Es berührte ihr Herz und sie kniete sich nieder. „Wer bist?“
    „Ich bin Anton.“
    „Wo kommst du her? Was machst du da?“
    „Ich will zu meiner Tante Eva-Maria.“
    Anton nannte eine ihr fremde Stadt und so standen sie und warteten. Warteten auf den nächsten Zug. Keiner wusste wann einer kommt, woher, warum oder wohin dieser fährt.
    Der Hunger meldete sich. Sie suchten nach was essbaren und gingen durch die zerbombten Straßen. Eine ältere Frau sah sie vorbeigehen und rief Ihnen leise zu. Mühselig machte Elvira die Frau hinter dem Geröll und einem Mauerdurchbruch aus. Sie blickte sich um und schnell verschwanden sie in der Dunkelheit. Sie folgten der Frau in die Tiefe.
    Viele Menschen waren in dem zerbombten Keller. Kahle Mauern konnte man in dem diffusen Kerzenlicht erkennen. Man unterhielt sich in Flüsterton. Die alte Frau lächelte freundlich und sagte ganz selbstverständlich: „Das ist Elvira und Anton, sie bleiben diese Nacht bei uns.“ Das gemeinsame karge Abendessen wurde christlich geteilt. Keine Sekunde lies Anton Elvira aus dem Auge. Das wichtigste Thema war: Wann kommt der nächste Zug der sie in die Freiheit brachte, vor allem für Elvira zu ihrem Mann und ihrer Tochter.
    Langsam verstrich die Zeit. Warten, warten und noch mal warten. Am nächsten Morgen sprach Julius, der gerade vom Erkundungsgang zurück kam: „Heute kommt ein Zug, nur wo er hingeht weiß ich nicht.“
    Elvira bedankte sich für die karge Gastfreundschaft und wollte schon losgehen, als Anton ihre Hand nahm, bitterlich weinte und schluchzend sagte: „Nimm mich mit.“
    Elvira nahm ihn bei der Hand und gemeinsam gingen sie zum Bahnhof. Wieder war warten angesagt, warten, warten. Auf ein mal hörten sie ein heulen, ein schnaufen , eine Sirene und ein Zug hielt nur ganz kurz am Bahnhof, so wie beim letzten Mal. Schnell sprangen beide auf und ließen sich in die Ferne mitnehmen.
    Es erging Ihnen wie ihrem Mann, der Zug fuhr und fuhr, ließ eine Haltestelle nach der anderen links liegen und fuhr ohne Unterbrechung weiter. Der klapprige Zug hatte schon bessere Tage gesehen. Die Fenster waren mehr blind als sauber. Zum Glück hatte sie eine Bank für sich alleine. Die Flüchtlinge und Vertriebenen hatten jeden qcm in Anspruch genommen. Die Privatsphäre konnte nicht respektiert werden. Jeder war froh, dem Kriegsgebiet entronnen zu sein.
    Elviras Herz pochte immer lauter. Ihr Mann hatte gesagt in der nächsten Stadt werden beide auf sie warten. Aber eine Stadt nach der anderen verschwand hinter dem lang gezogenen Zug.
    Bald ist Heiligabend, sagt ein Jugendlicher zum Anton. Anton hatte keine Wünsche, er wollte nur seine Tante sehen. Aber die Stadt mit dem unbekannten Namen tauchte nicht auf den Haltestellen auf.
    Die ganze Nacht und den folgenden Tag fuhr der Zug ohne zu bremsen, als müsse auch er flüchten. Den meisten war es egal, Hauptsache weg aus dem Kriegsgebiet.
    Am nächsten Morgen wachte Elmar in der nahegelegenen Not-Unterkunft auf. Sie bekamen ein leckeres Frühstück und mussten sich danach registrieren lassen. Es war schnell gemacht und sie gingen zum Bahnhof zurück. Heute ist kein Zug gemeldet, aber morgen soll einer kommen. So gegen Abend.
    Trotzdem harrten die beiden, Elmar und Ella aus. Es könnte ja sein oder doch nicht?
    Abends gingen sie wieder in die Notunterkunft, denn höchstens drei Tage darf man diese nutzen.
    Man hörte ein wispern und ein raunen, als wenn überall Engelein am Werke sind. Es wurde ein riesiger Tannenbaum in der Aula aufgestellt und mit bunten Kerzen geschmückt.
    Erstaunt stand Ella vor diesem Prachtexemplar. „Wenn das Mama sehen könnte.“ Flüsterte sie ehrerbietig und konnte sich kaum satt sehen.
    Zu Mittag, am ersten Weihnachtsfeiertag waren alle zu einem Weihnachtsessen eingeladen, da wollten Elmar und Ella dabei sein.

    Heute ist Heilig Abend sagte Elvira zum Anton. Sie erzählte ihm die Weihnachtsgeschichte und den Brauchtum. Er registrierte alles und sagte zum Abschluss: „ich will nur meine Tante sehen oder bei dir bleiben!“
    Elvira war betäubt von dem Kummer um ihren Sohn. Ihre Gedanken kreisten um das Geschehen, um ihren Mann und ihre Tochter. Der einzige Trost, der sie ablenkte, war Anton und sie kümmerte sich rührend um ihn.
    Der Zug fuhr durch andere Landschaften. Wälder folgten Feldern und kleine Teiche dazwischen. Anton sah gespannt aus dem Fenster und jubelte einer Kuh zu.
    „Schau mal Elvira, da ist eine Kuh mit braunen Flecken. Unsere Kühe waren schwarz. Schau mal der Fluss ist ganz breit.“
    „Das müsste die Donau sein.“
    „Schau mal Elvira da schwimmen Enten und da am Rande ist ein Schwan, wann sind wir da?“
    Anton plauderte vor sich hin und Elvira hing ihren Gedanken nach.
    Der Zug ließ eine grollenden Pfeifton los und Anton blickte zum Fenster hinaus. Eine Stadt war zu sehen und der Zug fuhr langsamer. Die Häuser hatten rote Ziegeldächer und sie hatten alle einen Gartenzaun. Auf riesigen Strommasten wurde der Strom durch die Landschaft getragen und die Straßen waren geteert. Man sah die Menschen in der Öffentlichkeit ohne Vorsicht durch die Straßen und auf Gehwegen laufen.
    „Schau die Frau fährt so einen komischen Kasten. Ob da Bier drin ist. Ich habe Durst. Sind wir da?“ „Ich weiß es nicht, das war ein Kinderwagen für Babys, lassen wir uns überraschen.“
    Elmar und Ella standen am Bahnsteig. Sie haben gehört es müsste ein Zug kommen, nur genaueres konnte man nicht erfahren. Es hieß nur, am späten Nachmittag.
    „Ob Mama darinnen ist?“
    „Das wollen wir hoffen.“
    Tatsächlich hörten sie einen Zug pfeifen und schon bog er zum Bahnsteig ein. Elmar und Ella standen. Ganz vorne, damit sie jeden anschauen konnten, nach einer gewissen Zeit sagte Elmar. „Sie ist nicht drin gewesen.“
    „Aber sieh doch, ganz weit dort hinten ist noch jemand.“
    „Ja schon. Aber das ist eine Frau mit einem Kind. Also nicht Elvira. Komm wir gehen zur Bahnhofsmission und hinterlassen eine Nachricht, falls Mama irgendwann auftaucht. Heute Abend gibt es eine Weihnachtsfeier.
    Ella stimmte ihm zu, nahm seine Hand und beide gingen gedrückt zurück. „Papa können wir zuerst in die Betten-Burg meine Puppe holen.

    Elvira ist mit Anton aus dem letzten Waggon ausgestiegen. Schwer war ihr Schritt, denn die Hoffnung war gesunken, als der Bahnsteig sich geleert hatte. Sie folgten dem Wegweiser zur Bahnhofmission und baten um Aufnahme und um ein Quartier.
    Sie trugen sich in das Anwesenheits-Buch ein und bekamen als erstes eine Kartoffelsuppe mit Wiener. Dankbar nahmen sie das warme Essen an.
    Frau Hildegard las den Namen, den Elvira eingetragen hatte und stellte fest, dass gestern ein Herr und ein Kind den gleichen Namen hatten. Von einem Sohn war nicht die Rede. Ich werde die vier zusammen bringen. Hildegard richtete festlich einen Tisch im kleinen Nebenraum her. Ein grüner Tannenzweig auf einer roten Seviette mit einer kleinen Kerze schmückten den alten wackeligen Tisch. Sie bat Elvira und Anton dort Platz zu nehmen. Da seien Sie ungestört, meinte sie noch.
    Heilig Abend: Weihnachtliche Musik kam aus einem Lautsprecher. Der Saal war voller Menschen die Zuflucht und Wärme suchten. Hildegard erzählte eine kleine Weihnachtsgeschichte. Da ging die Türe auf und ein Engel betrat den Raum. Das liebliche Gesicht war von blonden Haaren umrahmt. Die Flügel waren aus Gold und der Engel hatte ein Körbchen in der Hand. Jeder anwesende bekam ein kleines Schokoladen-Kringel und ein selbstgebastelten Papier-Engelein.
    Der Engel wünschte allen ein gesegnetes Weihnachtsfest und „ich habe eine ganz persönliche Überraschung für die Anwesenden.“
    „Ich bitte Elmar mit seiner Tochter Ella zu mir zu kommen. Ihr sollt wieder eine ganze Familie werden, das ist mein Herzenswunsch für Euch. Geht mal durch diese Türe ????, denn dort wartet Euer Weihnachtsgeschenk auf Euch.“
    Ella schaute zuerst Papa, dann den Engel an. „Ich will kein Weihnachtsgeschenk, ich will meine Mama wieder haben.“ Tränen rannen ihr vom Gesicht und Papa nahm sie zärtlich auf den Arm. Er beruhigte sie und flüsterte ihr ganz leise ins Ohr. „Der Engel hat mir versprochen, dass er deine Mama bestimmt finden wird.“
    Der Engel streichelte Ella und flüsterte leise: „Geht nur hinein.“

    Gedanken-Spuren
    Es sprach die Zauberblume danach.
    Es kommt immer was Gutes nach
    Malerei: 201610230-24-Bahnhofmission

    1. Liebe Zauberblume,
      deine Geschichte steht für mich in der Tradition der biblischen Weihnachtsgeschichte. Schön finde ich, dass du aktuelle Themen wie Flucht, Einsamkeit und Zugehörigkeit auf gelungene Weise aufgreifst.
      Vielen Dank!
      Andreas

  30. Eberhards Geschenk oder Bericht nach Heiligabend

    Wir standen im Schnee, verehrte Zuhörer. Es regnete und langsam wurde Matsch daraus. Meine Beine waren nass und es fühlte sich an, als krieche Wasser in mich hinein. Würde ich aufquellen? Beinahe schlimmer als der Regen war die Kälte. Wie das die Menschen aushielten, tagein, tagaus durch die Kälte zu stampfen, hinein und Kleider aus, heraus und Kleider an?
    Vier von uns standen vor dem Haus und warteten. Oder fünf, um genau zu sein, wobei der fünfte nicht mehr beieinander war und kaum mehr zählte. Ich kannte ihn nicht gut, auch den anderen war er unbekannt. »Er hat im Keller gewohnt«, flüsterte man mir zu.
    Seit dem Abend warteten wir, und wussten nicht worauf.
    Das war noch schlimmer als die Kälte.
    Natürlich kannten wir die Gerüchte. Durch die kleine, abschüssige Gasse kamen nicht viele.
    Gegenüber sah ein alter Mann aus dem Fenster. Eine ganze Weile lang betrachtete er uns mit seinen grauen Augen hinter der Scheibe. Dann schob er den Vorhang zurecht und löschte das Licht. Die Straßenlaterne leuchtete weiter. Wohin sie schien, sah der Regen wie ein feines Spitzendeckchen aus, das sich über das Pflaster legte.
    Ein großer Wagen fuhr fast bis zu uns, doch dann rollte er rückwärts wieder hinab und wendete. Sehr still war es jetzt im weichen, nassen Schnee. Wir warteten. Das war nicht schlimm. Nur die Ungewissheit und die Kälte.
    Als es beinahe schon zu dämmern schien, bog ein zweiter großer Wagen um die Ecke und blieb stehen. Ein Mann mit breiten Händen, Jeans und Winterjacke stieg aus, ließ den Motor laufen und musterte uns einen nach dem anderen. Er rief: »Komm, hier ist was«, und ein zweiter, etwas kleinerer Mann stieg aus, der uns ebenfalls musterte: »Das Bett, meinst du?«
    Sie luden es auf, zuerst das Kopfteil mit der Kranz-Schnitzerei, dann das Fußteil und die Seitenteile. Den eisernen Rost mit den Sprungfedern untersuchten sie noch genauer.
    »Lohnt sich das? Für zwanzig Euro bekommst du einen neuen Lattenrost.«
    »Ja, aber was für einen. So was wird ja nicht mehr hergestellt. Glaub mir, das verkauft sich.«
    Nun luden sie auch das letzte Teil ein. »Adieu«, gaben wir ihm mit auf den Weg, »und viel Glück!«
    »Wenigstens ist er dem Möbelbeißer entkommen!«, sagte die Stehlampe.
    »Deine Schauergeschichten!«, erwiderte der Stuhl.
    Die Stehlampe hatte nicht weit vom Fester gestanden, sie hatte auf die Gasse sehen können und vieles erzählt. Doch nicht alle glaubten ihr.
    »Der war noch größer als der Laster eben, gelb und riesig, die Männer warfen die Garderobe hinein, die unten an der Treppe gestanden hatte. Die Eisenzähne des Monsters zermalmten sie!«
    »Was du nicht sagst«, sagte der Stuhl, der mit seiner gepolsterten Sitzfläche auch etwas von seiner Autorität verloren hatte. Er war gehässig geworden. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob er der Stehlampe mit Überzeugung widersprach, oder um sie zu ärgern.

    Noch immer war es dunkel. Die Tür des Nachbarhauses öffnete sich und zwei Kinder traten heraus, die uns sofort entdeckten.
    »Mama, da steht eine Lampe und ein Stuhl, und so ein kleines Schränkchen!«
    Wir spitzten die Ohren.
    »Unser Nachbar hat Sperrmüll rausgestellt.«
    »Und was passiert damit?«
    »Wird abgeholt und kommt auf die Mülldeponie.«
    »Das ist doch noch gut. Können wir das Schränkchen haben?«
    »Ein Nachttisch ist das. Nein. So etwas brauchen wir nicht.«
    »Schade, dann wird es kaputtgemacht.«
    »So, Anton, Fridolin, jetzt geht es zur Schule, habt ihr euer Frühstück dabei?«
    »Ja, Mama, tschüss.«
    Die Stehlampe schwankte im Wind, der mit der Morgendämmerung durch die ansteigende Gasse kam. Sie hatte wohl recht, dachte ich mir, und für eine Weile waren alle still. Darum konnten wir sie schon hören, bevor sie um die Ecke bogen. Eine Frau und ein Mann, die sich nicht ausreden ließen.
    »Wenn sie doch nicht wollen. Ulrich hat gesagt, dass er …«
    »Was soll denn das heißen? Lauf mal schneller. Zum Handy-Aufladen kommt er immer vorbei und …«
    »Zwingen kann man sie nicht mehr, oder meinst du …«
    »Wir haben es immer so gemacht, die Kinder … wir werden zu spät kommen, wenn du dich nicht ein bisschen beeilst.«
    »Kinder sind es eben nicht mehr, Claudia …«
    »Meine Mutter wird so enttäuscht … guck mal da!«
    Die Frau war abrupt stehen geblieben und deutete auf die Stehlampe.
    »Ja?«
    »So eine habe ich bei Antiquitäten-Gockel gesehen, in der Walterstraße.«
    »Eben hast du noch gesagt, dass wir zu spät kommen.«
    »Die nehmen wir mit.«
    »Wie bitte?«
    »Das ist noch der alte Schirm.«
    »Woher willst du das denn wissen?«
    »Wenn du dich nur ein bisschen interessieren würdest, wüsstest du es auch.«

    Sie nahm die Stehlampe beim Hals und ging los. Wir waren so überrascht, dass wir uns nicht mehr von ihr verabschiedeten. Nach wenigen Metern blieb der eiserne Standfuß an den Pflastersteinen hängen.
    »Komm, hilf mir gefälligst, Manfred.«
    »Weißt du, wie weit es noch ist bis zum Auto?«
    »Ja, weiß ich, schließlich musstest du es ja gleich auf den nächstbesten Parkplatz stellten. Hier unten am Fuß musst du anpacken.«
    Der Mann seufzte und zusammen trugen sie die Stehlampe fort. Wir hörten das Wortgefecht leiser werden, und wie der Eindruck des lärmenden Paares verflog, freuten wir uns für unsere alte Kameradin. Sie hatte so viel gesehen und wusste so viel wie niemand sonst von uns. Immer wieder hatte sie Geschichten erzählt vom Leben der Menschen in unserem Haus und von den Geschehnissen auf der Gasse. Eberhard Schnitter, gestand sie uns halb stolz und halb verschämt, hatte sie als kleiner Junge einmal angepinkelt, wie es die Hunde bei Laternen tun. Dafür war er für eine Stunde in den kalten Verschlag gesperrt worden, in dem die Putzsachen aufbewahrt wurden. »Die gute Stehlampe!«, hatte der Vater geschimpft und sie eigenhändig abgewischt. Jetzt würde der guten Stehlampe noch eine lange Zukunft bevorstehen: als Antiquität! Der Schirm, darauf hatte sie uns nicht selten hingewiesen, war tatsächlich original.

    Bevor wir im hellen Tageslicht mit eigenen Augen den schrecklichen Möbelbeißer zu Gesicht bekamen, öffnete sich die Tür des Nachbarhauses ein zweites Mal und ein kleines Mädchen kam heraus. Mit gefütterten Gummistiefel vollführte es einen Hopser, so dass der Schneematsch bis zu uns herüber spritzte.
    »Pass auf, dass du nicht ausrutschst«, rief ihr Vater aus dem Inneren des Hauses. Dann trat auch er auf die abschüssige Gasse. Mit einer Tasche um die Schulter, in den Händen einen kleinen bunten Rucksack und eine Plastiktüte: So steckte er seinen zweiten Arm umständlich in den Mantel.
    »Loslos! Sonst kommen wir noch zu spät zum Kindergarten.«
    »Du hast warme Hände«, sagte das Mädchen.
    »Die hättest du auch, wenn du dir Handschuhe anziehen würdest.«
    »Was ist das denn?«
    »In dem Haus wohnt keiner mehr. Die Möbel werden nicht mehr gebraucht. Die werden heute abgeholt.«
    Das Mädchen setzte sich vor mir in die Hocke und sah mich mit hellgrünen Augen. Dann streckte es nachdenklich seine Hand aus, strich mir über die Platte und öffnete die Tür, deren Scharniere, ich muss es zugeben, schon etwas angerostet waren.
    »Ein Puppenschrank!«
    »Das ist ein altes Nachttischchen.«
    »Was macht man damit?«
    »Man kann eine Lampe darauf stellen, Bücher darauf legen.«
    »Und sonst?«
    »Meine Oma tat immer ihre Tabletten hinein.«
    »Deine Oma?«
    »Ja. Die kennst du nicht mehr.«
    »Aber meine Oma, die kenne ich. Hat die auch ein Nachtischen?«
    »Ich glaube schon. Du musst ins Schlafzimmer gucken, wenn wir an Weihnachten zu ihr fahren.«
    12»Wann ist Weihnachten?«
    »Nächste Woche.«
    »Ich muss doch noch den Brief ans Christkind schreiben.«
    Sie sprachen weiter, während sie sich langsam in Bewegung setzten.

    Dann kam er. Wir drei, die übrig geblieben waren, wussten sofort, dass er es war. Wir hörten, wie er dröhnte. Der Stuhl begann zu wimmern. Seit die Stehlampe fort war, hatte er kein Wort mehr gesagt. Das Regal lehnte matt an der Wand. Es bestand bloß noch aus einzelnen Brettern und war viel zu schwach, um sich zu ängstigen. Meine nassen Beine fühlten sich an, als gehörten sie nicht mehr zu mir. Das Furnier löste sich und die zwei Filzgleiter, die mir geblieben waren, hatten sich beinahe aus ihren rostigen Fassungen gelöst.
    Das Ungetüm bog um die Ecke, grellorange. Gemächlich kroch es die Gasse hoch. Rechts und links vorm Schlund des Monsters standen zwei in Orange gekleidete Männer wie Wächter am Höllentor. Einer sprang von seiner Plattform und blickte die Seitengasse hinunter, dann gab er dem Hinterteil des Möbelbeißers Zeichen. Der blieb stehen. Eine Klappe amHinterteil öffnete sich und ein weiterer Mann sprang heraus, mit dünnerer Jacke, aber ebenfalls orange. Die beiden berieten sich, während der Beißer dröhnte. Würden wir dem Schlund vielleicht doch noch entkommen? Der Stuhl unterbrach für einige Sekunden sein Wimmern. Dann stieg der Mann erneut ins Monster. Es bewegte sich weiter auf uns zu.
    In meiner Todesangst übersah ich den alten Mann, der von gegenüber kam. Unvermittelt wurde ich hochgehoben. Ich erschrak fürchterlich – einer der beiden Orange-Männer war nur noch wenige Schritte von uns entfernt – und erst als das Hoftor sich hinter mir schloss, begriff ich, was geschehen war. Ich war gerettet! Zugleich hörte ich, wie die Bretter des Regals auf dem Eisen des Möbelbeißers aufschlugen und bei jedem seiner grausamen Bisse quietschten, als schrien sie ein
    letztes Mal um Hilfe. Ich verlor die Besinnung.

    Als ich wieder erwachte, verehrte Mitbewohner, fand ich mich in ungewöhnlicher Lage, mitten auf einem großen, löchrigen Tisch, in einem staubigen Raum mit Spinnweben an den Decken. Die Lampen, die ihn erleuchten, waren vergittert. Durch die kleinen Fenster fiel nur wenig Licht, wenngleich es noch Tag war. Ich stand auf meiner Platte, die Beine nach oben gestreckt, und vor mir der alte Mann, der uns durchs Fenster beobachtete hatte, in einer blauen dünnen Jacke. Er strich über das lose Furnier und sagte: »Da habe ich mir also Arbeit geholt. Mal sehen, was ich noch kann.«
    Die folgenden Operationen waren nicht angenehm, doch in ihrem Ergebnis erfreulich. Mit einer Art Föhn erhitzte der Mann meine Beine, löste das Furnier vollständig ab und behandelte das schadhafte Holz mit einer Paste. Ich beobachtete, wie er im hinteren Teil des Raums eine Reihe von Furnieren durchging. Zwei davon brachte er zu mir und verglich sie sorgfältig mit der Platte und der abgelösten »Beinhaut«, wie ich sagen möchte. Schließlich hatte er sich entschieden und
    schnitt Stücke aus dem Furnierblatt heraus. Dann und wann unterbrach der alte Mann seine Arbeit,
    um den kleinen Ofen zu befeuern, der den Raum leidlich warm hielt. Er steckte Reste hinein, die sich offenbar nicht mehr verwerten ließen, unter anderen – mir tat es leid, das zu sehen – die Furnierschnipsel meiner Beine.
    Er hatte die Gewohnheit, leise vor sich hin zu sprechen, während er Schraubzwingen anlegte oder die Scharniere entfernte, die meine Tür hielt. Meine alte Tür, muss ich sagen, denn was er mit diesem Teil von mir anstellte, sollte sich als die größte Überraschung erweisen. Ihr seht es ja, liebe Zuhörer, doch ich hatte noch keine Ahnung.
    »Wenn ich ihn stehen gelassen hätte,« sagte der Alte, »könnte ich jetzt gemütlich im Wohnzimmer sitzen und das Fotoalbum durchblättern, oder die Postkarten betrachten, die Greta mir
    geschickt hat übers Jahr.«
    »Der alte Schreinermeister Hauser«, wiederholte er, »Er kann es nicht lassen mit seinen achtzig Jahren.« Dann wieder stellte er das Radio an, einen grauen Kasten mit Henkel, und
    wir hörten Weihnachtslieder.
    Und nach drei Tagen war ich beinahe fertig. Alle Schäden waren ausgebessert. Auf meine Platte hatte er vier unterschiedlich große flache Holzscheiben geleimt, die er zuvor schwarz angemalt hatte. Unterhalb der Platte hatte er vier Porzellanknöpfe angeschraubt. Den Bohrungen dazu setzte ich kaum Widerstand entgegen. Schließlich musste ich dem alten Schreiner dankbar sein. Der Firnis glänzte und meine Beine waren wie neu. Bequem stand ich auf vier ungetragenen Filzgleitern. Bloß die Tür fehlte.
    Einen Tag lang wartete ich in der dämmrigen Werkstatt. Dann kam Herr Hauser wieder herein, mit einem flachen Paket unter dem Arm. Er heizte den Ofen ein und legte es vorsichtig auf die »Hobelbank«, wie er den mächtigen Tisch nannte. Als er es auspackte, lag darin eine Glasscheibe, wie man sie von Vitrinen kennt. Aus dem Wandregal griff er Leisten, um sie einzufassen, und befestigte Scharniere, die mir zunächst seltsam vorkamen. Als er sie anschraubte, begriff ich: Die Tür sollte sich nach unten klappen lassen. Abends war er fertig. Im Radio lief »Stille Nacht«. Der Meister murmelte: »Als Weihnachtsgeschenk kommst du wohl zu spät? Übermorgen ist schon Heiligabend.«
    Dann trug er mich aus der Werkstatt, einen kurzen Weg über den Hof, stemmte eine Tür mit dem Ellbogen auf und brachte mich in ein warmes Zimmer. Vorne in diesem Zimmer, hinter einem Vorhang, war das große Fenster, durch das er mich entdeckt hatte. Es sprang nach vorne und bot Platz genug für ein Podest. So musste sich die Stehlampe gefühlt haben. Ich genoss die Aussicht auf die Gasse, blickte dankbar auf die Stelle, wo ich vor ein paar Tagen noch nass und frierend gestanden hatte, und dachte an meine alten Kameraden.

    Irgendwann an diesem Tag sah ich übrigens das Paar wieder, die sich so lautstark gezankt hatten. Die Frau lief voran, eine Papiertasche mit Kordel-Griff an jeder Hand, er kam mit Plastiktüten hinterher. Ich hörte ihre Stimmen nur gedämpft durchs Glas, als sie vor meinem Fenster stehen blieben: »Manfred, war das nicht der Nachttisch neben meiner Lampe?«
    »Was heißt deine Lampe? Du hast sie deinem lieben Herrn Gockel gebracht und fort war sie.«
    »Er mochte sie so.«
    »Er hat dich aufs Kreuz gelegt.«
    »Du gibst also zu, dass ich recht hatte mit der Lampe. Und aus dem Nachttischchen ist so etwas Schönes geworden. Wenn auch nicht antik. Hättest du das nicht mitnehmen können? Oder sollen wir es …«
    Sie gingen weiter.

    Draußen war es trüb. Ab und zu fielen Regentropfen vom Himmel. Der alte Schreiner schaltete das Licht über dem Podest an, so dass ich besser zu sehen war. Von meiner neuen Glasscheibe am Bauch warf das Licht einen Fleck auf den Gullideckel in der Mitte der schmalen Gasse.
    Um die Mittagszeit betrachtete mich ein Mann mit Glatze. Er versuchte, die Tür zu öffnen, die seitlich vom Fenster nach draußen führte. Doch es schien, als sei sie seit langem verschlossen. Von Herrn Hauser war nichts zu hören. Eine Weile noch sah sich der Mann mit Glatze um, dann lief er weiter wie die anderen. Das machte mir nichts. Wir können warten. Nicht wahr, meine Zuhörer?

    Nach einem längeren Gedanken dämmerte es erneut und das Mädchen kam. Das Mädchen nämlich, das meine Platte gestreichelt hatte. Sofort entdeckte es mich und zog ihren Vater herüber.
    »Das Fenster ist hell!« rief es.
    »Sieh mal an«, sagte ihr Vater, »Ich dachte, der alte Schreiner macht nichts mehr.«
    »Das kenn ich.«
    »Was kennst du?«
    »Das Schränkchen.«
    »Das kannst du nicht kennen, Greta. Gestern stand hier noch nichts.«
    »Bestimmt. Es war ganz traurig und stand im Regen, wie die anderen Möbel.«
    »Komm, wir gehen rein.«
    »Es stand traurig im Regen. Und ganz leer. Und vorne sah es anders aus.«
    »Wenn du meinst«, sagte der Vater mild und zog einen Schlüssel aus der Tasche.
    Doch das Mädchen blieb stehen.
    »Komm Greta, wir trinken Kakao.«
    »Hat das Christkind den Brief schon mitgenommen?«
    »Ganz bestimmt.«
    »Schade.«
    Jetzt erst betrachtete der Mann mich genauer. Seine Augen waren grau, wie die des Schreiners.
    »Ich mach Kakao, Greta«, wiederholte er mit dem selben nachdenklichen Gesichtsausdruck, den seine Tochter aufgesetzt hatte. Dann gingen sie zusammen hinein.
    Auch am nächsten Tag schaltete der alte Mann das Licht an. Er legte etwas Tannengrün ins Fenster und einen kleinen Pappstreifen vor mich, auf dem mit zittriger Handschrift »50,- Mark« geschrieben stand.
    »Wenn ich dich verkaufe, werde ich mich selbst zum Essen einladen«, murmelte er. »Dann schreibe ich Greta eine Karte, eine von denen, die im Gasthof Lamm auf dem Tresen liegen.«
    Später hörte ich zum ersten Mal, dass er mit Geschirr klapperte. Es erinnerte mich wohlig an meine alte Heimat, meine letzte Station als Tischchen für den Dampfentsafter und die Einweckgläser. »Die alte Frau Schnitter hat mich nicht vor die Tür gestellt, ihr Sohn war es«, dachte ich.

    Gerade da sah ich ihn kommen. Das eckige Auto rollte vor sein Haus gegenüber und er stieg aus. Plötzlich war Weihnachtsmusik zu hören. Mit einer Hand fasste er einen Karton, mit der anderen schlug er die Autotür zu. Dann war es wieder still. Er ging ins Haus und hängte den Karton an das Fenster im Erdgeschoss, vor dem die Stehlampe gestanden hatte. Es war ein Schild, auf dem stand: »Einfamilienhaus in ruhiger Lage. Provisionsfrei direkt vom Eigentümer zu verkaufen. Eberhard Schnitter«, mit Telefon-Nummer und E-Mail-Adresse. Schnitter verließ das Haus und betrachtete das Schild von außen. Als er sich umdrehte, fiel sein Blick auf mich. Mit festen Schritten kam er herüber. Er schien mich wiederzuerkennen. Ungewöhnlich lange blieb er vor meinem Fenster stehen. Schließlich ging er zurück, setzte sich auf den Beifahrersitz und klappte das Handschuhfach auf. Wieder erscholl Weihnachtsmusik über die Gasse. Anders als der Mann mit Glatze versuchte er nicht, die Vordertür zu öffnen. Er ging geradewegs zum Hoftor an der Seite und klingelte. Der alte Mann stand auf, um ihm zu öffnen. Nach einer Weile hörte ich, wie sie hinter mir ins Zimmer traten.
    »Ja, es war wohl ihr Nachttisch«, sagte der Meister, »Ich habe ihn aber erst geholt, als die Müllabfuhr schon da war.«
    »Ja, aber jetzt, wo sie ihn verkaufen …«
    »Wollen sie ihn wiederhaben? Sehen Sie, heute ist Heiligabend, das ist schon was, und ich möchte mich nicht mit ihnen streiten.«
    »Wer sagt denn was von streiten?«, erwiderte Schnitter mit einer Stimme, die sich nach Streit anhörte.
    »Warum sind sie also gekommen?«
    »Ich möchte den Nachttisch kaufen.«
    In diesem Moment ging des Licht hinter der Tür des kleinen Hauses an, in dem die Kinder wohnten. Der Vater kam heraus.
    »Es ist kein Nachttisch mehr, sehen Sie …«, sagte der Schreiner.
    »Oder was auch immer es jetzt ist. Hier sind die fünfzig Euro, das meinten sie ja wohl.«
    Es klingelte und der alte Mann entschuldigte sich, um zu öffnen. Nach einer Weile kam er lachend zurück, hinter sich den Vater: »Da sehen Sie mal, Herr Schnitter, das erste Stück seit Jahren und gleich zwei Interessenten. Ich hätte nicht so lange aussetzen sollen!«
    »Ich habe den Nachttisch schon gekauft!«, sagte Schnitter.
    »Ja? Wie schade«, hörte ich den Vater sagen, »Herr Hauser erlaubte mir, den Puppenherd genauer anzusehen«, fuhr er fort und kam zu mir. Er hob mich in die Höhe, drehte mich nach allen Seiten und lächelte: »Das habe Sie wirklich schön gemacht. Betreiben Sie noch ihre Werkstatt?«
    »Nein, eigentlich schon lange nicht mehr. Doch ich habe noch alles.«
    »Auch alte Furniere, wie ich sehe.«
    »Sie können gerne ein Mal vorbei kommen, und sie sich ansehen.«
    »Wissen Sie, unser Haus ist zu klein für eine Werkstatt.«
    »Kommen Sie! Von mir aus dürfen Sie alles benutzen.«
    »Vielleicht zwischen den Jahren, wenn etwas mehr Zeit ist?«
    »Ja.«
    Auf dem wackligen Arm wurde mir schwindelig. Die Ungeduld Schnitters übersah ich jedoch nicht.
    »Als das Licht im Schaufenster an war, hat Greta den Herd sofort gesehen. Er gefällt ihr sehr.«
    »Meine Tochter heißt auch Greta. Sie lebte in Kanada«, erwiderte der Alte.
    »Ach, wo denn da?«
    »In der Nähe von Quebec. Sie hat einen Kanadier geheiratet. Leider haben sie keine Kinder. Das heißt, der Mann hat welche, die können aber kein Deutsch und …«
    »Was ist jetzt?«, unterbracht Schnitter schroff die Unterhaltung, »Verkaufen Sie mir das Ding? Für fünfzig Euro oder Mark, ist mir ganz egal.«
    »Nun wart doch mal Eberhard, mach dir nicht ins Hemd!«
    Es wurde still im Zimmer. So still, dass ich das Weihnachtslied hören konnte, dass aus Schnitters Wagen klang.
    »O seht in der Krippe im nächtlichen Stall, seht hier bei des
    Lichtleins hellglänzendem Strahl, in reinlichen Windeln das
    himmlische Kind, viel schöner und holder, als Engel es sind.«

    »War nicht so gemeint, Eberhard, Herr Schnitter«, entschuldigte sich der alte Schreiner, »Ich hab Sie ja schon als Kind gekannt. Jetzt bin ich ein alter Mann und etwas langsam und …«
    »Schon gut«. Herr Schnitter hatte den Kopf gesenkt.
    Der Vater räusperte sich. Er hielt mich noch immer im Arm. »Hm-hm, also … Fünfzig Euro wären mir etwas viel, da muss ich dem Herrn … Es war nur, dass Greta …«
    »Geben Sie ihrem Nachbarn die Puppenküche, Herr Hauser. Hier ist das Geld dafür.«
    Eberhard Schnitter hielt ihm den Fünfzigeuroschein mit ausgestrecktem Arm entgegen, bis der Schreiner ihn entge-ennahm. Dann sagte er leise »Auf Wiedersehen« und ging hinaus.
    Hauser und Gretas Vater standen eine Weile unschlüssig im Zimmer. Endlich ging der alte Schreinermeister zum Fenster und öffnete es weit. Ein kühler Wind blies herein. Schnitter saß noch in der offenen Autotür. Über »Stille Nacht« hinweg rief der alte Mann: »Hallo Herr Schnitter, Eberhard, wie feierst du heute Weihnachten? Ich bin ab sieben im Lamm …«
    Sieben Uhr: Das war genau der Moment, liebe Zughörer, liebe Kindermöbel in meiner neuen Heimat, an dem die Glocke läutete und alle ins geschmückte Wohnzimmer kamen. Greta trug ein weißes Kleid mit Blumenmuster. Das war das erste, was ich sah, als sie das Papier aufriss. Dann
    streichelte sie mir über die Platte.

    1. Lieber Stefan,
      deine Protagonisten, die Möbel, wirken sehr menschlich. Das finde ich gelungen! Darüber hinaus ist die Handlung komplex und die Story entwickelt sich – es macht somit Spaß sie zu lesen. Vielen Dank!
      Andreas

  31. Gemeinsame Wohnung

    “Das kann so nicht weitergehen“, sagte Jessica als sie wütend ins Wohnzimmer kam. Drake der auf der Couch liegt und Fernsehen schaute, guckt jetzt fragend Jessica an. “Was kann so nicht weitergehen?”
    “Wie oft habe ich dir gesagt, dass du deine Klamotten nicht einfach irgendwo auf den Boden liegen lassen sollst.”
    “Ich habe meine Klamotten erst einmal auf den Boden liegen gelassen“, sagte Drake und versuchte sich zu verteidigen.
    Jessica schaut ihn nur mit einem strengen Blick an.
    “Okay zweimal” – Drake überlegt kurz, “vielleicht dreimal aber kein Grund so einen Aufstand zu machen.”
    “Aufstand?”, sagte Jessica empört. “Du machst nichts in dieser Wohnung. Du kochst nicht, du machst keinen Abwasch, putzt nicht, machst nicht die Wäsche, nicht einmal den Müll bringst du raus. Und bei den ganzen Vorbereitungen für Weihnachten hast du mir auch nicht geholfen.”
    Drake rappelt sich von der Couch auf.
    “Ich hatte halt noch sehr viel zutun aber dafür mache ich viele andere Dinge, die uns beiden das Leben erleichtern.”
    “Und was genaue sind diese Dinge?”, fragte ihn Jessica.
    Drake zögert einen kurzen Moment.
    “Naja, ich bringe z.B das gute Bier mit nach Hause.” Jessica lächelt Drake an aber es ist kein nettes Lächeln.

    Drake steht vor der Wohnungstür und Jessica knallt ihm die Tür vor die Nase zu. Sie hat ihn rausgeworfen.
    Drake steht wie ein mit Wasser übergossener Pudel da.
    “Das kam unerwartet.”

    Drake sitzt mit seinem besten Freund Tom in einer Kneipe und beide trinken ein Bier. “Seit wir zusammengezogen sind, ist alles komplizierter geworden. Wir reden nicht mehr so wie vorher, streiten uns ständig, alles wird irgendwie zum Problem, ich weiß es auch nicht. Und dass auch noch kurz vor Weihnachten.”, sagte Drake.
    “Das hört sich nicht gut an Mann. Was war den der Auslöser?”, fragte Tom.
    Drake nimmt einen Schluck von seinem Bier uns antwortet, “Meine Klamotten die irgendwo rumlagen.”
    “Und?”, fragte ihn Tom schon etwas wissendes in seiner Frage.
    “Das ich mich nicht genug im Haushalt beteilige.”, sagte Drake.
    “Alter, dass tut mir alles echt leid für dich und ich will dir ja nicht zu nahe treten aber du bist echt ne Sau. Deine Wohnung sah immer unordentlich aus, wenn ich bei dir war.” “So schlimm?”, fragte ihn Drake.
    “Ja.”, sagte Tom.
    “Warum hat Jess dann nie etwas gesagt, wenn sie bei mir war?”, fragte Drake.
    “Weil sie dich wirklich liebt, da kann man so etwas schnell übersehen aber zusammen wohnen ist dann noch mal etwas anderes.”
    Drake denkt über das gesagte von Tom nach.
    “Wo bist du gerade untergekommen?”, fragte Tom.
    “In meiner alten Wohnung, der Vertrag geht noch 1 Woche und ich habe dort noch das nötigste für die Resttage, zwar kein Bett oder Kühlschrank aber zum überleben reicht es.”, sagte Drake.
    Tom fängt plötzlich an zu lachen.
    “Was ist so lustig?”, fragte Drake.
    “Du und Jessica wohnt gerade mal sieben Wochen zusammen und schon wurdest du rausgeworfen.” Drake fühlt sich etwas angegriffen. “Das ist nicht lustig, sag mir lieber was ich tun soll.”
    “Entschuldige dich und beteilige dich mehr in der Wohnung.”, sagte Tom.
    “Du hast recht, ich werde mich entschuldigen und ihr sagen, wie wichtig sie mir ist.”, sagte Drake entschlossen.
    Drake holte sein Handy aus seiner Hosentasche und wählte die Nummer von Jessica. “Hör zu Jess wegen heute ich” – wird von Jessica unterbrochen “Bitte Drake, ich brauche etwas Zeit für mich und Zeit zum nachdenken.”
    Jessica legte auf.
    “Sie sagt sie braucht etwas Zeit für sich und zum nachdenken.”, sagte Drake und sah den ebenso besorgten Tom an.

    Drake ist im Park und liegt auf einer Bank. Er schaut in den strahlend blauen Himmel. Er erinnert sich wie er gemeinsam mit Jessica durch diesen Park gegangen ist als sie gerade zusammen gekommen sind.
    “Du bist echt ein Idiot Mann.”
    Drake rappelt sich von der Bank auf und denkt nach.

    Drake steht vor einem großen Einkaufszentrum und geht hinein. Er kommt schnell wieder raus und hat mehr Tüten in der Hand als er eigentlich tragen kann.

    Drake steht vor der gemeinsamen Wohnungstür und hat eine Rose in der Hand. Er klingelt einmal.
    Die Tür öffnet sich aber Jessica macht sie genau so schnell wieder zu.
    Drake steht mit einem Blumenstrauß vor der Tür und klingelt wieder. Jessica macht die Tür aber wieder genau so schnell zu.
    Drake steht mit einem noch größeren Blumenstrauß vor der Tür aber Jessica macht die Tür wieder zu.
    Er versucht es die Tage immer wieder mit einem Schnappi Plüschtier, einem großen Winnie Puuh Bär und Luftballons aber Jessica macht die Tür immer wieder zu.
    Drake steht wieder vor der Tür mit einer großen Schokoladentafel. Jessica macht die Tür wieder zu. Plötzlich öffnet sich die Tür wieder und Drake freut sich schon. Jessica nimmt ihm aber die Schokolade aus der Hand und macht die Tür wieder zu.

    Die Tür öffnet sich und Jessica macht sich auf dem Weg
    zur Arbeit, als sie plötzlich den auf dem Boden liegenden
    Drake sieht. Neben ihm der große Winnie Puuh Bär.
    Drake ist am schlafen und Jessica weiß jetzt, dass er die ganze Nacht dort lag, vor ihrer gemeinsamen Wohnung.
    Sie denkt kurz nach, geht in die Hocke und küsst ihn einmal auf die Wange.
    Sie steht wieder auf und geht davon.

    Drake liegt wieder frustriert auf der Parkbank und telefoniert mit Tom.
    “Ja ich habe es mit Schokolade versucht Tom. Ich habe alles versucht.“ Drake atmet einmal kräftig aus.
    “Ich melde mich wieder und danke dass du da bist.”
    Drake legt auf, rappelt sich von der Bank auf und denkt wieder nach.

    Drake steht wieder vor der gemeinsamen Wohnungstür.
    Er hat einen Brief in der Hand und möchte diesen gerade unter die Tür schieben aber in dem Moment geht die Tür auf.
    Drake schaut zu Jessica hinauf und steht wieder auf.
    “Jess, es tut mir echt -”, Jessica unterbricht ihn.
    “Nein Drake es ist in Ordnung. Ich habe etwas überreagiert.”
    “Nein hast du nicht, ich habe mich einfach gehen lassen und dich alles machen lassen. Es tut mir echt leid.”, sagte Drake und packte den Brief in seine Hosentasche.
    “Ich habe dich echt vermisst.”, sagte Drake.
    “Ich habe dich auch vermisst.”, sagte Jessica lächelnd.
    “Fröhliche Weihnachten Jessica.”
    “Fröhliche Weihnachten Drake.”
    Drake geht auf Jessica zu und küsst sie einen langen Moment.
    Beide umarmen sich anschließend.
    Jessica nimmt Drake an die Hand.
    “Komm rein, ich habe gerade das Essen fertig gemacht.”
    Beide gehen in die Wohnung rein und Drake macht die Tür zu.
    “Was gibt’s denn?”, fragte Drake begeistert.
    “Lass dich überraschen.”, sagte Jessica.
    “Gibt es auch einen Nachtisch?”
    “Wirklich Drake, fängst du schon wieder so an?”
    Drake versucht sich sofort zu entschuldigen.
    “Nein, ich meinte dass doch -”
    Wird von der lachenden Jessica unterbrochen.
    “Ich mache doch nur einen Scherz Drake.”
    “Na warte.”, sagte Drake lachend und verfolgte die in der Wohnung herumrennende Jessica.
    Während sie durch die Wohnung laufen fragt Jessica,
    “Was stand eigentlich in dem Brief?
    “Welcher Brief?”, fragte Drake mit gespielter Ahnungslosigkeit.
    Jessica lacht wieder. “Du bist so ein Spinner.”
    “Was denn? Ich weiß nicht wovon du redest, welcher Brief?”, fragte Drake.
    Sie laufen weiter durch die Wohnung und lachen voller Freude.

    Copyright Mićo Ivanović

    1. Lieber Míco,
      du erschaffst einen klaren Konflikt in deiner Story, der den Leser von Anfang an in seinen Bann zieht. Über weite Strecken liest sich deine Geschichte wie ein Filmskript. Ich kann mir während des Lesens gut vorstellen, wie sich der Stoff als Liebeskomödie eignet.
      Danke dafür!
      Andreas

  32. Folgende Geschichte betrifft zwar nicht explizit das Weihnachtsfest, beschäftigt sich aber mit der erwartungsreichen Stimmung um die winterlichen Festtage.

    Telecom

    Große Blondine, schlank und gut gebaut, sucht smarten Mann, dem sie offen und liebevoll zuhören kann. Tel. 23672096

    Es war ja auch lange keiner mehr da, sodass ich mich langsam wirklich zu sehnen begann nach einem warmen Atem, einem rauen Kinn. Nach Lippen, die sich ganz nah meiner Hörmuschel öffnen und schließen.
    Nach einer sonoren Stimme, die mich kitzelnd in Schwingung versetzt.

    Ich stand da an einem grauen Novembertag zwischen Abendzeitungscontainer und absolutem Halteverbotsschild und fror. Ich fühlte mich erstarrt. Mein Unterleib fühlte sich kalt an und nur schwach spürte ich mein Geschlecht. Einst rosa strahlend glatt die Hörmuschel und wie poliert das wohlgeordnete Tastenfeld, hatte sich jetzt ein grauer Belag gebildet. Straßenstaub, Lindenkleb, schmieriger Dreck. Aber in meinem Kopf brannte es. Rosig glühten meine Wangen. Die Scheiben der vorbeifahrenden Wagen reflektierten mein Strahlen.
    Heute war der Tag, an dem meine Anzeige in der Abendzeitung erschien.

    Er kam um 17.30 Uhr, als sich schon etwas Dämmerung über die Straße senkte. Ich war gespannt und entspannt zugleich. Es würde passieren, es war nun soweit.
    Als er die Zeitung wieder senkte, sahen seine Augen in eine weite Ferne, die auch die nahen Mauern der Mietshäuser nicht verstellen konnten. Seine angespannten Gesichtszüge lockerten sich etwas und ein zartes Lächeln lief über sein Gesicht. Er wendete den Kopf und kam geradewegs auf mich zu. Während er in der tiefen Tasche seines grauen Wollmantels nach Kleingeld kramte, spürte ich die Wärme, die von seinem aufrechten Körper ausging. Die paar Münzen, die er gefunden hatte, zählte er in seiner offenen Hand und ich sah, dass er sehnige, schlanke Finger hatte und seine Hände glatt, aber nicht zu weich waren. Ich spürte bereits, dass er warme Hände hatte, als er mich direkt ansah.
    Mein weißes Telekom-T spiegelte sich in seinen sensiblen blauen Augen.

    Mit festem Griff fasste er meinen rosa Telefonhörer mit seiner linken Hand, holte mit der Rechten ein Papiertaschentuch aus seiner Manteltasche und begann fest über meine empfindliche Hörmuschel zu wischen. Warm hauchte er seinen gut und männlich riechenden Atem auf die Perforation, bevor er mit raschen Bewegungen weiter darüber rieb. Ich spürte bis tief ins Kabel die Berührung und meine Oberfläche wurde weich und schmiegsam.

    Dann hängte er den Hörer zurück auf die Halterung, zerknüllte das Taschentuch, schob den Knäuel in die Tasche und hielt einen Moment inne. Brennend durchfuhr mich der Zweifel, ob er seinen Plan durchführen würde, oder ob das schon alles gewesen war.

    Ich entspannte mich, als klickend in den Schlitz die harten Münzen fielen. 23672096, tanzten seine Finger über das Tableau, Edelstahl gebürstet und warme feste Haut, sensibel, ein Gedicht.

    Hallo, mein Name ist Erim, sprach er bestimmt mit weichem Akzent in die Perforation, ich habe Deine Anzeige gelesen.
    Ja, sage ich, ich spüre deine Lippen an meiner Muschel, deinen Atem an meiner rosa Glätte. Ich flüstere direkt in dein Haar, das weich an meiner Sprechmuschel kitzelt. Was fühlst Du?
    Oh, sagt er leise, ich wollte Sie kennenlernen. Das geht mir jetzt alles etwas schnell.
    Wie meinst Du das? Frage ich und schmiege mich eng mit der Taille meines Hörers in seine Hand.
    Ja, Sie klingen gleich so intim, wir kennen uns doch gar nicht.
    Ich spüre seinen Herzschlag am Kabel, dass sich über seine Brust windet. Seine Bartstoppeln an meiner Hörmuschel.
    Ich spüre, dass du meine Glätte angenehm findest. Wir passen gut zusammen, wie deine Lippen meine Perforation streifen. Du hast so schöne Hände, so einen festen Griff. Sag, wie fühle ich mich an? Wie findest du meine Farbe?
    Langsam erwärmt sich mein Hörer an seiner Hörmuschel, an seinen Lippen. In seine Hand geschmiegt werde ich feucht und heiß.
    Hören Sie, ich habe wohl in der Anzeige etwas missverstanden. Ich wünsche Ihnen alles Gute.

    Ein letzter Hauch, dann hängt er meinen Hörer zurück. Seine Hand löst sich von meinem Rosa.
    Klirrend fallen die Münzen in meinen Innenraum. Noch eine Weile spüre ich Wärme. Die Wärme seines Körpers. Dann erkalte ich und falle in die alte Starre zurück. Es ist schon dunkel.

      1. Wundervolle tiefgründige Geschichte über die Sehnsüchte einer Frau und die komplizierte Beziehung zwischen den beiden Geschlechtern. Sie hat mir sehr gefallen 🙂

  33. Wie jedes Jahr

    „Psst! Ist schon jemand von euch Schnarchnasen wach?“
    „Was ist?“ Ich höre ein dünnes Stimmchen.
    „Was willst du?“ Diese Stimme klingt unwirsch.
    „Ist etwas schon wieder so weit? Hatten wir nicht gerade erst… Ahhhrg!“ Ein vernehmliches Gähnen.
    Ich bin schon lange wach, denn ich brauche gar nicht viel Schlaf und habe nur noch vor mich hin gedöst. Aber mit gemütlichen Träumen ist es jetzt vorbei, meine Freunde erwachen und erfahrungsgemäß war es das jetzt mit der Ruhe.
    „Und ob es so weit ist. Habt ihr mal auf den Kalender geschaut. In drei Tagen ist Weihnachten. Hopp, hopp, hopp! Jetzt wird es Ernst.“ Das ist Fritz. Er hat schon so oft im Baum gehangen, dass man es kaum zählen kann. Seine silberne Oberfläche ist schon ganz schön angelaufen, aber immerhin hat er zwei Weltkriege überlebt, was er auch nie müde wird, uns zu erzählen.
    Und wie aufs Stichwort: „Ja, ja Heinz. 1943 – das war ein Weihnachten, stimmt‘s? Über uns dröhnten die Sirenen und dann die Flieger und …“
    „.. wir sind gar nicht aus der Schachtel im Luftschutzkeller geholt worden. Also hör‘ mir auf vom Krieg zu erzählen!“ Heinz ist eine ebenso alte Weihnachtskugel wie Fritz, vielleicht ist er sogar ein paar Jährchen älter, jedenfalls hat er eindeutig schon einen Sprung.
    „Ja, damals hatten die Leute noch Anstand“, fängt Fritz wieder an. „Da wurden die Kugeln gut verpackt und verstaut und wie ein Schatz gehütet. Und wenn wir dann im Baum hingen, dann hingen wir genau an unserem Platz, wie eine eins …“
    „Oh je, diese Jahr wird es bestimmt passieren. Ich werde aus dem Baum fallen, weil man mich nicht richtig aufhängt und dann werde ich in 1000 Stücke zersplittern. Oh weh, ich sehe es genau vor mir.“ Uschi ist eine Kugel aus Glas und diese Leier hören wir auch jedes Jahr, so dass niemand sich die Mühe macht darauf einzugehen.
    Aber Fritz ist auch noch nicht fertig: „Da hatte jede Kugel ihren Platz. Jawohl. Und man hat uns nicht irgendwo aufgehängt, sondern dort wo der Baum am dichtesten und am schönsten ist, nämlich …“
    „Die unteren Ränge sind doch nur für das Fussvolk.“ Christa, unsere Christbaumspitze lässt sich zum ersten Mal vernehmen.
    „Hej Bruder, die sprechen von uns.“ Diese Stimme gehört zu einer der Plastikkugeln, die aus irgendeinem Möbelhaus kommen, auf Namen wie Ivar, Lasse, Jära und Björn hören und immer unanständig gutgelaunt sind.
    „Klar, sprechen die von uns. Hej, hej, schön dass ihr alle wach seid“, antwortet Ivar, Lasse, Jära oder Björn. „Ist es nicht absolut großartig und wunderbar, dass Weihnachten schon wieder vor der Tür steht.“
    „Ja, Bruder, das ist Spitze! Es ist Mittwinter, das Fest der …“
    „Also die Spitze bin ja immer noch ich.“ Christa ist beleidigt.
    „Klar, du bist Spitze! Aber wenn du doch schon ganz oben im Einsatz bist, warum guckst du dann immer als hätte dir einer das Knäckebrot zerbröselt?“
    „Pah!“, macht Christa.
    „Aber im Ernscht“, jetzt spricht Etta, das Lametta, „in letschter Zscheit, hast du immer gansch schön scheische auschgeschehen.“
    „Ups“, rutscht es Äpelchen heraus und es errötet.
    „Nimm du erstmal den Waschlappen aus dem Mund. Mir war es eben nicht so gut. Ein wenig blümerant, möchte ich sagen. Ja, und ihr braucht gar nicht so blöd zu glotzen!“, fährt Christa Ivar, Lasse, Jära und Björn an.
    „Du hast einen Waschlappen im Mund?“, fragt einer der Strohsterne. Die Glöckchen kichern.
    Hätte sie Augen, würde Etta jetzt damit rollen.
    „Nein, aber ischt eusch aufgefallen, wie ich auschaue.“ Etta deutet auf den großen Knoten, zudem sie zusammengewickelt ist. „Wahrscheinlisch musch ich wieder Schtunden um Schtunden gebügelt werden.“
    „O je, diese Hitze! Das vertrage ich ja gar nicht. Da fühle ich mich immer, als müsste ich gleich platzen.“ Uschi ist besorgt.
    „Du bist doch wohl nicht aus Glas?“, fragt Ivar, Lasse, Jära oder Björn und lacht. Die Glöckchen klirren fröhlich.
    „Natürlich ist sie aus Glas!“, sagt der Strohstern. Nun prusten die Glöckchen richtig los.
    „Ja, aber Christa, was stimmt denn nun nicht mit dir?“, fragt Lizzy die Lichterkette.
    „Gar nichts stimmt nicht mit mir. Mit mir ist alles in Ordnung,…“
    „Aber?“, fragt Lola, die andere Lichterkette.
    „So etwas fragt man eine Dame nicht.“
    „Hej, komm‘ schon, Schwester, da wo wir herkommen sind wir alle eine große Familie.“ Ivar, Lasse, Jära und Björn nicken.
    „Das wüsste ich aber!“, murmelt Fritz.
    „Jetzt lass‘ dir doch nicht alles aus der Spitze ziehen“, sagt Karl der Christbaumständer. „Meinst du etwa, mir tun nicht alle Gelenke weh. Jahrein, jahraus trage ich den Tannenbaum…“
    „Bis er dann nach Weihnachten aus dem Fenster fliegt, damit es Platz für neue Möbel gibt“, plappert Ivar, Lasse, Jära oder Björn dazwischen.
    „Der Tannenbaum kann fliegen?“, fragt der Strohstern. Die Glöckchen lachen hell auf.
    „Das wüsste ich aber! Hast du so einen Unsinn schon mal gehört, Heinz?“, murmelt Fritz nun etwas lauter.
    „Ups!“ Äpfelchen errötet.
    „Christa?“, fragt Karl nun mit Nachdruck und zu mir gewandt: „Sag‘ du doch auch mal was!“
    „Also schön, wenn ihr es unbedingt wissen wollt“, bricht es aus Christa heraus, „ich habe Höhenangst!“
    Alle schweigen peinlich berührt, man könnte einen Strohstern fallen hören.
    „Aber…, aber du bischt doch…“, Etta findet als Erste ihre Sprache wieder und schnappt hörbar nach Luft.
    „…die Christbaumspitze! Ganz genau. Was glaubt ihr denn, warum ich mich so elend fühle. Was machen die wohl mit mir wenn sie das merken?“
    „Dich wegschmeißen und durch eine neue, jüngere ersetzen?“, fragt Nico, eine goldangesprühte Nuss.
    „Mann, bischt du hohl!“, fährt Etta dazwischen.
    „Oh je!“, jammert Uschi, „Und ich bin bestimmt die Nächste.“
    „Ach, da würde ich mir keine Sorgen machen“, sagt Lizzy. „Genau!“, stimmt Lola ein, „Wir haben doch alle unsere Wehwehchen. Glaubst du etwa, uns würde mal einer testen, bevor man uns in den Baum hängt. Wahrscheinlich tut wieder jedes zweite Birnchen nicht, aber das interessiert doch hier kein Schwein!“
    Äpfelchen errötet.
    „Früher war alles besser. Stimmt es nicht, Heinz?“, tönt Fritz. „Da gab es echte Kerzen im Baum. Jawohl! Echte Kerzen! Das waren noch Zeiten. Dieses weiche, warme Licht und der Duft! Erinnerst du dich noch, Heinz?“
    „Ich erinnere mich gut, als der Baum anfing zu brennen und dann die Gardinen in Flammen aufgingen und wir beinah alle draufgegangen wären. Und dann das kalte Wasser. Eine ganze Ladung davon…“
    „Papperlapapp! Kerzen waren schön! Stimmungsvoll, nicht so wie dieses debile Elektrogedöns. Die haben doch alle einen Wackelkontakt!“
    „Ich geb‘ dir gleich einen Wackelkontakt!“, ruft Lola aufgebracht.
    „Ihr Weicheier solltet endlich mal aufhören zu jammern. Hängt da wie die Made im Speck im warmen Zimmer im Baum, während unsereins draußen bei Wind und Wetter volle Leistung erbringen muss.“ Jetzt schaltet sich auch Aussie, die Außenlichterkette ein.
    „O Gott, da draußen würde ich mir den Tod holen!“, klagt Uschi.
    „Ganz genau, Freunde!“ Aussie kommt jetzt in Fahrt. „Glaubt mir, ich weiß, wovon ich spreche. Ich hänge nicht die ganze Zeit im Haus herum. Ich sehe und höre was von der Welt. Ich habe Horizont. Und deshalb sage ich euch, lasst uns von hier verschwinden.“
    „Was ist Horizont?“, fragt der Strohstern.
    „Schnauze!“, sagt Lola, „Ich will wissen, was Aussie uns vorschlagen will.“
    „Also“, Aussie macht eine kunstvolle Pause, um auch sicherzustellen, dass ihm alle zuhören, „wir sollten nach Australien auswandern. Warum nach Australien, werdet ihr jetzt fragen.“
    „Was ist Australien?“, fragt der Strohstern.
    „Und die Antwort ist ganz einfach: weil in Australien Weihnachten im Sommer ist.“ Wieder schweigt er erwartungsvoll.
    „Weihnachten im Sommer. Wie kann denn Weihnachten im Sommer sein. Hat man so einen Unsinn schon mal gehört, Heinz?“, knurrt Fritz.
    „Oh nein, meine Lieben, das ist die reine Wahrheit. Schließt die Augen und stellt es euch vor: es ist warm, der Tannenbaum seht auf der Terrasse, die Sonnenstrahlen kitzeln euch, von Meer weht eine leichte Brise. Riecht ihr die gute Seeluft?“ Alle atmen hörbar ein.
    „Ihr seht das Blau des Himmels und die weiße Gicht am Strand, da wo die Wellen sich brechen.“
    „Gischt!“, seufzt Karl verzückt, „Die Sonne würde meinen müden Gelenken sicher guttun.“
    „Und ob bei uns alle Lämpchen brennen, sieht man bei Sonnenlicht sowieso nicht“, freut sich Lizzy.
    „Aber Sonne und Glas?“, Uschi ist nicht überzeugt. Könnte da nicht der Baum brennen? Also ich halte das für gefährlich.“
    „Ist Weihnachten in Australien wirklich im Sommer?“, fragt der Strohstern.
    „Sowas von im Sommer! Mitten im Sommer. Die Leute tragen Badehosen und zum Essen wird gegrillt.“
    „Also das halte ich aber wirklich für gefährlich! Grillen in der Nähe vom Tannenbaum, was da alles passieren kann.“
    „Ach Uschi, du bischt ja so eine Schpielverderberin!“, ruft Etta.
    „Aber Weihnachten ist doch jetzt. Ist das in Australien auch jetzt?“, fragt der Strohstern.
    „Klar ist das jetzt, Dummkopf, wann soll denn sonst Weihnachten sein?“
    „Ha! Wusste ich doch, dass an der Geschichte etwas nicht stimmt, Heinz! Jetzt haben wir nämlich Winter.“
    „Aber in Australien ist jetzt Sommer, das ist es doch, Leute!“ Aussie verliert langsam die Geduld.
    „Sag‘ du doch auch mal was“, sagt Karl zu mir.
    „Ich weiß nicht.“ Christa ist unentschlossen. „In Australien hätte ich doch immer noch Höhenangst!“
    „Quatsch, da sind die Weihnachtsbäume niedriger, ganz bestimmt!“, sagt Aussie euphorisch.
    „Woher weißt du das? Gibt es überhaupt Tannen in Australien?“
    „Gar nix weiß der, der hat doch keine Ahnung . Stimmt doch Heinz, oder?“
    „Genau Fritz, der ist ja selber noch grün hinter den Ohren, hahaha!“
    „Aber es könnte doch immerhin sein!“, wirft eines der Glöckchen ein, „Wir wollen jedenfalls nach Australien in die Sonne.“
    „Hej Brüder da sind wir auch dabei, das klingt nach einer Menge Spaß!“, sagt Ivar, Lasse, Jära oder Björn.
    „Auja!“, rufen Lizzy und Lola einstimmig. „Lasst uns durchbrennen!“

    Heute ist Heiligabend.
    Ich sehe meine kleinen, hauchzarten, goldigen Engelsflügel, die sich in den leuchteten Augen von Gabriel und Judith widerspiegeln. Alle sind um den Baum versammelt. Die Kinder, Mama und Papa und auch Tante Bibi, die nach dem Essen immer so laut schnarcht. Sie schlägt wie jedes Jahr vor, ein Lied zu singen.

    „Hej, findet ihr nicht auch, das wir den allerschönsten Baum der ganzen Welt haben“, fragt Ivar, Lasse, Jära oder Björn. „Eigentlich schade, dass er nach Weihnachten aus dem Fenster fliegt.“ Die Glöckchen lachen hell und tanzen dabei ein bisschen, aber ich glaube nicht, dass es jemand außer mir sieht.
    „Hat jemand schon mal so einen Unsinn gehört, Heinz?“, fragt Fritz, aber seine Stimme klingt heute eher fröhlich. Er hat sich aufpoliert und die Lichter von Lola und Lizzy bilden schimmernde Reflexe auf seiner silbrigen Oberfläche. Äpfelchen strahlt über alle Bäckchen.
    Am Fenster rieseln große Schneeflocken vorbei. Aussie zwinkert uns mit seinen Birnchen von draußen zu.
    „Aber es hat Spaß gemacht, von Australien zu träumen“, sagt Nico, die Nuss.
    „Du bist einfach hohl!“, ruft Christa lachend. Sie thront majestätisch über uns allen. Vor lauter Weihnachtsfreude über die staunenden Kinder scheint sie ihre Höhenangst völlig vergessen zu haben.
    „Mir wäre so ein Abenteuer sowieso viel zu aufregend gewesen“, seufzt Uschi, aber selbst sie wirkt heute irgendwie entspannt.
    „Ja, genauso wie heute muss Weihnachten sein!“, höre ich Karl von unter dem Baum. „Sag‘ du doch auch mal was, Engelchen!“
    „Wie könnte man bei dem Anblick der glücklichen Kinder denn Lust bekommen von hier fortzugehen?“, frage ich. Das hätte ich auch gleich sagen können, denke ich, genauso wie jedes Jahr und lächele.
    „Keine Ahnung“, antwortet Etta, die säuberlich über die einzelnen Äste des Weihnachtsbaumes verteilt hängt. „Das war eine Schappsidee!“
    „Was ist Schapps?“, fragt der Strohstern.

    1. Liebe Diana,
      deine fantasievolle Geschichte vom Christbaumschmuck bringt den Leser zum Schmunzeln. Besonders gut gefällt mir, dass jeder einzelne Gegenstand seine ganz eigene Art zu sein hat. Vielen Dank!
      Andreas

  34. Diebe
    (Autorin: Solveig Klaus)

    Hastig gehe ich die Stufen rauf. Ich schaue mich um, ob mich jemand beobachtet. Nein, es sieht nicht so aus. Vielleicht kann ich heute doch noch die letzten “Einkäufe” für den Heiligen Abend erledigen.
    ***
    Schmidt schaut auf die Kameraübertragung von der Umkleidekabine der Damenabteilung. “Und, was zu erkennen?”, nuschelt sein Kollege, während er in seinen Hähnchenschenkel beißt. Dann wischt er seinen fettigen Mund mit dem Handrücken ab und zeigt mit der Keule auf die Kabine.
    “Klopf doch nicht mit dem toten Vogel gegen die Monitorscheibe, du Arsch!”, schnauzt Schmidt ihn an. Angeeckelt guckt er auf die Speckrolle seines Kollegen, die sich über die unförmige Jeans wölbt. “ Und friss nicht soviel, Becker!”
    ***
    “An Weihnachten ist es am schlimmsten. Die Klauen hier alles. Das glaubst du nicht! Und die Ausländer sind die Schlimmsten”, die Kassiererin nickt mit dem Kopf auf eine Gruppe Jugendlicher, definitiv mit Migrationshintergrund.
    “Wir rufen den Schmidt, wenn die komisch werden”, sagt die andere Verkäuferin.
    ***
    In mir fühle ich einen Wonneschauer, wenn ich das lese:
    „Ist die Natur:
    Es leuchtet die Sonne
    Über Bös und Gute,
    Und dem Verbrecher
    Glänzen wie dem Besten
    Der Mond und die Sterne.“
    Ich weiß, dass Goethes Gedichtband meiner Schwester gefallen wird. Also nehme ich es mit. Dabei reibe ich mir die Hände und lächele.
    Ich gehe weiter und sehe die DVDs im Regal. “Vom Winde verweht”, steht da.
    Oh ja, das war zum dahin schmelzen romantisch. Wie hatte ich mitgefiebert, ob die temperamentvolle Scarlett O’Hara ihr Liebesglück in Rhett Butler finden würde …
    ***
    “Hohoho, ich bin der Weihnachtsmann”, trällert der dicke Mann mit dem angehefteten langen weißen Bart und verschwitztem Gesicht.
    “Was riecht hier so streng?”, fragt der Junge den Weihnachtsmann.
    “Weiß nicht,” kommt promt die Antwort. Der Weihnachtsmann riecht unter seinen Achseln und verzieht das Gesicht.
    “Willst du nicht ein Weihnachtsgedicht aufsagen?”, mürrisch schaut er den Jungen an.
    “Lieber guter Weihnachtsmann…”, beginnt der Junge.
    Der Mann unterbricht ihn: “Das hab ich heut schon hundertmal gehört. Kannst du nichts anderes?”
    Verschreckt weicht der Junge zurück. “Du bist nicht der echte Weihnachtsmann! Das weiß ich genau!”, verteidigt er sich.
    Als die Mutter kritisch guckt, reicht der Mann dem Jungen einen Rentier-Lolli. “Hier haste was und jetzt sei schön brav.” Dann schubst er ihn regelrecht von dem Podest, wo er in einem grünen Ohrensessel sitzt, herunter.
    ***
    Ich habe noch 3.67€ in meinem Portemonnaie. Das ist meine gesamte Liquidität für diesen Monat. Oder, ach für ewig? Ich kann meinem Vater nicht sagen, dass ich gekündigt wurde. Aus Insolvenzgründen, ach egal. Er ist so unendlich traurig seit Mamas Tod. Und meine Schwester ist auch keine Stütze, mitten in der Pubertät und in ihrer Traumwelt.
    Aber jetzt geht es um Paps. Er liebt verchromte Uhren. Die Schmuckabteilung ist im Erdgeschoss. Ich nehme die Rolltreppe und helfe einer älteren Dame auf der Rolltreppe, die fast umgefallen wäre durch einen drängelnden Schnösel im Anzug, Marke Geschäftsführer. Schmidt steht auf seinem Namensschild.
    ***
    Becker starrt auf den Monitor, wo sich vor einigen Sekunden zuvor eine gut gewachsene Blondine in die Kabine zurückgezogen hatte. Der Vorhang wackelt verheißungsvoll. Becker greift zu seinem Hosenschlitz, seine Unterlippe fällt nach unten, ein Speicheltropfen läuft heraus.
    ***
    “Ich glaube, die haben was eingesteckt. Unser Weihnachtsmann hat es bestimmt auch gesehen. Ruf mal den Schmidt an. Der soll die alle einbuchten. Diese Kanaken!”
    Die Kassierin gestikuliert wild, ihre Augen verengen sich, als sie die Jugendlichen beobachtet. Ihre Kollegin zieht die Mundwinkel nach unten und wählt mit rosa Gelnägeln, auf denen Eiskristalle aufgeklebt sind, eine Hausnummer. Sie sagt: “Ist doch immer dasselbe mit denen.”
    ***
    Ich entdecke die Uhrimitate an einem Weihnachtsbaumast, blicke kurz über meine Schulter. Alle Leute sind im Stress und niemand schaut mir zu. Ich stecke mir zwei Uhren ein. Mache eine um das linke und eine um das rechte Handgelenk. Ein Ruck und die Etikette sind heruntergerissen. Ich gehe weiter zu einer Vitrine mit Gold- und Silberuhren für Herren.
    “Können Sie mir bitte diese da zeigen?”, frage ich eine Verkäuferin, im grau-weiß-schwarzen Kostüm, die sich bewegt wie eine Bachstelze. Das Lächeln mit oben zehn und unten acht aufgereihten weißen Glassteinen.
    “Aber natürlich, junge Dame! Suchen Sie etwas bestimmtes?”, fragt sie mit überhöhter Stimmlage. Das Gebiss lächelt unverändert. Wahrscheinlich trainieren die das ab dem ersten Ausbildungstag.
    “Ich suche eine verchromte Uhr für meinen Vater.“ Ich tippe auf die Vitrine. „Ja, sowas gefällt ihm sicherlich. Oder da, dort drüben hab ich noch was entdeckt.”
    Sie ist sehr beflissen und bald schon habe ich ein großes Sortiment vor mir stehen.
    “Ach, da fällt mir doch ein. Ich brauche noch eine neue Batterie an meiner Uhr. Schauen Sie mal, können Sie diese wechseln?” Ich nehme die Uhr von meinem linken Handgelenk und gebe sie ihr.
    Ich hätte Schauspielerin werden können. Ich weiß meinen Text ohne ihn vorher gelernt zu haben, sogar den Text der Verkäuferin. Nun muss ich schnell sein. Sie dreht sich um. Ich nehme die Uhr von meinem rechten Handgelenk und tausche sie aus mit einer solide aussehenden Uhr für 345 Euro. Mache diese an meinem Handgelenk fest. Was für ein Schnäppchen, denke ich, tausche 20 zu 345 Euro. Nun kommt die Bachstelze wieder. Ich bedanke mich höflich und meine, dass ich nochmal darüber nachdenken werde, welche Uhr ich kaufen will. Sie macht es dezent, aber ich kann in ihren Kopf sehen. Bemerke, dass sie alle Uhren zählt. Dann greift sie zufrieden nach den Boxen und verstaut die Ausstellungsstücke wieder in der Vitrine.
    ***
    “Los, Becker, wir haben Arbeit!” Schmidt stürmt ins Büro. “Und mach ja deine Hose zu, du alter Wichser. Nicht zum Aushalten ist das!” Becker folgt ihm mit rotem Kopf. Sie eilen die Treppen hinunter.
    ***
    Ich habe es fast geschafft. Nur noch ein paar Schritte. Hinter mir stehen einige Jungs.
    “Ey Alda, bin isch Kino?”, schnappe ich auf. Da sehe ich plötzlich den Anzugschnösel auf mich zulaufen. Und ein fetter Kerl dahinter. Ich weiß sofort, dass das die Kaufhausdetektive sind. Mein Herz pocht bis in meine Ohren. Ich bleibe wie ein erstarrtes Wild im Schweinwerferkegel stehen…
    ENDE

    1. Liebe Solveig,
      das Thema Geschenke klauen ist für eine Weihnachtsgeschichte ungewöhnlich aber reizvoll. Auch die Technik unterschiedliche Perspektiven zu kombinieren ist grundsätzlich gelungen. Vielen Dank!
      Andreas


  35. Die verbrannten Kekse

    Advent, Advent ein Lichtlein brennt. Erst eins, dann zwei, dann…
    Ja, sie werden es wahrscheinlich auch mitbekommen haben – in den letzten Tagen sind die Nächte immer länger und die Sonnenstunden immer weniger geworden.

    Weihnachten ist…
    Na das können Sie sich jetzt selbst beantworten, denn es meint ja doch für jeden Einzelnen etwas Anderes. Wir versuchen jetzt aber trotzdem einmal das Weihnachtsfest für jeden, der noch nie etwas davon gehört hat, anschaulich zu beschreiben. Also: Weihnachten ist…
    …Weihnachtsstress. Hetzen von Laden zu Laden, schlaflose Nächte, mit Kopfzerbrechen, „Hilfe!! Was soll ich ihm bloß schenken!? Er hat doch schon alles!!“ oder auch: „Hoffentlich schenkt mir Tante Elfriede nicht schon wieder diese stinkenden Socken!“. Kitschige Weihnachtslieder, drängende Menschenmassen in den riesigen viel zu überschmückten Shoppingmalls, Nachbarn, die ihre Gärten in einen augenkrebshervorrufenden Lichterpark verwandeln, das Wetter: kein Schnee, aber trotzdem – kalt und ekelhaft – und doch ist man traurig, wenn am Ende der ganze Rummel vorbei ist – irgendwie bezaubernd!
    Weihnachten bedeutet, dass in jedem Einfamilienhaus mit einer Hausfrau, die eine weihnachtliche romantische Stimmung der Sicherheit vor „Abfackelungsgefahr“ des eigenen Hauses vorzieht, oder in jeder Wohnung eines Ehepaars, in dem die Frau entweder schon längst ihren Mann losbekommen, oder in eine neue Wohnung umziehen wollte, hunderte Kerzen aufgestellt werden. Die meisten in Stern und Christkindform versteht sich.
    Die Plätzchen werden im Backofen schwarz, weil während sie im Ofen warten, der Weihnachtsbaum geschmückt wird – und natürlich läuft das wie in jedem Jahr nicht ohne einen Streit darüber ab, in welcher Farbe er dieses Mal behängt werden soll – die Mutter ist für ein geschmackvolles Weinrot, der kleine Sohn für Dunkelblau und die Tochter klischeehaft für rosa – in anderen Jahren ist es dann genau umgekehrt, denn in ein paar Jahren plädiert der Sohn für rosa und die Tochter für dunkelblau, wenn er gerade in seiner „Ich bin verliebt“ und sie mitten in ihrer „Ich bin stärker als Jungs“ – Phase steckt. Der Vater hat eigentlich nie eine wirklich eigene Meinung und schlägt einfach, um etwas gesagt zu haben, schwarz vor – die Ironie, die dahintergestanden hatte, wird an einem solchen Tag natürlich nicht erkannt, sodass nun auch noch das Wohnzimmer mit Buh-Rufen gefüllt wird, die alle auf ihn einprasseln – sodass er sich vornimmt im nächsten Jahr lieber seine Klappe zu halten – naja, ein Jahr ist eine lange Zeit und bis zum nächsten Weihnachten hat er seine Vorsätze meist sowieso wieder vergessen. Letztendlich behängt jeder seine eigene Ecke – sieht im Endeffekt – joah! Als was soll man es bezeichnen – ich würde sagen, interessant aus. So hat aber jeder seine Ecke, die er beim Weihnachtsliedersingen am Heiligen Abend betrachten kann – und alle haben das Gefühl, gewonnen zu haben – grandios.
    Die ganze nun doch wieder hergestellte Idylle hält so lange an, bis ein unheimlicher Gestank aus der Küche entwischt und unter dem dünnen Türspalt ins Wohnzimmer schlüpft – sodass die Diskussion schlagartig abbricht, da alle hektisch in die Küche sprinten. Nur der Vater bleibt weiter zeitunglesend in seinem gemütlichen Ohrensessel sitzen und schüttelt vor Unverständnis darüber, wie man an so einem arbeitsfreien Tag eine solche Hektik heraufbeschwören kann, den Kopf.
    Lange bleibt er jedoch nicht ungestört, denn als seine Frau ihm vor Wut ein Blech mit den besagten halbverkohlten Herzchen, Tannenbäumen, Monden und Sternen unter die Nase hält – ihr Kopf röter als ihr Viertel des geschmückten Baums – muss er seine Ohren akut mit einer Luftschicht oder den imaginären Ohrenstöpseln bedecken, um zu verhindern, dass er später in der Kirche den Pfarrer nicht mehr versteht.
    Ach. Ist das herrlich!
    Nachdem sich die gesamte Familie nun noch einmal in der Küche versammelt hat, um verbrannten Teig von den noch einigermaßen genießbaren Bestandteilen zu trennen und die leicht angekokelten Stücke mit genügend Zuckerguss bestrichen hat, sodass man es überhaupt nicht mehr schmeckt – zumindest unter der Annahme, dass die schwarze Kruste, die schließlich unter der fetten Schicht dieses Gusses hervorkommt, für eine zusätzliche Schokoladenklasur gehalten werden kann.
    Bis zum Abend verbringt man die restliche Zeit damit, noch die restlichen Geschenke zu verpacken, das Essen für den Abend zuzubereiten – dieses Jahr ist es einmal keine Entenbrust von Oma, sondern ein Käsefondue, da zum einen die Oma im letzten Jahr ein paar Gehirnzellen zu viel abgebaut hat und die Familie seit der Fastenzeit vegetarisch lebt – sich gemütlich auf das Sofa zu setzen und das Feuer zu betrachten, oder etwas zu lesen. Die Kinder nutzen die Zeit dazu, noch ein letztes Mal mit ihren alten Spielsachen zu spielen – denn, wenn sie heute Abend reich mit neuen Produkten der Spielzeugindustrie beschenkt werden, ist es bereits jetzt vorauszusehen, dass die momentanen „Superspielautos“ nur noch in der Ecke liegen und fast schon als „historisch“ und vor allem als vollkommen „uncool“ gelten.
    Eine viertel Stunde lang füllt man schließlich damit, erst sich und dann die Kinder möglichst so warm einzupacken, dass man heute Abend die Geschenke auch tatsächlich noch auspacken kann und nicht zuvor bereits das Geschenkpapier weghustet oder- niest. Leider erfüllt sich trotz der viel zu niedrigen Temperaturen an den meisten Weihnachtstagen doch nicht der Wunsch vieler Kinder – heimlich auch vieler Eltern – und es gibt kein weißes Weihnachten. Statt von Schnee ist der Weg von matschigem, kaltem Schlamm bedeckt – sodass man sich noch nicht einmal durch Schneeballschlachten aufwärmen kann, sondern durch den Ersatzspaß „Matschhüpfen“ die Schuhe bereits nach den ersten Metern pitschnass sind, sodass sich das Kälte- und Ungemütlichkeitsempfinden nur noch verstärkt.
    Schließlich macht man sich auf den Weg zur Oma, die man natürlich wegen des „Familienfeiertags“ heute in die Kirche begleitet. Die anderen Geschwister wohnen zu weit weg und sind trotz Weihnachten nicht gekommen – aber wahrscheinlich werden sie in den nächsten Tagen doch noch irgendwann einmal aufkreuzen – und man weiß noch nicht, ob man es angesichts des schon lang zurückliegenden letzten Treffens als freudiges Wiedersehen, oder in Anbetracht der vielen Arbeit, nun noch eine Horde an mehr oder weniger unerwarteten Überraschungsgästen, lieber verfluchen sollte. Am besten man macht es einfach wie im letzten Jahr und verreist über die Weihnachtszeit – dann muss man sich mit solchen Gedanken schon nicht herumschlagen – und Heilig Abend mit der kleinen vierköpfigen Familie lässt sich auch ein paar Tage nach der Rückkehr noch nachholen. Naja – auch in diesem Jahr ist diese Idee natürlich viel zu spät gekommen, sodass man sich nun eben seinem Schicksal fügen und doch zu Hause unter dem eigenen Weihnachtsbaum feiern muss.
    Natürlich hat Oma schon wieder vergessen, welcher Tag heute ist – sie ist in letzter Zeit eben doch erschreckend schnell gealtert – aber es sei ihr verziehen, denn das Wetter erinnert wirklich nicht an den 24. Dezember.
    Letztendlich in der vollkommen überfüllten Kirche angekommen, quetscht man sich noch in die letzten Lücken dicht aneinander – oh wie schön! Oh wie toll nah wir uns sind! Auf diese Art und Weise bekommt das Weihnachtsfest noch einmal ein ganz besonderes Flair von „Gemeinschaftsnähe“ – vielleicht gibt es ja ab Morgen nicht mehr ganz so viel Streit über die Gestaltung des neuen Spielplatzes, oder über die Auswahl der Straßenlaternen.
    Die Kinder beginnen bereits nach der ersten viertel Stunde zu quengeln – sie sind viel zu aufgeregt und gespannt auf ihre Geschenke, eines ihrer Beine ist vom „langen Stehen“ eingeschlafen oder sie müssen aufs Klo. Man versucht die Kinder zu beruhigen – wie peinlich, wenn einen nach der Zeremonie auf einmal alle kennen und man als „Chaotenfamilie“ verschrien ist, aber – Kein Problem. Sie müssen ja nur noch weitere eineinviertel Stunden vertröstet werden – das wird schon. Glücklicherweise ist man natürlich für jede möglicherweise eintretende Situation gewappnet – und hat noch schnell, kurz bevor man losgegangen ist die Lissy –bzw. Asterix- und Obelix-Comics eingepackt – natürlich die extra kleinen Ausgaben, damit sie zwischen den Seiten des Gesangbuchs gut versteckt werden können.
    Dank der wahnsinnig spannenden Pferde- Liebe- bzw. Kampfstorys und des mehr oder weniger interessanten Krippenspiels bekommt man schließlich auch noch die restliche Zeit einigermaßen gut überbrückt und versucht nun, ohne zu ersticken oder die restliche Familie zu verlieren, wieder aus der für diese Menschenmassen wirklich vollkommen ungeeignete Kirche herauszukommen.
    Einen Vorteil hatte diese riesige Menschenmenge in der Kirche aber dann doch gehabt, die einem aber leider erst auffällt, wenn die Kirche schon vorbei ist: Aufgrund des dichten Stehens hatten sie sich wie eine Pinguinfamilie gegenseitig gewärmt – der Nachteil dieses eigentlichen Vorteils: sobald man nun im Anschluss auch nur einen einzigen Schritt aus der Kirche hinaustritt fühlt sich die Nacht umso kälter an. Also macht man sich auf den Weg, schon vor den ersten Metern halb eingefroren, um die Oma schnell noch nach Hause zu bringen, damit sie nicht wieder vor der falschen Haustür endet, was leider in letzter Zeit schon viel zu häufig passiert war. Man legt ihr noch eine Weihnachts-CD ein, gibt ihr das von den Kindern gestaltete Kunstwerk – ein paar bunte Striche auf einem weißen Blatt Papier, die sie selbst mit ihren Enkelkindern darstellen soll – und verabschiedet sich schließlich, um den drei Kilometer langen Weg nach Hause anzutreten. Die Schuhe hatten sich inzwischen leider noch nicht gefriergetrocknet, was sich nun als noch ekelhafter, kälter und ungemütlicher herausstellt und zu noch mehr Quengeln der Kinder führt.
    Während des Laufens versucht man sich ein wenig von der Kälte abzulenken und zieht dafür noch einmal kurz eine Bilanz des Tages: Der Tannenbaum ist geschmückt, die Teelichter vorbereitet die Plätzchen rechtzeitig im Ofen verbrannt, die Schuhe durchnässt, die Weihnachtszeremonie auch mehr oder weniger erfolgreich überstanden – und nun stapft man im spritzenden Matsch wieder nach Hause.
    Doch ganz so schlimm ist es dann doch wiederum nicht. Nach einigem Laufen, wird es wärmer, als man erwartet hatte, die Kinder quengeln nicht mehr, sondern sind damit beschäftigt, die Sterne am Himmel zu zählen, die Mutter seufzt glücklich über all die schönen Hausbeleuchtungen, von Rentieren über Pinguine, bis zu Weihnachtmännern, Lampions, künstlichen Eiszapfen – wenn das Wetter nicht mitspielt, muss eben die Industrie her – bis hin zu stinknormalen Lichterketten.
    Der Vater der Familie hält die Tochter an der einen Hand, den Sohn trägt er auf seinen Schultern, damit er die Sterne „da oben am Himmel“ noch genauer betrachten kann und ab und zu streichelt er seiner Frau, die ihren Kopf an seine rechte Schulter neben das Bein ihres Sohnes angelehnt hat, über den Rücken – und hofft, dass sie bloß nicht auf die Idee kommt, ähnlich leuchtende und blinkende Accessoires im nächsten Winter in ihren Garten zu stellen.
    Nach der Ankunft wird wieder eine viertel Stunde damit zugebracht die Kinder auszuziehen und in trockene und warme Klamotten einzuwickeln und im Anschluss, sich selbst mit neuer Kleidung, reichlich Decken und heißem Tee zu versorgen.
    Einige Zeit später steht das zur freudigen Überraschung aller nicht angebrannte Käsefondue auf dem Tisch und selbst beim Richten der als Beilage gedachten Oliven, getrockneten Tomaten, Trauben und verschiedensten Chili- und Paprikasaucen, bei dem natürlich beide Kinder kräftig mit anpacken wollten – ist nur gefühlt die Hälfte neben die Schälchen getropft. Nun sitzen alle gemütlich am Tisch, betrachten die Flamme und den darüber fixierten Topf, in dem der Käse vor sich hin brutzelt – und erst jetzt fällt auf, dass man am Morgen in der ganzen Weihnachtstrubelhektik ganz vergessen hatte, das Baguette einzukaufen und stattdessen zwei Mal in das Süßigkeitenregal gegriffen hatte. Da sich Schokolebkuchen, von denen man nun die doppelte Menge hat, jedoch nicht gerade gut mit zähflüssigem Käse und Oliven kombinieren lassen, wird eben noch schnell das Knäckebrot auf den Tisch gestellt, das man noch schnell aus der hintersten Ecke des Brotkorbs hervorzaubern kann – Lecker! Es ist doch immer wieder erstaunlich, auf welch tolle Gerichte man ganz aus Versehen stößt. Selbst den Kindern schmeckt es vorzüglich – obwohl sie gar nicht wirklich viel vom Essen mitbekommen – sie sind in ihrer Fantasie viel zu sehr damit beschäftigt, sich bereits jetzt mental auf die Geschenke einzustellen, die sie bald bekommen werden. Denn der Zeitpunkt der Weihnachtspräsenteübergabe rückt immer näher.
    Als der Tisch abgedeckt ist, halten die Kinder noch ihr Flötenkonzert –wahnsinnig grandios – es sind sogar schon zwei richtige Töne mehr (und damit doppelt so viele) als im letzten Jahr dabei – wenn das so weitergeht, wird man in fünfzig Jahren wahrscheinlich sogar erahnen können, dass es sich bei dem Lied um „Stille Nacht, heilige Nacht“ handeln soll. Im Anschluss darf sich der Vater schließlich in sein rot-weißes Gewand werfen, seinen Schnurbart anlegen und seine Stimme um einige Oktaven nach unten verstellen – noch ein Grund, der dafür spricht, über Weihnachten in den Skiurlaub zu fahren – im Hotel, in dem man sich einquartiert, wird die Weihnachtsmannrolle meist bereits durch einen Angestellten abgedeckt, sodass man sich nicht selbst in diese kratzenden Klamotten schmeißen muss, die in ihrem Versteck auf dem Dachboden wahrscheinlich schon die Bekanntschaft mit so einigen Flöhen gemacht haben.
    Egal – manchmal kann es doch auch ganz witzig sein, sich in einen Weihnachtsmann zu verwandeln. Insbesondere, wenn man es schafft, sich auf den wenigen Metern, die von der Eingangstür zum Wohnzimmer zurückzulegen sind, drei Mal auf den Boden zu fallen – vielleicht hätte sich der Aufwand ja doch gelohnt, das XL-Gewand an den Enden etwas zu kürzen.
    Es ertönt die Glocke und die routinierte Zeremonie beginnt. Ob sie auch alle schön artig waren – ja, natürlich alle außer dem Papa, der jetzt ja schon wieder verschwunden und deshalb selbst daran schuld ist, wenn er wie immer leer ausgeht. Sie schauen in die glänzenden Augen der Kinder, als sie ihre Geschenke unter den Teil des Baumes gelegt bekommen, den jeder selbst geschmückt hat, das Erstaunen, wie es der Weihnachtsmann auch dieses Mal wieder wusste, wer tatsächlich welchen Teil des Baumes verziert hatte – und das gespielte Mitleid mit dem Vater, für den ganz zum Schluss dann doch noch etwas dagelassen wird – nur nach langer und umständlicher Argumentation des Verkleideten, um nach dem ganzen Aufwand nicht unbeschenkt zu bleiben.
    Wenn der Vater- Weihnachtsmann sich letztendlich mit einem „Hohoho! Ich muss jetzt gehen, denn die anderen Kinder warten natürlich auch noch“ verabschiedet hat und er es im Anschluss daran geschafft hat, sich in Rekordzeit aus seinem Kostüm zu schälen und dieses wieder tief genug auf dem Dachboden zu vergraben, wo es nun ein weiteres Jahr lang schlummern und sich mit weiteren Flohfamilien anfreunden kann, geht das Geschenkeauspacken los. Die Kinder reißen ihre Geschenke auf, so schnell, dass meist schon bevor die Eltern überhaupt die Schleife ihres ersten Pakets öffnen können, die Schreierei losgeht.

    Die Puppe der Tochter trägt eine grüne statt einer blauen Mütze, und der neue Anhänger für die Lokomotive des Jungen befördert Kohle statt Stahl. Die Eltern seufzen kurz auf, atmen einmal tief ein und wieder aus, um sich etwas zu beruhigen und beschäftigen sich im Anschluss eine halbe Stunde lang damit, den beiden Kindern die Vorzüge ihres neuen Hab und Guts zu zeigen, bis sich diese schließlich mit den kleinen Unterschieden zu ihrem eigentlichen Wunschobjekt abgefunden haben. Die Tochter hat die Mütze inzwischen mit Filzstiften vollkommen verunstaltet und der Sohn legt ein kleines Stahlstück auf den Anhänger – keine Ahnung, was ihm daran so wichtig ist – Hauptsache er ist nun damit beschäftigt, seiner Eisenbahn dabei zuzuschauen, wie sie immer und immer wieder ihre Runden um den Weihnachtsbaum kreist und versucht währenddessen die beste Position herauszufinden, in der das Stahlstück am seltensten herunterfällt. In dieser Zeit schafft man es dann auch die eigenen Geschenke auszupacken, tut überrascht, über Dinge, die man sich schon lange gewünscht hat und bei denen es eigentlich mehr als offensichtlich war, sie nun unter dem Weihnachtsbaum vorzufinden (in den meisten Fällen hat man sie sogar noch selbst eingekauft und nur den Kassenbong dem anderen herübergeschoben) und freut sich natürlich wahnsinnig über das großartige Mobile, das die Kinder im Kindergarten extra für Weihnachten gebastelt haben: Ein Gehänge aus undefinierbar zusammengebastelten Papieretwassen – unglaublich modern. Lässt sich bestimmt in ein paar Jahren als zeitgenössisches Kunstwerk versteigern.
    Die Zeit vergeht nun natürlich viel zu schnell und die Kinder sind am Ende doch traurig darüber, ihre neuen, zu Beginn doch eigentlich so schrecklichen Spielzeuge, alleine zu lassen, sehen es dann aber doch ein, dass eine gewisse Gefahr darin besteht, dass sie kaputtgehen, wenn sie direkt mit in ihr Bett genommen werden würden, sodass sie sie schweren Herzens dann doch alleine unter dem Weihnachtsbaum zurücklassen. Nach der weihnachtlichen Gute-Nacht-Geschichte sitzt man am Ende des Tages noch einmal vor dem Tannenbaum, bewundert die schön bunt geschmückten Zweige, lauscht dem knisternden Feuer und denkt darüber nach, was man heute eigentlich gemacht hat. Als man zu dem Schluss „Nichts weiter Sinnvolles“ kommt, ist man schließlich vollkommen zufrieden und weiß, dass man es sich verdient hat, auch jetzt nichts weiter Sinnvolles zu tun.
    Genau so ist Weihnachten!!! – Oder eben ganz anders!

  36. Die schöne Adventszeit
    Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Nora Notizia. Ich bin 10-einhalb Jahre alt, gehe in die fünfte Klasse, wohne in der Thorstenstraße 99 in Griesheim und gehe an die Griesheimer IGS in der Manfred-Mellen-Straße. Es war Dienstag und die Woche des vierten Advents. Ich kam erschöpft von der Schule nach Hause, aß Mittag mit meinen zwei Geschwistern und meiner Mutter (mein Vater arbeitete bis spät abends) und setzte mich an meine Hausaufgaben: Heute hatten wir mal wieder eine Extra-Hausaufgabe aufbekommen, von unserer Englischlehrerin – Frau Kloß. Wir sollten eine Seite von uns und unserer Familie schreiben (mit uns meine ich natürlich meine Klasse). Naja, wie dem auch sei, um 15 Uhr war ich endlich auch noch mit den „restlichen“ Aufgaben fertig geworden. „Endlich.“ Ich atmete tief durch. Oder besser gesagt: Ich war gerade dabei tief durchzuatmen oder wollte das gerade: „Endlich fert …“ Doch noch ehe ich fertig war, (damit, den Atemzug zu beenden und mit dem Atemzug die Hausaufgaben erst richtig zu beenden), klatschte es an meine Fensterscheibe. Ich schreckte aus meinen Gedanken: „Was …. War denn … was, was … was denn? War was …. Um Himmels Willen! Was war denn das?!?“
    Ich erhob mich zögernd von meinem Schreibtischstuhl. Der Schreck hatte mich so entkräftet, dass ich erstmal noch etwas trinken musste. Nun ging ich langsam zum Fenster. Und guckte hinaus. Und guckte. Und sah nichts. Einfach nichts! Fast etwas enttäuscht wollte ich mich vom Fenster abwenden. Doch da klatschte es endlich wieder an meine Fensterscheibe. Gerade war ich dabei, das Glas Wasser, aus dem ich vorhin schon getrunken hatte, an meine Lippen zu führen und leise etwas zu trinken. Bedacht, denn ein bisschen Angst hatte ich schon. Als es dann aber wieder klatschte, fiel ich fast um vor Schreck. Aber nur fast. Denn stattdessen spuckte ich alles wieder aus, was ich gerade runterschlucken wollte.
    Eine schöne Pfütze war entstanden, verziert mit den Glasscherben meines Glases, was mal ein Glas war und ich runterfallen ließ. Klirr! Einen kurzen oder langen Teil ersparen wir uns nun, kurz oder lang, je nachdem wie es der Leser nimmt. Meiner Meinung nach lang: Ersparen wir uns den Selbstkampf den ich gegen mich kämpfte und mich gegen ich, das Fenster aufzumachen. Jedenfalls machte ich das Fenster auf. Nach langer Zeit – meiner Meinung. Fragt mich nicht, wie es kam.
    Aber so, so fing es erst richtig an. Jedenfalls war das Fenster auf. Und das kleine schwarze Etwas, was so schnell trippelte, auf dem Ast oder Strauch, der zum Fenster führte (ich wohnte im Erdgeschoss), Anlauf nahm um wieder gegen die Fensterscheibe zu rennen oder prallen. Aber er prallte nicht gegen die durchsichtige Wand, sie war nicht mehr an dieser Stelle. Das schwarze Ding flog oder sprang durchs Fenster, wunderte sich und stieß einen letzten Fluch aus, bevor es auf den Boden knallte. Lange Zeit geschah nichts. Ich hörte nur meinen kleinen Bruder von der Toilette rufen: „Fertig. Kacki gemacht!“
    Fast hilflos starrte ich auf das Etwas. Dann regte es sich und ich hörte leise Verwünschungen: „Ooh, Du alter Idiot. Musstest Du das jetzt tun? Verdammte Weltreise! Mein schöner Kopf! Warum musste es denn plötzlich weg sein. Zum Misthaufen mit der Reise, zum … Naahrrr!“ „Was für eine Reise?“, fragte ich und wunderte mich über mich selber und über meine Neugierde. Mir kam „das Etwas“ gar nicht erst unheimlich oder komisch vor, denn ich las so oft Fantasie-Romane mit Feen, Einhörnern, fünfköpfigen Drachen, Elfen und Kobolden, dass mir dieses Wesen gar nicht erst merkwürdig oder erstaunlich vorkam. Nun blickte es erschrocken zu mir hoch. „Ooh, ich wusste nicht, dass Du … ach, zum Teufel mit dem Höflichen. Warst Du der Idiot, der mich durch das Verschwindenlassen der Wand zum Boden beförderte?“ Beschämt schaute ich auf den Boden. „Jaaa, … nnein, … jaaa, nein …. Jji…“, stammelte ich verlegen: Es tat mir leid. Aber auch ihm tat es leid (ich sage „ihm“, da das Wesen aussah wie ein Miniaturmensch, wie ein alter Mann). Er entschuldigte sich für sein unfreundliches Benehmen und verwickelte mich in ein Gespräch, was so schien, als ob es eine Selbstverständlichkeit wäre, dass Unwirklichkeit und Realität einen Plausch halten würden, wie gute alte Freunde.
    Es stellte sich heraus, dass der „Miniaturmensch“ um die halbe Welt reisen wollte, was ich natürlich für irrwitzig hätte halten müssen, es aber ihm glaubte und abnahm. Er hatte wohl bei dem Aufprall auf den Boden seinen Namen vergessen, denn dessen konnte er sich nicht mehr entsinnen. Auch fragte er nun mit der zuckersüßesten Stimme, die ich je hörte: „Darf ich bei Dir bleiben?“
    Auf diese Frage hatte ich nur gewartet und auf sie gehofft. Natürlich durfte er es: Er bekam sogar einen Sonderplatz. Nämlich in meinem schönen Puppenhaus. Ich richtete ihm eine richtige Wohnung ein. In der Nacht fiel er andauernd aus dem Bett und zeterte riesig. Ich war kaum ausgeschlafen. Am nächsten Tag nahm ich ihn mit in die Schule. In der letzten Schulstunde kam unser neuer Erdkundelehrer. Er sollte für ein halbes Schuljahr unsere Lehrerin vertreten, die ein neues Kind bekommen hatte. „Stellt Euch nun bitte vor …“ Derzeit redete ich mit dem Kobold, der unentwegt plauderte. „Kannst Du Dich wirklich nicht an Deinen Namen erinnern?“ „Nein!“ „Nun ich denke nun bist Du an der Reihe, äh, würdest Du bitte mit dem Selbstgespräch aufhören und stattdessen Deinen Mitschülern zuhören und mir antworten, wenn ich Dich um etwas bitte?“ Das war der Lehrer mit zunehmend schärfer werdendem Tonfall.
    Währenddessen beantwortete ich meinem im Ranzen versteckten Gesprächspartner mit einem Nicken seine Frage: Der Lehrer nahm das Nicken dankbar an, in dem Glauben, ich hätte seiner Standpauke zugehört und ihr still recht gegeben, würde ihm nun seine Frage beantworten. Aber ich fragte den Kobold immer noch – schon hoffnungslos – nach seinem Namen, im Flüsterton. Das hörte und bemerkte der „Neue“ zum Glück nicht. Die Klasse hatte schon gelangweilt die Köpfe von mir abgewandt, wie auch der vor Wut glühende Lehrer.
    Genau in diesem Moment, wo keiner mehr sehen konnte, dass nicht ich es war, der sprach, viel zu laut und mit einem Seufzen aus meinem Schulranzen: „Meinen Namen habe ich vergessen.“ „Äh, wie bitte?“ Nun waren alle Augen auf mich gerichtet. Erst jetzt kriegte ich mit, was um mich herum geschah. Aber ich wusste ja nicht im Geringsten, was der Lehrer von mir wollte. Ich wurde rot, mir wurde warm, ich begann zu schwitzen und konnte keinen vernünftigen Gedanken mehr fassen, am liebsten wäre ich im Boden versunken. Ich tat so, als ob ich fieberhaft überlegen würde, doch überlegte nur eines: Wann lassen sie mich endlich in Ruhe?
    Endlich Schulschluss. Ich radelte nach Hause und dachte darüber nach, was ich meiner Familie zu Weihnachten schenken sollte. Der gute Herr ohne Namen war im Ranzen eingesperrt und aß nicht nur meine Schulbrote auf, sondern gleich auch noch die Brotdose. Leider merkte ich das erst hinterher. Zwei Tage vergingen ohne Probleme, wenn man von den weiteren 14 Pannen absieht.
    Am Freitag dann, blieb der kleine Opa zu Hause und verkündete, dass er nichts anfassen würde. Zu Hause probierte er dann gegen die Regeln aus, ob das Wasser im Klo gut schmecke und fiel dabei in die Toilette. Zwei Minuten später endete dann der Schulunterricht. Ich radelte nach Hause und war exakt sechs Minuten später in der Wohnung. Zum Glück war meine Mutter noch bei einer Dienstbesprechung und meine zwei Zwillingsbrüder bei einem Kindergeburtstag, so dass sie nichts davon mitkriegen konnten, was bald geschah. Und niemand außer ich wusste auch zum Glück von der Existenz des kleinen Mannes. Naja, also konnte ich auch laut nach ihm rufen: „Wo bist Du?“ Die Antwort war – „nichts“. Oder besser gesagt: Nichts wurde mir geantwortet. Ich rief und rief, schaute in mein Zimmer, in das und unter das Puppenhaus, im Wohnzimmer in den Schränken, auf dem Teppichboden, unter dem Teppich: Nichts! „Hoffentlich ist ihm nichts passiert!“, sagte ich zu mir und schaute schließlich ins Bad. Aber was sollte er denn da schon tun? Erst jetzt merkte ich, wie dringend ich nun auf die Toilette musste. Der Deckel war schon auf. „Komisch, diese Blasen in der Toilette, wer lässt denn da die Seife reinfallen?“ Aber Seife gurgelt und blubbert ja normalerweise nicht. Ich guckte genauer hinein. „ Komisch, was bewegt … Uupsi!“ Erst jetzt begriff ich. Da unten rang das Wesen nach Luft. Es konnte nämlich nicht schwimmen.
    Vor Schreck hätte ich fast die Spülung gedrückt. Mit dem Arm kam ich nicht zum Männchen. Also versuchte ich es mit der Klobürste. Aber damit schob ich ihn nur weiter hinein. Nun nahm ich den Besen, und tatsächlich konnte der Mann sich festhalten. Der Besen war nun aber im Klo eingeklemmt. Ich zog mit aller Kraft und der Besen schnellte heraus. Ich flog auf den Badezimmerboden, der Besen auf mich – und das Badezimmer war überflutet. Ich war anfangs stinksauer. Was hätte da denn alles passieren können!
    Auch wenn die Stimmung überall sonst um mich herum jetzt immer weihnachtlicher wurde, musste ich den Herrn dann aus Wut irgendwohin stopfen. Meine Geschwister zogen ihn dann am 23. im Adventskalender.
    Aber sie glauben nicht mehr an ihn. Und wenn ich ehrlich bin: Ich will es auch nicht.

    Friedemann Weber, 12 Jahre alt, 7. Klasse, Sophienschule, geschrieben zunächst als Hausaufgabe in der fünften Klasse, hier die zweite Überarbeitung vom 24.12.2016

  37. Vorfreude inklusive

    „Ich bräuchte ganz dringend noch schnell einen Weihnachtsbaum!“ – „Warten Sie bitte einen Moment…“
    „Eine Unverschämtheit ist das – alle Christbaumkugeln sind beim Transport kaputtgegangen! Ich verlange umgehend eine Rückerstattung, und zwar sofort!“ – „Einen Augenblick Geduld bitte…“
    „…“ – „Hallo? Haallooo?“
    „Aaalle Jahre wiiiedeeer kommt daaas Christuskind. Auf die Erde niiiedeeer, wo wiiir Menschen sind! Hört -“ – „Entschuldigung, Sie sind hier glaube ich falsch…“ – „Mama! Mama, da ist gar nicht Oma Bertha dran!“
    „Einen wunderschönen guten Tag, bitte schicken Sie mir noch zwei weitere Flaschen Champagner, WEIL MAN BEI DIESEM SCHEISSKERL EINFACH NUR NOCH TRINKEN KANN!!! GLAUBEN SIE ETWA, ER HÄTTE SICH MAL NACH SEINER FAMILIE ERKUNDIGT? NICHTS HAT ER GEMACHT, NICHTS! DIESER VERDAMMTE LACKAFFE! ICH PASSE AUF DIE KINDER AUF, STEHE TAG UND NACHT IN DER KÜCHE – UND ER???“ – „Beruhigen Sie sich bitte, gleich bin ich wieder für Sie da…“
    „Wuffi braucht jeden Tag dreimal Auslauf, hörst du, Bodo? Genau dreimal! Und gib ihm ja nicht wieder etwas von dem Weihnachtsbraten, ich warne dich, mein Gutster! Und dass er mir ja nicht den Christbaumschmuck zerstört! Und bitte achte besonders auf die Ming-Vase im Flur, das ist ein echtes Sammlerstück! Und –“
    „Fie Fuffe ift viel fu farf! Von fen Trüffeln müffen unfefingt mehr fein! Fie hafen fie Ganf nifft durff gefraten! Fie Kirfen follten paffiert unf nifft faniert werfen! Fie Marfifankartoffeln find nifft grof genug!“ – „Essen Sie das etwa jetzt schon?“ – „Ja! Muff ja teften, wie’f fo fmeckt! Unf defhalf feftelle iff allef erneut, afer fiefmal rifftif!“ – „Ich habe hier noch jemanden in der Leitung, warten Sie bitte kurz…“
    „Ach herrje, jetzt habe ich ganz die Girlande vergessen! Wo habe ich nur meine Brille hingelegt… also bitte diese drollige Schneemanngirlande noch hinterherschicken…“ – „Alles klar, das machen wir. Sie müssten sich nur ganz kurz gedulden…“
    „Nein, ruf da nicht an! Die haben uns doch letztes Jahr so abgezockt!… Na jetzt habe ich aber schon gewählt… leg sofort wieder auf, am Ende hört das noch jemand!“
    „ENGEL!“ – „Wie bitte?“ – „Habe ich jetzt gewonnen?“ – „Äh… nein, Sie haben sich verwählt…“
    „Hey Süße, ich wollte mich nur nochmal bei dir bedanken für das tolle Weihnachtsessen. Wenn du magst, könntest du gern vorbeikommen. Dann machen wir’s uns kuschelig und du kannst ein bisschen von mir naschen…“

    Mit einem lauten Knall legt Jenny den Hörer auf. Sie greift sich an die Schläfen und massiert sie kurz. Das bereits wieder klingelnde Telefon ignoriert sie.
    „Hi Jenny!“
    Sie blickt auf und schaut in das Gesicht ihres Kollegen. Dieser trägt eine Weihnachtsmütze auf dem Kopf und grinst sie an. In der Hand hält er ein Dokument, welches er ihr entgegen streckt.
    „Was willst du, Steve?“
    „Du weißt schon, dass du die Weihnachtsfeier von Herrn Winkler bis morgen organisiert haben musst?“
    „Bist du etwa mein Chef? Nein! Ich habe echt keinen Bock mehr!“
    Steve schaut sie irritiert an.
    „Aber… dieser Auftrag bedeutet DIE Aufstockung für unser Weihnachtsgeld! Dieser Winkler schwimmt doch nur so im Geld! Den könnten wir so richtig abziehen! Und weißt du, was –“
    Abrupt greift Jenny ihre Handtasche und zieht ihre Jacke über. „Macht euren Scheiß doch allein!“
    Damit verlässt sie eilig das Büro. Einen Moment lang herrscht absolute Stille, die Augen aller sind auf Steve gerichtet.
    „Was hat sie denn jetzt schon wieder…? He, nicht gaffen! Ihr habt doch bestimmt noch was zu tun…“

  38. Das schönste Weihnachtsgeschenk
    ——————————————————————–
    Jonathan war in diesem Jahr sechs Jahre alt geworden. Sein kleiner Bruder Jeremia war erst drei.
    Nun wurden die Nächte länger und die Tage kürzer, schon am Nachmittag begann es zu dämmern, der erste Schnee fiel und es wurde kälter. So kalt, dass der Vater den dicken Mantel vom Boden holte und die Mutter noch schnell ein paar warme, fellgefüllte Winterstiefel kaufen wollte. Jonathan begleitete sie durch die schneeweißen Straßen der Stadt. Er sah die vielen geschmückten Fensterläden, in denen Lichterbögen hell erleuchtet auf die Straße hinaus glänzten. Auch in den Augen der Menschen konnte man, wenn man ganz genau hinsah, ein Leuchten erkennen, als würde in ihnen ein Feuer brennen, eine angenehme Wärme sich in ihnen ausbreiten. Dieses Licht war die Vorfreude der Menschen auf das Weihnachtsfest, denn es war der erste Advent.
    Ein buntes Wimmeln und Streben war auf den Straßen, auf denen die Menschen hin und her waberten, bis sich am Abend gemächlich die Stille durch die Gassen zog. Der Schnee auf den Wegen leuchtete dann den letzten Heimkehrenden auf ihrem Weg nach Hause und dämpfte ihre eiligen Schritte. So verging die Adventszeit.

    Vierundzwanzig lange Tage später war es dann soweit: endlich! Der Weihnachtstag gekommen.
    Jonathan hatte eine Woche zuvor im Kindergarten von seinen Freunden gehört, was sie alles geschenkt bekommen würden. Sie erzählten und prahlten mit den tollsten Dingen und teuersten Puppen und größten Autos und lautesten Sirenen und allerlei Zeug. Es entstand ein Wettbewerb darum, wer die tollsten, größten und meisten Geschenke abbekommen sollte. Einer sogar, der hieß Peter, behauptete er würde einhundert Geschenke bekommen. Eine so große Zahl, wie man sie sich kaum vorstellen kann. Jonathan war sich nicht sicher, ob er auch so etwas Tolles erzählen sollte und schließlich entschied er sich dafür es zu tun, obwohl er wusste, dass er lügen musste. Denn seine Eltern waren sehr arm und kauften nur das, was sie zum Leben wirklich brauchten. Also Brot und Butter oder Obst, aber auch ein paar schöne Bücher standen bei Jonathan im Regal in seinem Kinderzimmer. Denn immerhin seien Bücher die Nahrung für die Seele, wie er einmal seinen Vater sagen hörte.
    Nun also prahlte Jonathan damit, dass sein Vater sehr reich wäre und ihm sicherlich etwas ganz Besonderes schenken würde, was kein anderer jemals bekommen könnte, denn sein Vater wäre ein Reisender, der schon überall auf der Welt war und Juwelen besäße und Muscheln und was nicht noch alles Exotische. Alle hörten Jonathan gebannt zu und wurden ganz neidisch und eifersüchtig und wollten am liebsten auch so einen reichen Vater haben. Jonathan, während er so ausschweifend erzählte und im Mittelpunkt des Kreises aus Kindern stand, der ihn nun umgab, bemerkte, dass eine kleine Zuhörerin fehlte. Gerade vor ihr aber wollte er doch so gut dastehen. Das Mädchen, das fehlte, hieß Cécile und saß in einer Ecke, den Kopf auf ihre kleinen weißen Hände gestützt, das Gesicht mit ihren schmalen Fingern verbergend, die Beine dicht an ihren Körper herangezogen. Sie schien ganz still zu sein. Der lautstark erzählende Jonathan geriet ins Stottern, als er sie sah. Er unterbrach seine Rede. Alle anderen schauten ihn erwartungsvoll an und begannen zu murmeln. Sie beratschlagten, was wohl das nächste sei, von dem er ihnen erzählen werde. Doch Jonathan sagte ihnen nichts mehr. Als hätte er seine Sprache verloren, verstummte er und ging langsam aus dem Kreis seiner Zuhörer. Da stand er vor Cécile, die ihren Kopf nicht hob und hörte ein leises Schluchzen. Jonathan wusste nicht, was er tun sollte und da alle anderen Kinder immer noch zu ihm schauten, fürchtete er sich davor, Cécile zu fragen, welcher Kummer es ist, der sie so traurig macht. Schließlich ging er stumm davon.

    Wenig später wurden alle Kinder von ihren Eltern aus dem Kindergarten abgeholt und gingen nach Hause. So auch Jonathan. Er dachte noch lange an diesem Tag an das kleine Mädchen in der Ecke. In dieser Nacht schlief er ganz unruhig und drehte sich von einer Seite auf die andere, träumte schlecht und erwachte ganz müde am nächsten Morgen. Was hatte das alles zu bedeuten? Warum stimmt etwas nicht? Er hatte ein ungutes Gefühl, ein Grummeln im Magen, das ihm den Appetit raubte. Am nächsten Tag wollte er gar nichts essen, sondern viel lieber herausfinden, warum etwas so falsch war gestern im Kindergarten. Hätte er sich anders verhalten können? Wovor fürchtete er sich? Und warum weinte Cécile? Was machte sie so traurig? Es war Samstag und Jonathan musste sich bis zum Montag gedulden, um vielleicht eine Antwort auf seine Fragen zu finden.

    Als Jonathan am Montag früher als üblich in den Kindergarten kam, wartete er gespannt auf Cécile. Es war bereits nach Neun und sie war immer noch nicht gekommen. Jonathan wurde ungeduldig. Schließlich war es zehn Uhr. Jonathan musste einsehen, dass Cécile heute nicht mehr kommen würde. Vielleicht war sie krank? Enttäuscht kehrte er am Nachmittag nach Hause. An den anderen Tagen der Woche verlief alles genauso. Cécile kam nicht in den Kindergarten. Sie blieb verschwunden. Jonathan wurde traurig aber nun stand das Weihnachtsfest vor der Tür und zu Weihnachten sollte man doch nicht traurig sein. Alle waren fröhlich, besuchten den Weihnachtmarkt inmitten der kleinen Stadt und freuten sich auf die Weihnachtsgeschenke und die Weihnachtsgans. Also beschloss Jonathan, wenigstens am 24. Dezember die kleine Cécile zu vergessen, um wieder fröhlich zu sein. Aber ganz so einfach war das nicht. Denn immer noch rumorte es in ihm.

    Am Heiligen Abend besuchte Jonathan mit seinem kleinen Bruder Jeremia und seinen Eltern den Weihnachtsgottesdienst in der kleinen Stadtkirche St. Petri. Der Pfarrer sprach auch von einem Geschenk. Ein Geschenk, das Gott an alle Menschen sandte und das Jesus Christus hieß. Ein kleines Baby, das vor zweitausend Jahren in Windeln gewickelt in einem Stall geboren wurde. Jonathan verstand noch nicht so recht, was das für ein seltsames Geschenk sein sollte aber der Pfarrer meinte, dieses Kind würde alle Menschen retten. Aber wovor nur? Jonathans Verwirrung wurde immer größer.

    Am Abend gab es zu Hause ein prächtiges Festessen, mit Gans und Klößen und Rotkohl. Dann sang die Familie gemeinsam viele schöne Weihnachtslieder unter einem bunten Tannenbaum. Nun aber sollte endlich die Bescherung folgen. Die Mutter schickte den Vater dazu ins Schlafzimmer: „Nun hol doch bitte die Geschenke für Jonathan.“ Als er mit einer riesigen Tüte zurückkam, gab es ein großes Hallo und Jonathan begann damit alle Geschenke auszupacken. Als er damit fertig war, schaute er sich um und fragte verwundert:
    „Aber wo ist die Autorennbahn aus dem Schaufenster, die ich mir gewünscht hatte?“
    „Ach Jonathan, die war so teuer, dass wir sie nicht kaufen konnten“, sagte der Vater leise.
    „Freust du dich denn nicht über all die leckeren Plätzchen, Lebkuchen, die Schokolade, den Teddybär, die kleine Spielzeugfeuerwehr und all die runden Haselnüsse?“
    Jonathan wurde wütend.
    „Nein! Ich will die Autorennbahn, alles andere ist blöd!“, schrie er.
    Die armen Eltern, die sich so viel Mühe gemacht hatten beim Aussuchen der leckeren Naschereien und dem kleinen Spielzeugauto waren ganz verzweifelt und traurig, dass sie ihrem Sohn keine Freude machen konnten. Jonathan saß mit hochrotem Kopf beleidigt auf dem Boden. Seine guten Eltern schauten sich ratlos an.
    „Lasst uns doch alle ein schönes Spiel spielen.“, schlug die Mutter vor.
    Doch Jonathan hatte dazu keine Lust. Die Stimmung wurde trüb und alle Versuche Jonathan zu trösten schlugen fehl. Schließlich wurde auch die Mutter wütend und grunzte den Vater an: „Wir hätten eben doch mehr sparen müssen!“
    Der Vater sah sie stumm und erschrocken an und schüttelte unbemerkt ein wenig seinen Kopf.
    „Willst du dazu etwa nichts sagen?“ hakte die Mutter nach.
    Die bösen Worte wurden lauter und Jonathan schaute vorsichtig nach oben. Er konnte sehen, dass Vater und Mutter sehr wütend aufeinander wurden. Letztlich schrien sich die beiden heftig an. Es wurde immer lauter und der Streit erfüllte den ganzen Raum. Jonathans Eltern waren so erregt, dass sie nicht mitbekamen, wie der kleine Jeremia im Nebenzimmer vom lauten Krach erwachte und zu weinen begann.
    Jonathan, dessen Magen sich weit in sich zusammenzog, stand zögerlich auf, ging hinüber und tröstete seinen kleinen Bruder. Er deckte ihn zu und hielt ihm die Hand über seine kleinen Ohren. Jeremia war so müde, dass er tatsächlich wieder einschlief. Jonathan aber verweilte noch ein wenig an dessen Bett und hörte durch die geschlossene Tür dumpf das wütende Geschrei seiner Eltern. Seltsamerweise musste er in diesem Augenblick an die kleine Cécile denken, wie sie schluchzend in ihrer Ecke saß und er sich nicht traute, sie zu trösten. Plötzlich schämte er sich sehr für sein Verhalten und begann, still zu weinen. Dann wischte er sich die Tränen vom Gesicht, hob seinen Kopf und schritt schnurstracks ins Wohnzimmer. Er stellte sich neben seine Eltern. Plötzlich schrie er mit einem kurzen Ton: „Stop!“.
    Und fügte etwas leiser hinzu: „Hört auf!“.
    Die entsetzten Eltern waren so überrascht von Jonathans Worten, dass sie sich ihm sofort zudrehten und mit weit geöffneten Augen anstarrten. Endlich war es still geworden in der Wohnung. Den Eltern von Jeremia aber sah man noch einiges ihrer Erschrockenheit an, als wollten sie Jonathan sagen: „Was geht dich das an? Das ist unser Streit und du hast dich nicht einzumischen. Du bist ja noch ein Kind! Du verstehst das nicht“.
    Dabei gab es den Streit doch nur seinetwegen. Nun aber hatte er Mut gefasst und wollte die eingekehrte Stille nutzen, um sich bei seinen Eltern zu entschuldigen. Doch er wusste einfach nicht, was er sagen sollte. Er war ganz nervös und vergaß all seine Worte. Er brachte keinen Ton heraus.

    „Driiiiiing! Driiiiiing!“ In diesem Augenblick ertönte die Türklingel. Endlich bewegte man sich wieder durch den Raum, die Mutter stieß zur Tür, der Vater horchte gespannt auf und Jonathan war einfach nur erleichtert und atmete tief aus. Alles geriet in Hektik. Wer könnte am Heiligen Abend vor der Tür stehen? Die Mutter öffnete vorsichtig und ließ nur eine schmal Luke, durch die sie hinaus auf den Flur spähte. Kurz darauf kam sie kreidebleich zurück ins Wohnzimmer und sagte leise: „Jonathan, es ist für Dich.“
    Völlig erschrocken zuckte Jonathan zusammen: „Für mich? Wer ist es denn?“
    Die Mutter stammelte nur noch: „Ich, ähm…ich weiß es nicht.“ Jonathan schlich vorsichtig zur Tür. Da sah er doch tatsächlich einen großen bärtigen Mann in einem weiten roten Mantel eingehüllt, voller Schnee auf der Kapuze und mit allerlei grünen Zweigen an seinen Seiten und Geäst im Gesicht. Seltsam sah der aus. Jonathan dachte nach und sagte schließlich: „Hmm…also ich glaube ja nicht an den Weihnachtsmann!“
    Der Bärtige erwiderte: „Dann glaubst du auch nicht, dass ich ein Geschenk für dich habe, oder?“
    „Nein, wie kannst du ein Geschenk für mich haben, wenn du mich gar nicht kennst? Ich habe dich noch nie gesehen.“
    „Nun mein Junge, ich kenne dich sehr gut. Und ob du an mich glaubst oder nicht, ich habe trotzdem ein Geschenk für dich.“ Jonathan musterte den komischen Kauz skeptisch: „Aber du hast doch gar keinen Sack und auch keinen Beutel. Wo soll denn bitteschön mein Geschenk sein? Ich sehe es nicht.“
    „Nun, ich habe es nicht bei mir. Es wartet aber schon lange auf dich. Du musst nur mit deinen Eltern hinaus in den Schnee gehen und die kleine Hafengasse entlang, dann wird dir in fetten Buchstaben ein Engel begegnen. Du musst ihn nur erkennen.“

    Nachdem der fremde Waldmensch diese Worte gesagt hatte war er so schnell verschwunden, wie er aufgetaucht war.
    „Ein seltsamer Bursche“, dachte Jonathan, aber warum sollte er nicht nach draußen gehen und schauen, was dieser alte Mann gemeint hat. Vielleicht würde er ja doch noch seine Autorennbahn bekommen? Er wollte sich mit seinen Eltern auf den Weg machen und sei es noch so kalt da draußen. Natürlich brauchte Jonathan einige Überredungskünste, um seine Eltern dazu zu bringen, ihn zu begleiten. Aber als er sagte, dass er auch alleine gehen würde und schon seine Jacke anzog, riefen die Eltern doch noch die Nachbarin an, die sich dazu bereit erklärte, solange auf Jeremia aufzupassen.

    Schließlich zogen alle drei ihre Stiefel an und verließen das Haus in Richtung Hafengasse. Der kalte Wind biss ihnen ins Gesicht und die dicken Schneeflocken bedeckten ihre Augenlider. Doch bald kamen sie zur Hafengasse, die der seltsame Mann beschrieben hatte. Jonathan schaute sich um und erkannte weiter hinten auf der rechten Straßenseite ein kleines Häuschen.
    »Lasst uns dort nachschauen«, sagte Jonathan zu seinen Eltern, während er ihnen schon weit vorauseilte. Vor dem Haus angekommen, entdeckte Jonathan einen hölzernen Zaun, an dem ein Briefkasten befestigt war und da las er auf einem Schild neben dem Briefkasten groß und deutlich: „ENGEL“. Fragend drehte er sich zu den etwas zurückgebliebenen Eltern um. Sie nickten. Jonathan drückte vorsichtig dreimal kurz den Klingelknopf und hielt den Atem an. Der eisige Wind pfiff ihm durch die Nase. Nach einigen Sekunden öffnete sich langsam ein Spalt an der Haustüre und ein dünner Lichtstrahl fiel auf den Rasen vor dem Haus.
    Ein kleines Gesicht lugte aus dem Türspalt nach draußen. Jonathan erkannte nicht sofort, wer ihn da anblickte. Dann aber entdeckte er, dass die Augen, die dort vorn leuchteten, tatsächlich Céciles Augen waren und da konnte ein Lächeln nicht mehr verbergen. Cécile, natürlich! Sie heißt doch Engel mit Nachnamen! Das also meinte der wunderwärtige Waldmensch. Cécile, ebenso verwundert wie Jonathan, wusste nun auch nicht gleich, was zu tun sei, doch glücklicherweise kam bald ihre Mutter zu ihr und öffnete die Türe nun endlich ganz.
    „Hallo Jonathan“, sagte sie mit freundlicher Stimme.
    „Ich habe dich schon erwartet.“
    „Guten Abend Frau Engel“, entgegneten Jonathans Eltern, die dem sprachlos gewordenen Jonathan halfen ein paar mutige Schritte in Richtung des Hauses zu gehen, vor dem Cécile mit ihrer Mutter stand.
    Jonathan und Cécile sahen sehr überrascht aber auch sehr froh aus. Céciles Mutter bat die Gäste herein. In der gemütlichen Stube angekommen erzählte man sich allerlei Geschichten vom vergangenen Jahr und Jonathan konnte endlich Zeit mit Cécile verbringen und herausfinden, warum sie im Kindergarten so traurig war. Sie erzählte Jonathan, dass sich ihre Eltern in diesem Jahr getrennt hatten und nicht mehr zusammen wohnten und ihr einziger Wunsch zu Weihnachten bestand darin, dass sie wieder zusammenkommen. Leider hat sich dieser Wunsch nicht erfüllt und so machte sie das Gerede von den ganzen Geschenken damals im Kindergarten sehr traurig. Jonathan tat es nun sehr Leid, dass er sich so aufspielen und prahlen musste. Er begriff, dass es nicht auf die Art der Geschenke ankommt, die man sonst so zu Weihnachten bekommt, sondern noch viel mehr auf die Menschen, mit denen man zusammen sein, singen, spielen und erzählen kann. Das ist doch das Schönste, wenn man liebe Menschen um sich weiß, die einander gern haben und sich gut verstehen. Und nun verstand Jonathan auch, welches Geschenk es war, eine Familie zu haben und am Heiligabend bei Cécile zu sein, um ihr damit eine Freude zu machen. Denn so war sie mit ihrer Mutter nicht mehr allein, sondern alle feierten gemeinsam und konnten wirklich fröhlich sein. Jonathan hielt Cécile an der Hand und versprach ihr, dass sie sich nun öfter sehen können und dass er sich nicht mehr vor den anderen aufspielen werde und dass seine Geschichten ohnehin gelogen waren. Es sei doch viel mutiger, die Wahrheit zu sagen, fand Cécile und sie lachte mit Jonathan darüber, dass es ganz schön blöd von ihm war, zu lügen. Schon ganz früh am nächsten Morgen wollten die beiden zusammen mit ihren Familien zur Kirche in die Christmette gehen, danach frühstücken und dann vielleicht einen Schneemann bauen oder was auch immer man aus Schnee so bauen kann. Als es an der Zeit war zu gehen, spürte Jonathan in seinem Herzen, dass er das schönste Weihnachtsgeschenk bekommen hatte. Und das hätte er sich vor ein paar Tagen noch gar nicht vorstellen können.
    Jonathan und seine Eltern verabschiedeten sich und traten ins Freie hinaus. Die Welt um sie glänzte in weiß funkelnden Farben. Es blitzten die kalten Kristalle und im Eis spiegelten sich die glitzernden Schneeflocken. Die hellweißen Bäume wogen sanft im leichten Wind und schüttelten ab und an eine Ladung ihrer weißen Decke auf die Erde, wo sich in unregelmäßigen Abständen einige Schneetürmchen bildeten. Und durch all diese Winterhügel und Gässchen von Schnee hindurch schlenderte Jonathan ohne Ziel vor sich hin und stellte sich den Schöpfer dieser wunderschönen weißen Welt vor, die ihn umgab und inmitten er selbst, ein bunter Fleck von Lebendigkeit, heiter tanzte und seine Arme weit ausstreckte und er war ganz glücklich. Bald kamen auch seine Eltern nach und gemeinsam spazierten sie durch diese wundersame Nacht, bis sie schließlich wieder zu Hause bei Jeremia einkehrten, der immer noch schlief. Bald taten sie es ihm gleich.
    Plötzlich erwachte Jonathan aus seinem Schlaf. Sein wunderschöner Traum war zu Ende.
    Doch was hörte er da? Die Glocken läuteten in einiger Entfernung und tönten bis in sein Zimmer hinein. Sie riefen ihn zur Christmette! Oh, es war ja schon der erste Weihnachtsfeiertag!
    Die Mutter eilte herbei und wollte ihren Sohn wecken, als dieser schon im Bett stand voller Aufregung und rief: „Wir müssen noch Cécile und ihre Mutter abholen!“ Schnell zog er sich an und ermahnte seiner Eltern zur Eile. Gerade noch rechtzeitig ging man aus dem Haus und als man in die Hafengasse einbog, rannte Jonathan zum Zaun mit der Klingel, auf der ENGEL steht, drückte sie mehrmals und es öffnete sich langsam ein Spalt an der Haustüre und ein dünner Lichtstrahl fiel auf den Rasen vor dem Haus…

  39. Nataschas Weihnachtsengel

    „Ich werde hier noch wahnsinnig!“, schrie ich und trampelte auf dem zerschlissenen Badteppich vor dem Minispiegel herum.
    „Oh, Mann, was ist denn jetzt schon wieder los?“
    Mein Freund Marcus war in ebenso prächtiger Stimmung wie ich. Kein Wunder. Seit zwei Tagen saßen wir allein auf dieser Skihütte fest. Schneekatastrophe statt Weihnachtsidylle.
    Ich stapfte ins Wohnzimmer, wo Marcus vor dem Fernseher hockte. Zum Glück hatten wir wenigstens noch Strom.
    „Bei diesem Funzellicht kann ich mich nicht schminken“, regte ich mich auf. „Ich hatte dir gesagt, ich will ein Bad mit Fenster.“
    „Da ist doch eins.“
    „Das Ding ist kleiner als ein Buch!“
    „Du weißt, was ein Buch ist?“, entgegnete er boshaft. „Ich dachte, du kennst nur Klatschzeitschriften.“
    Ich funkelte ihn an. „Du bist so ein mieser Mistkerl.“
    Marcus seufzte und schaltete den Fernseher leiser. „Hör zu, ich finde es auch ätzend, hier eingeschneit zu sein. Und es tut mir leid, dass du nicht genug Licht hast, um dich anzupinseln.“
    Ich ließ mich auf den hässlichen Sessel fallen und verschränkte beleidigt die Arme. „Mein Magen knurrt.“
    Bevor wir im Ort etwas hätten kaufen können, waren wir vom Schnee überrascht worden. Seit zwei Tagen lebten wir von Äpfeln, Crackern und Käse. Und selbst davon war kaum noch etwas übrig.
    „Geh vor die Tür und friss Schnee“, lautete nun Marcus‘ gefühlloser Kommentar.
    Das war zuviel. Ich hatte die Nase gestrichen voll von diesem Weihnachtsurlaub. Mir war kalt, ich hatte Hunger und mein Freund benahm sich so eklig wie noch nie. Von wegen romantische Zweisamkeit! Wenn ich könnte, würde ich sofort hier verschwinden. Allein!
    Ich sah zum Fenster. Davor tropfte es von den Eiszapfen. Stirnrunzelnd stand ich auf und sah hinaus. Es taute! Die Sonne knallte von einem wolkenlosen Himmel. Sofort besserte sich meine Laune. Ich warf einen kurzen Blick zu Marcus. Sollte er doch hier hockenbleiben und sich weiter ‚Santa Claus‘ ansehen.
    Energisch ging ich und packte meinen Trolley. Als ich ihn an Marcus vorbeirollte, sah er auf. „Was hast du denn vor?“
    „Ich gehe. Keine Minute halte ich es noch mit dir in dieser Möchtegern-Skihütte aus.“ Wütend zerrte ich mir meine Lederstiefel an die Füße und schlüpfte in meine Lammfelljacke. „Leb wohl. Und fröhliche Weihnachten.“
    Er lachte. „Bis gleich, Natascha. Weit kommst du eh nicht.“
    Das würden wir ja sehen! Mein Trolley und ich traten über die Schwelle, dann knallte ich die Holztür zu und sah mich um.
    Was für eine gottverlassene Gegend! Das nächste Haus war kilometerweit entfernt. Von den Tannen fielen in kurzen Abständen Schneeklumpen auf den Boden.
    Ich stiefelte los. Die Räder des Trolleys hüpften auf dem inzwischen fast schneefreien Kies. An einer Weggabelung hielt ich an. Links war entfernt ein Wald zu sehen, rechts Felder. Ich wandte mich nach links, weil ich mich zu erinnern glaubte, dass wir bei der Ankunft mit dem Taxi durch ein Gehölz gefahren waren.
    Im Wald klatschte Schnee von den Ästen auf mich herab. Meine Jacke war schon bald nass, mein Haar hing herab wie Sauerkraut. Und diese verdammten hohen Hacken brachten mich beinahe um. Dreimal war ich bereits umgeknickt. Frustriert, hungrig und angefüllt mit Selbstmitleid humpelte ich weiter.
    Platsch! Mitten ins Gesicht.
    Ich blieb stehen, wischte mir die kalte Pampe aus den Augen und schrie meine Wut hinaus. „AARGH!!“
    „Haben’s a Problem?“
    Ich schoss herum. Vor mir stand ein kleiner, dürrer Mann mit tief liegenden Augen und Bartstoppeln.
    Ich räusperte mich verlegen. „Äh, wie weit ist es noch bis zum Bahnhof?“
    Er nahm sich den zerknautschten Hut vom Kopf und fuhr sich über das spärliche Haar. „No, so zwei Stunden. Höchstens. Wenn’S umdrehen täten. Sonst mehr, etwa fünf.“
    Also war ich doch in die falsche Richtung gelaufen. Meine eisigen Füße schmerzten, der Trolley schien immer schwerer zu werden und Durst hatte ich auch.
    „Was mache ich denn jetzt?“, jammerte ich.
    „Jo mei, wenn’s mögen, dann kommen’s halt mit. Mei Frau macht grad Essen.“
    Mir fiel ein Stein vom Herzen. „Wirklich? Das wäre wunderbar.“
    „Des is koa Problem net. Sie, Sie hom da wos.“ Er wies auf meine Augenpartie.
    Der Schnee! Ich sah vermutlich aus wie ein Pandabär. Vorsichtig versuchte ich, mit den Fingern die verlaufene Mascara zu entfernen.
    „Und? Geht’s wieder?“, fragte ich blinzelnd.
    „Jo mei“, war die achselzuckende Antwort. „Passt scho.“
    Na dann. Verlegen liefen mein Trolley und ich hinter dem Mann her.
    Bald standen wir vor einem Häuschen, gegen das unsere Skihütte purer Luxus war. Der kleine Mann, der sich als Alois vorgestellt hatte, öffnete mir die Tür. Ich zog den Kopf ein und trat über die Schwelle.
    Seine Frau empfing mich mit einem freundlichen Lächeln. Drei kleine Kinder spielten in dem schlichten Raum und staunten mich an. Einem Jungen lief Rotz aus der Nase. Sein Ärmel wischte ihn weg.
    Wenig später saßen wir sechs eng gedrängt um einen Holztisch, der glänzende Rotzärmel war dicht neben mir. Ich versuchte unauffällig, den Abstand zu vergrößern.
    Alois schnupperte erfreut. „Ah, Linsensuppe. Da haben’s aber Glück“, sagte er zu mir. „Burgls Linsensuppe ist die beste weit und breit.“
    „Loisl, du Schamör“, lächelte Burgl und füllte die Schüsseln.
    Misstrauisch sah ich auf meine hinab. Ich stand zur Weihnachtszeit eigentlich mehr auf Pute und Rotkohl oder auch Gänsekeule mit Klößen. Zögernd tunkte ich meinen Löffel in die dampfende, braungrüne Masse.
    Nachdem ich probiert hatte, musste ich zugeben, dass die Suppe tatsächlich gut schmeckte. In Windeseile löffelte ich die Schüssel leer.
    Nach dem Essen zückte ich mein neues Smartphone, um mir ein Taxi zu rufen. Doch das Schicksal war gegen mich.
    „Wieso hab ich kein Netz?“, rief ich entsetzt. „Alois, darf ich bitte Ihr Telefon benutzen?“
    „Telefon? Sowas gibt’s hier net.“
    Ich riss verblüfft die Augen auf. Das konnte doch nicht wahr sein!
    „Hören Sie, ich muss unbedingt zum Bahnhof.“
    Alois wies in die Dämmerung hinaus. „Heit fährt eh nix mehr. Bleiben’s halt bis morgen. Dann bring i Eahna mit der Kutsch ins Dorf.“
    Ich seufzte resignierend.

    Während der nächsten Stunden wurde mir klar, dass ich noch nie so wohlerzogene Kinder gesehen hatte. Oder ein Ehepaar, das derart liebevoll miteinander umging. Alois und Burgl hatten weder Fernseher noch Internet oder einen üppig geschmückten Weihnachtsbaum, doch sie schienen nichts von diesen Dingen zu vermissen.
    Burgl bereitete mir ein Lager vor dem Kamin, bevor sie und Alois schlafen gingen.
    Noch eine ganze Weile lag ich wach, betrachtete die kleine, mit selbst gebastelten Sternen verzierte Tanne und dachte nach, bis das Prasseln des Feuers mich einschläferte.

    Nach einem deftigen Frühstück stieg ich zu Alois auf die kleine Kutsche, vor der ein Pony mit seinem Geschirr klimperte. Im Wald wehte uns frische würzige Luft und Sonnenschein ins Gesicht.
    An der Weggabelung sah ich zu unserer Hütte hinauf. Aus dem Schornstein stieg Rauch auf. Also war Marcus noch nicht abgereist.
    Ich seufzte ein bisschen in Gedanken an die Gemeinheiten, die wir uns am Tag zuvor an den Kopf geschmissen hatten.
    Ich sah meinen Freund vor mir; seine dunklen Augen, die mich wütend anfunkelten, seine lockigen schwarzen Haare, die er aufgebracht mit der Hand durchpflügte …
    Dabei konnte er so süß sein. Wenn ich an sein zärtliches Lächeln dachte, an seine kräftigen Arme, in denen ich mich so wohl fühlte, wurde mir warm ums Herz. Doch wir bogen nicht ab, sondern fuhren geradeaus weiter, Richtung Dorf.
    Jeder Schritt des Ponys vergrößerte den Abstand zwischen Marcus und mir. Ein merkwürdiges Gefühl. Ich schaute noch einmal zu unserer Hütte hinauf, wandte mich jedoch rasch ab und sah lieber zu Alois, der gut gelaunt die Zügel hielt und vor sich hin pfiff.
    Irritiert stellte ich fest, dass ich ihn beneidete. Um seine Familie, den Umgang miteinander, die Liebe, die aus jedem Wort und jeder Berührung sprach. Früher war es zwischen Marcus und mir doch ähnlich gewesen …
    „Alois, können wir einen kleinen Umweg machen?“, fragte ich.
    Ich hatte einen Entschluss gefasst.

    Eine Stunde später rumpelten wir den Kiesweg entlang. Vor der Hüttentür hielt Alois an. „Brrrr! So, da wären wir.“
    Ich drehte mich zu ihm und umarmte ihn. „Danke für alles. Und denk daran, was wir besprochen haben.“
    „Freilich!“
    Fröhlich stieg ich vom Kutschbock und hob meinen Trolley und eine prall gefüllte Tüte herunter. „Tschüs, Alois!“
    „Pfüat di!“
    Hinter mir knirschte die Holztür in den Angeln. Ich drehte mich um und sah Marcus im Türrahmen stehen. Abwartend musterte er mich.
    Ich holte tief Luft und trat näher. „Na?“
    „Na, du? Wer war denn das?“ Sein Kinn ruckte zu der kleiner werdenden Kutsche.
    „Das war der Alois. Er kommt heute Abend mit seiner Familie zu uns zum Essen.“ Ich hob die Tüte an. „Darf ich reinkommen und kochen?“
    Am knisternden Kaminfeuer berichtete ich Marcus von Alois, Burgl und ihrem einfachen, aber glücklichen Leben.
    „Da wurde mir klar, dass es doch an uns liegt, wie es mit uns weitergeht“, schloss ich. „Es tut mir jedenfalls leid, wie ich mich aufgeführt habe.“
    „Mir auch“, sagte Marcus und nahm mich in den Arm. Zufrieden schmiegte ich mich an ihn.

    Zum Weihnachtsessen gab es Huhn mit Klößen und Rotkohl. Burgl lobte meine Sauce und genoss es sichtlich, sich auch einmal verwöhnen zu lassen.
    Marcus hatte auf dem Dachboden einen Bauernhof aus Holz entdeckt, mit Kühen, Schweinen, Pferden und Hühnern. Während die Kinder damit spielten, tranken wir Rotwein, redeten und lachten, bis Burgl zum Aufbruch drängte, weil die Kinder müde wurden.
    Marcus und ich winkten, bis der Hufschlag verklang. Verträumt sah ich zu den Sternen hinauf. „Lass uns nächstes Jahr wieder hier feiern“, bat ich.
    „Hier?“, fragte Marcus verblüfft. „Ehrlich?“
    Ich nickte. „Das würde mir gefallen.“
    „Mir auch“, lächelte er und gab mir einen langen Kuss.

    ENDE

  40. Depressionen
    Der Weihnachtsmann liegt auf der Couch. Der weibliche Psychiater, Dr. Edwina Hauser, hört ihm aufmerksam zu. Der Zuspruch, der immer mehr abnimmt, macht ihm zu schaffen. Die Menschen wenden sich vom Glauben ab und kümmern sich lieber um die Geschenke, die nur noch voluminöser und teurer werden sollten. Sie stehen im Mittelpunkt und nicht mehr der Ursprung des Glaubens. Der Weihnachtsmann gerät ins Schwärmen, wie es war, als er noch auf Erden wandelte. Ursprünglich wirkte er als Bischof Nikolaus von Myra in der heutigen Türkei, und zwar in der ersten Hälfte des vierten Jahrhunderts. Sein Name bedeutete ursprünglich „Sieger des Volkes“. Während der Christenverfolgung 310 wurde er gefangengenommen und auch gefoltert. Die Legende begann sich zu entwickeln, weil er sein ererbtes Vermögen unter den Armen verteilte. In diese Reihe der Vermögensspender gehören auch die Bischöfe aus dem vierten Jahrhundert, Ambrosius von Mailand und Basilius von Caesarea. Aus diesem Grund entwickelte sich die Geschenkeflut, wie wir sie heute kennen. Wenn man den Berichten Glauben schenken will, werden alleine in den USA heutzutage über sechzig Milliarden Dollars für Weihnachtsgeschenke ausgelegt, was etwa dem Bruttosozialprodukt von Luxemburg entspricht. Der Weihnachtsmann erzählt, wie seine Arbeit immer mehr zunimmt. Begonnen hat alles im Kleinen, im dreizehnten Jahrhundert, wenn man in den Geschichtsbüchern blättert. Noch vor wenigen Jahrzehnten waren die Gaben sehr bescheiden; die Explosion erfolgte im Wirtschaftsboom nach dem Zweiten Weltkrieg. Überdies musste er immer fleissiger werden, denn immerhin bekennen sich gegen zwei Milliarden Menschen zum christlichen Glauben. Die Frage, die oft von Kindern gestellt wird, weshalb man den Wagen am Himmelszelt nicht sieht, wenn er am Heiligabend seine Kreise zieht und von Rentieren gezogen wird, kann auch praktisch beantwortet werden, wie eben eine englische Wissenschaftlerin herausgefunden hat: Bei den vielen Besuchen, die er in dieser Nacht zu absolvieren hat, muss er mit einem Tempo von über zehn Millionen Kilometern pro Stunde unterwegs sein. Bei einer solchen Geschwindigkeit kann das menschliche Auge nichts mehr erkennen. Die Geräusche gehen ebenfalls verloren, denn bei solcher Raserei werden Gebimmel und Schlittengeräusch in einen Bereich verschoben, den unsere Ohren nicht mehr wahrnehmen können. Die Forscherin bezieht sich dabei auf den Doppler – Effekt. Im Zentrum, so spricht die Therapeutin, steht aber nicht nur die Wissenschaft, sondern der Glaube. In Matthäus 17, Vers 20, steht geschrieben: „Wenn ihr zu diesem Berg sagt: Heb dich empor und stürz dich ins Meer, wird es geschehen.“ Sie macht eine kurze Pause: „An diesen Worten müssen Sie sich aufrichten“, fügt sie an. Er schliesst die Augen und denkt nach, nickt und wendet sich an Frau Dr. Hauser: „Ich habe mich gehen lassen, was mir eigentlich widerspricht. Der Herr hat seinen Tod auf sich genommen, um uns zu erretten, und ich verfalle in Schwermut, nur weil nicht alle Menschen – und auch Sie nicht – an mich glauben. Aber: An Gottes Sohn müssen sie in erster Linie glauben und nicht an mich, einen unwürdigen Diener, der im Verhältnis zu ihm nicht einmal so viel wie ein Sandkorn liegt.“ Die Sitzung ist zu Ende. Sie denkt darüber nach, an welcher Krankheit er wohl leidet, da er überzeugt ist, der Weihnachtsmann zu sein. Er erhebt sich und hat etwas an Zuversicht gewonnen. Er begibt sich zum Nordpol, um die letzten Vorbereitungen für den Festtag zu überwachen. Viele fleissige Geister sind am Werk und haben so viel zu tun wie noch nie. Die Ansprüche der Kinder haben sich stark verändert. Heute sind Smartphones, Computer, Laptops, Markenkleider, alle möglichen technischen Gerätschaften auf den Wunschlisten und weniger traditionelles Spielzeug, wie es noch bei den Eltern unter dem Baum lag. Der Weihnachtsmann schaut sich die Bescherung an. Er freut sich nach wie vor an den Stofftieren und Puppen, die von den kleineren Kinder liebkost werden und in den Nächten die Ängste nehmen. Noch immer können viele keinen Schlaf finden, wenn nicht die Lieblingspuppe in den Armen liegt. Er schaut auf die Erde, und ihm wird es warm ums Herz, wenn er Eltern zusieht, die ihren Nachkommen vorlesen und die Augen der Kinderschar zu leuchten beginnen. Das Strahlen auf den Weihnachtsmärkten verhilft dazu, die Stimmung weiter zu heben. Allerdings schockt ihn der Anschlag auf den einen Markt in Berlin; was er noch weniger versteht, ist das im Namen des muselmanischen Gottes dieses ungeheuerliche Verbrechen begangen worden ist. Das Ansteigen der Gewalt bereitet ihm grosse Sorgen. Jesus hat die Gewaltlosigkeit gepredigt. Ihm fällt der Satz ein, dass man die andere Wange hinhalten soll, wenn man auf die eine geschlagen worden ist. Doch von Gewaltexzessen hat sich die Kirche vor noch nicht langer Zeit verabschiedet. Bilder der Inquisition, Hexenverbrennungen, Kriegen zwischen Katholiken und Protestanten und anderer Gräueltaten tauchen vor ihm auf. Es hat lange Jahrhunderte gedauert, bis man sich auf die Wurzeln besonnen hat. Er setzt sich und denkt nach: „Nur die Glaubensinstitution kann in langen Zeiträumen agieren. Politiker müssen auf die nächsten Wahlen schielen. Allerdings ist die Glaubensgemeinschaft so stark, dass sie in zweitausend Jahren alle Stürme überstanden hat. Alle Angriffe sind an ihr abgeprallt, und die Botschaft überstrahlt alles. Ich muss diesen Frieden verbreiten und in alle Stuben dringen; wenn nur einer dann umkehrt und das Glaubensbekenntnis annimmt, ist meine diesjährige Mission mehr als nur erfüllt.“ Die Vorbereitungen sind abgeschlossen. Der einzige Arbeitstag im Jahr steht an. Er schläft zuvor wie selten zuvor. Auch wenn er als Heiliger verehrt wird, so hat er doch Züge eines Menschen behalten. „Ich bin so weit von Gott entfernt. Als menschliches Wesen kann man ihn nicht einmal zu einem Bruchteil erfassen; deshalb gibt es noch immer so viel Leid und Elend auf Erden, weil nur die wenigsten sich ihm gänzlich widmen und dann etwas mehr verstehen. Viele ziehen einen Wortfetzen aus den Heiligen Schriften heraus und machen sich daran fest, was einer Blasphemie gleichkommt. Wer sich bloss an ein Wort klammert, fällt in die tiefsten Niederungen. Nur das Allumfassende bringt uns in den Himmel.“ Auf diese Weise wirbelt es in seinem Kopf. Er genehmigt sich ein ausgiebiges Frühstück, das ihm helfende Elfenhände bereiten. Seitdem er die Welt verlassen hat, ist von seiner asketischen Figur nicht mehr viel übriggeblieben. Schliesslich hat er ausserhalb einer Nacht das ganze Jahr frei und darf den Genüssen nachgehen, so hat es der Herr bestimmt. In den Darstellungen und Filmen kommt das klar zum Ausdruck. Lächelnd lehnt er sich in seinem Schlitten zurück. Nur noch die finale Station ist anzupeilen. Er hat es sich aufbewahrt, bei Frau Dr. Hauser als Letztes vorbeizuschauen. Durch den Kamin rauscht er; bei der Geschwindigkeit spielt das Körpervolumen keine Rolle mehr, denn die physikalischen Gesetze sind aufgehoben. Als er in ihrem Wohnzimmer steht, hält er inne. Nunmehr ist er wieder in seiner menschlichen Gestalt zu sehen. Frau Dr. Hauser blickt auf. Sie lebt alleine, und nur ein paar Äste mit Kugeln und Kerzen erinnern an die Zeit. Sie staunt, als er innehält und sich ihr zuwendet. Er ist nicht in einen Strassenanzug gekleidet, wie er bei ihr als Patient erschien; sie muss zweimal hinsehen, bis sie ihn erkennt. Natürlich ordnet sie es als Halluzination ein. Den Glauben an solche Wesen hat sie früh in der Kindheit abgelegt. Als er zu sprechen anhebt, wird ihr klar, dass es sich um dieselbe Persönlichkeit handelt; Zweifel sind keine mehr möglich: „Dank ihrer Hilfe habe ich meinen Mut wiedergefunden. Ich darf nicht aufgeben. Für sie stellt sich wohl die Frage, ob sie nicht ihr Weltbild über den Haufen werfen müssen, denn mich kann es eigentlich gar nicht geben.“

    1. Lieber Alexander,
      was für eine schöne Idee! Eine Weihnachtsgeschichte mit historischem Backround… Die Verbindung aus Weihnachtsmann und Psychotherapie ist auch sehr interessant und gelungen.
      Schöne Schreibgrüße!
      Andreas

  41. Von der Toleranz!
    – Sabine Moritz –

    „Vater, warum begehen wir Weihnachten wie die Christen?“
    „Warum fragst du, Amad? Du hast doch bisher dieses Fest gerne mit unseren Freunden und der Familie gefeiert?“
    „Ich habe heute mitbekommen, wie Achmet aus der Neunten einen Konvertiten aus unserer Klasse beschimpfte, er würde sich nicht genug von seinem früheren falschen Glauben distanzieren. Er wäre ein ka:fir, ein Heuchler.“
    Arif überlegte kurz, was er seinem Sohn drauf antworten sollte. Er zögerte, weil er ihm noch nie von der Flucht aus seiner Heimat erzählt hatte, denn er fühlte sich schon sehr lange in Deutschland zu Hause.
    Da kam ihm der Gedanke, die Beantwortung der Frage dem Imam zu überlassen. Der Imam war ein sehr liberaler Mann, aber stark im Glauben, und jeder schätzte seinen Rat. Wenn er sich zur Gebetszeit äußern würde, hätte dies auch Signalwirkung gegen die immer stärker werdenden fundamentalen Anhänger ihrer Glaubensgemeinschaft in dem Wohnviertel. Arif hatte dabei keinen Zweifel, dass seine Gründe für das Begehen eines christlichen Festes nicht verdammt würden.

    Gerade hatten sie sich ehrerbietig zum dritten und letzten Male im Gebet in Richtung Mekka verneigt und Allah zu Ehren mit der Stirn den Boden berührt. Sie waren am Ende des Abendgebetes und eigentlich würden sie jetzt den lehrenden Worten des Imams lauschen und hatten sich deshalb dazu niedergesetzt. Aber Arif war stehen geblieben und blickte den Imam direkt an. Er verneigte sich mit der Hand auf der Brust in seine Richtung und sprach: „Ich erbitte zu einer Frage meines Sohnes um Belehrung, Wissender.“ Der Imam blickte still in seine Richtung und nickte dann.

    „Bevor ich die Frage stelle, Gelehrter, hört bitte meine Geschichte, denn die Frage bezieht sich auf das Fest der Christen zur Geburt des Propheten Jesu, das wir mit Freunden jedes Jahr auch in unserer Familie begehen.“
    Raunen erfüllte den Raum, das christliche Weihnachtsfest war kein Fest der Moslems. Ihnen war es sogar untersagt es zu feiern. Der Imam aber hob seine Hand und brachte die Anwesenden zum Schweigen. Und zu Arif sprach er: „Ich kenne dich als gläubigen Mann mit guten Ansichten. Ich denke du wirst zumindest nachvollziehbare Gründe haben zu tun, was du tust. Und du wirst wissen warum du dies nun offen legst und um Führung bittest. Lass mich und die anderen also deine Geschichte hören und ich will dir Antwort geben, wie ich den Koran studiert habe.“

    Arif trat in den Halbkreis, der sich aus Respekt vor dem Imam durch die Anwesenden gebildet hatte, ließ sich dort nieder und begann zu erzählen:
    „Ich war gerade erst acht Jahre. Meine Heimat war Syrien und ich lebte mit meiner Familie in der kleinen Stadt Sukkarah nahe Homs.
    Der Krieg war über uns hereingebrochen und fast alle Gebäude waren durch Einschläge von Bomben oder Granaten zerstört oder stark beschädigt. Da war keine Schule mehr, in denen wir Kinder etwas lernen konnten, keine Moschee, wo uns das Wort Allahs nahe gebracht werden konnte. Im Kampf um die Macht, die angebliche Freiheit aus einer Diktatur, bekriegten sich Rebellen und Regierungstreue ohne Rücksicht auf die Schwächsten im Land. Das ging so weit, dass selbst Kinderkrankenhäuser mit Bomben zerstört wurden, ungeachtet des Leids.

    Meine Familie, wie viele andere, lebte in den Trümmern, in Erdhöhlen, in behelfsmäßigen Verschlägen, nichts bot wirklichen Schutz vor der Kälte der Nacht oder der Hitze des Tages, und schon gar nicht vor dem Tod aus Gewehren, Mörsern oder durch Bomben.
    Unsere Familie hatte dennoch bis dahin Glück. Wir mussten noch keinen Verlust erdulden. Dennoch entschied Vater mit seinen jüngeren Brüdern, dass wir fliehen mussten, nur weg aus dieser Trümmerwüste, die einmal unsere Stadt, unser Zuhause war.

    In der Nacht machten wir uns auf den Weg, mit den Armseligkeiten, die wir noch unser Eigen nennen konnten. Wohin? Keiner wusste es so recht, aber alle waren sich sicher woanders musste es besser sein, als hier. Wir waren noch nicht weit gekommen, als wieder Bomben fielen, und dieses Mal traf es uns schwer. Ich lag geschützt von einem Onkel unter Staub und Schutt begraben, bis meine ein Jahr jüngere Schwester unter dem ganzen Dreck hervor an der Kutte meines Onkels zerrte und dabei immer wieder rief: Hier, hier, hier!
    Vater befreite mich dann. Er sprach noch ein kurzes Gebet für seinen Bruder und dankte dem Herrn, dass ich unverletzt geblieben war. Dann setzten wir unseren Weg fort, Mutter, Senca, Vater und Großmutter, mehr war von unserer Familie nicht geblieben.
    Großmutter starb dann auf dem Weg durch das Gebirge. Nicht aus Schwäche oder weil sie krank war. Sie wollte nicht mehr, nachdem sie ihren Mann und Söhne sterben sah und diesen noch nicht einmal ein würdiges Grab geben konnte.
    Drei Wochen später kamen wir am Meer in Hamidiya an. In einem Lager fanden wir Unterschlupf. Und Vater sammelte Informationen, denn er hatte inzwischen von vielen anderen Flüchtenden gehört, dass es ein Land gäbe, dessen Regierung sagte, sie würden helfen, und man könnte dort Sicherheit finden. Viele von euch erinnern sich vielleicht, wie es in den Lagern war und dass dort keiner bleiben wollte. Deutschland erschien unseren Eltern damals wie das Versprechen auf das Paradies.

    Als Vater nach einigen Tagen alle Informationen zusammen hatte, wussten er und Mutter, dass es nur zwei Wege gab. Der Lange über Land, aber Hunderte von Kilometern war für meine kleine Schwester und mich zu weit, zu lange hatten wir schon in unserer Heimatstadt und auf dem Weg hierher gehungert. Und der andere über das Meer war gefährlich und teuer. Es konnten nur wir Kinder oder Mutter mit Senca aufbrechen und wir dann später, wenn Vater das Geld irgendwie aufgetrieben hätte. Aber Mutter wollte nicht. Sie flehte Vater an, mit mir die Reise zu wagen und sie und Senca dann nachzuholen. Als Frau mit kleinem Mädchen würde sie hier schon irgendwie barmherzige Hilfe finden. Aber er müsse gehen. Und so suchte Vater einen Schleuser auf, heute wissen wir, wie diese erbärmlichen Menschen mit der Not ihrer Mitmenschen Geld gemacht haben, und vereinbarte einen Transport für mich und sich.

    Auf See mit einem überfüllten schrottfälligen Boot war uns Allah nicht gnädig gesonnen. Das Boot sank. In dem Tumult, in dem jeder versuchte, irgendwas Schwimmendes zum Festhalten zu ergreifen, verloren Vater und ich uns aus den Augen. Wir wurden gerettet, Vater sah ich aber nicht wieder. Mit einer Hilfsorganisation kam ich nach Deutschland zu zwei Menschen mit eigener Familie. Sie teilten ihr Heim mit mir und 5 anderen Kindern aus Syrien. Sie halfen uns, die Sprache zu lernen. Wir wurden gekleidet. Hatten Essen und Sicherheit. Und wenn wir weinten, schlecht träumten oder Furcht verspürten, waren Birgit und Jens für uns zwar keine Eltern, die vermissten wir zu sehr, aber wie große Geschwister, die uns trösteten.
    Es war kurz vor dem Fest der Christen. Sie kümmerten sich um uns, hielten uns zum Gebet an und machten uns Hoffnung, dass noch nichts verloren war und wir an Allah und seine Gnade glauben sollten, um unsere Angehörigen irgendwann wieder zu sehen. Weil wir nicht alleine bleiben konnten, nahmen sie uns aber auch mit zur christlichen Kirche. Sie verlangten nicht, dass wir beteten oder an den Handlungen ihres Glaubens teilnahmen, nur das wir an dieser Zeit teilhatten, wie sie es waren, wenn sie es uns ermöglichten in ihrem Haus zu beten.
    Und dann kam das christliche Geburtsfest ihres Jesu und wir sprachen viel darüber, was uns vom Koran gelehrt wurde und was die Christen glaubten.
    In unserem Enthusiasmus versuchten wir sie immer von dem rechten Weg zu überzeugen. Aber als Gemeinsames blieb immer „Gott ist groß“. Und wir verstanden, egal wie fest im Glauben, dass es vermessen von uns war, sagen zu wollen, was Allahs wahres Ansinnen war. Und so feierten wir mit den Christen, die gütig zu uns waren, weil ihnen dieses Fest wichtig war.
    Am zweiten Weihnachtstag dann war es, als zumindest ich erfahren durfte, wie groß Allahs Güte war. Am frühen Morgen klingelte es an der Tür. Jens begrüßte einen Mann, hinter dem verborgen ein anderer stand. Erst als Jens freudig auch diesen begrüßte und ihn in den Flur zog, richtete sich der Mann auf. Jens und Birgits Kinder waren sehr neugierig und hatten schon lange Posten im Flur bezogen, um alles mitzubekommen, während wir anderen nur vorsichtig wagten, das Gespräch der Erwachsenen zu belauschen. Aber die Stimme kannte ich und fast schien mir das Herz in der Brust zu zerspringen. Mit einem Jauchzen und dem Namen meines Vaters auf den Lippen flog ich förmlich in die Arme des Mannes, den Jens eben erst begrüßt hatte.
    Jens und Birgit halfen uns dann auch noch dabei, Mutter und meine Schwester nachzuholen, und ein Jahr später, als wir endlich alle vereint waren, war es auch wieder an der Zeit für das Fest der Christen zu Ehren des Propheten Jesus. Und wir feierten gemeinsam die Gnade des Herrn, die Güte, mit der Allah unsere Familie nach all den Schrecken wieder zusammengeführt hatte, und jenen Tag, an dem dies geschah.

    „Weiser Imam, es ist uns geboten nur Feste zu feiern, die uns Mohammed in den Suren des Koran genannt hat. Wie aber könnten wir den Tag der Gnade ignorieren, obwohl wir unser Leben lang dankbar für die Rettung unserer Familie sein müssen? Ich bin Moslem und ein jeder hier kennt mich als gläubigen Mann, der dies auch durch Vorleben an seine Kinder weitergeben möchte. Dennoch feiere ich auch Weihnachten.“

    Der Imam überlegte nur kurz, bevor er antwortete:
    „Ein Gläubiger kennt die Feste, die er feiern soll. Aber Christen wie Moslems glauben an den einen Gott, auch wenn der Koran uns lehrt, dass die Christen sich auf einem Irrweg befinden.
    Zugleich ist aber auch geboten, dass wir jene, die uns Gutes tun, achten und ehren sollen. Und dass jedem, der seiner Pflicht folgt, gütig und barmherzig zu sein, das Himmelreich offen steht. Die Menschen, die dich und deine Familie aufnahmen, haben somit im Sinne des Herrn gehandelt. Wie könnten wir glauben, dass dies nicht der Wille des Herrn gewesen ist? Er allein richtet, nicht der Mensch. Danke also für die Güte Fremder und feiere diese Tage als Zeichen der Toleranz und des Friedens, der uns durch einen neuen Propheten verkündet wurde.

    Frieden sei mit euch, all überall an diesen Tagen und in der ganzen Welt.“

    1. Liebe Sabine,
      vielen Dank für deine tolle Geschichte, die in der engsten Auswahl auf den Gewinn war. Du greifst ein aktuelles Thema auf, indem du Weihnachten für einen interreligiösen Dialog nutzt. Der realistische Erzählstil passt dazu wunderbar.
      Danke und schöne Schreibgrüße!
      Andreas

      1. Hallo Andreas,
        vielen Dank für deine Meinung zu meiner Geschichte, die recht kurzfristig entstand, weil ich gebeten wurde bei der betrieblichen Weihnachtsfeier doch wenn möglich eine eigene Weihnachtsgeschichte vorzulesen. Diese war mir dann aber doch zu ernst und ich verfasste noch eine zweite leichtere.
        Ich bin sehr angetan von deiner Webseite und werde sicherlich mich noch intensiv bei dir umsehen.
        Guten Rutsch ins neue Jahr.
        Sabine

  42. Mann in rot
    – Simon Schneider –

    Neben ihm stand eine Mülltonne. Eine von der Sorte „drei Wochen nicht geleert aber am ersten Tag Fischreste entsorgt“. Er rümpfte die Nase, der Gestank von verwesendem Fisch und zehntausend anderen Resten stach ihm bis in den Verstand. Doch der Gestank war nicht das einzige, was ihm zu schaffen machte. Er tastete nach seinem Kopf, erfühlte unter dünnen, langen Haaren eine fette Beule. Er fühlte sich, als habe er sich mit dem Koch einer zwielichtigen Spelunke gestritten und dieser hätte ihm kurzerhand eines mit der Pfanne übergezogen. Ja, diese Erklärung erschien ihm passend. So etwas hatte er in dutzenden Filmen gesehen. Hatte er das? Oder hatte er so etwas schon häufiger erlebt?

    „Um Gottes Willen, was hab ich nur gemacht?“ Seine Stimme klang unglaublich tief. Tiefer als er sie in Erinnerung hatte. Er stemmte sich in die Höhe, spürte dabei die Fugen zwischen den Ziegeln der Wand, an der er sich abstützte. Seine Jacke wies Risse auf und das weiße Hemd darunter klebte an ihm. Vorsichtig streifte er die rote Kunstlederjacke ab. Die Jacke hatte schon bessere Tage gesehen. Neben den Rissen konnte man an vielen Stellen das Gewebe unter dem Lederimitat sehen, die Jackentaschen waren ausgebeult und jetzt, wo er genauer hinsah konnte er erkennen, dass das Rot von der Sonne ausgebleicht war. Sein Blick streifte durch die Gasse. Sie war schmal und das Licht in ihr war leicht schummrig. Er sah nach oben, suchte nach der Sonne, doch es war bewölkt. Als er seinen Kopf senkte spürte er ein unangenehmes ziehen im Nacken, ganz so als habe er sich etwas gezerrt. Er legte die Jacke auf die Mülltonne, nahm sie nach kurzem Überlegen wieder auf. Wenn er seine Jacke dort hinlegte, dann würde er später riechen wie der Fischhändler, bei dem man nur einmal einkaufte. Kurzerhand ließ er die Jacke neben der Tonne fallen. Der Beton der Straße war die bessere Wahl.

    Langsam tastete er seinen Oberkörper ab. Blaue Flecken und Prellungen und er hatte keine Ahnung, wo sie herkamen. Nachdem er meinte all seine Blessuren entdeckt zu haben griff er nach seiner Jacke. Sie passte farblich perfekt zu seiner Hose. Das gleiche ausgebleichte Kunstleder und genau wie am Saum der Jackenärmel fand er auch hier ehemals weiße Streifen. Die lange Zeit der Nutzung hatte sie die Farbe des Staubs und Drecks der Straße annehmen lassen. Über seinen Modegeschmack sollte er dringend nachdenken. Er streifte die Jacke über und hinkte etwas unsicher aus der Gasse heraus. Vor ihm lag eine vierspurige Straße. Geschäfte reihten sich fein säuberlich nebeneinander und matschiger Schnee häufte sich am Fahrbahnrand. Direkt neben der Gasse entdeckte er einen Schneehaufen, in dem sich Peter verewigt hatte. In wundervoll geschwungener Schreibschrift und herrlichem Gelb stand dort: „Peter war hier“. Und Peter hatte offensichtlich viel getrunken.

    Die ersten bummelnden Menschen lunzten zu ihm herüber oder warfen ihm ungeniert tuschelnd lange Blicke zu. „Was gibt’s zu gaffen?“, blaffte er mit seiner tiefen Stimme, die ihm Gänsehaut verursachte. Er war sich sicher. Er kannte diese Stimme nicht, es war nicht seine, irgendwie. Überall blinkte und blitzte es. Lichterketten leuchteten mit Ampeln um die Wette und versuchten die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Hoffentlich würden die Ampeln dieses Wettleuchten für sich entscheiden, denn ansonsten käme zum festlichen Glanz der Lichterketten das hektische Blinken der Blaulichter hinzu.

    Was war heute eigentlich für ein Tag? Er kratze sich durch seinen langen, struppigen Bart am Kinn. Was hatte er Gestern eigentlich getan? Er konnte es noch immer nicht sagen. Eventuell hing es mit Alkohol zusammen, das würde zumindest seinen Filmriss erklären. Obwohl er sich beim besten Willen auch nicht daran erinnern konnte, was er die letzten Tage gemacht hatte. Er fing die nächste Person ab, die an ihm vorbeischlenderte. Ein junger Mann, der seine hübsche Freundin an sich kleben hatte.

    „Tschuldigung, was isn heut fürn Tag?“
    Der Mann zögerte kurz, schob sich schützend vor sein Anhängsel und antwortete dann endlich. „Na den Vierundzwanzigsten. Weihnachten. Wie kann man das denn nicht wissen? Vor allem wenn man aussieht wie ein Metalweihnachtsmann.“ Das Letzte hatte er etwas leiser hinzugefügt während er seine Freundin weiter die Straße entlang schob um dann mit ihr in einem Ramschladen zu verschwinden. Bestimmt wollten sie die letzten Geschenke für ihr Wichteln besorgen oder sich einfach nur möglichst schnell aus seinem Sichtfeld entfernen.

    Metalweihnachtsmann? Er sah an sich hinunter. Irgendwo hatten sie ja Recht. Mit dem ganzen Rot und dem Bart konnte er eine gewisse Ähnlichkeit nicht bestreiten. Dann war also Weihnachten und er lief wie der härteste Geschenkebringer der Stadt herum. Wenn sich da nicht Gewinn draus ziehen lassen würde.

    „Ham se mal nen Euro? Is für die Weihnachtsmann-hilft-Kindern-Stiftung.“ Er setzte sein breitestes Lächeln auf und streckte erwartungsvoll die Hand aus. Die Rentnerin mit Rollator beschleunigte als hinge sie an einem Düsenrollator und zischte an ihm vorbei.

    „Nun sein se mal nich so. Die WhK-Stiftung will doch nur Gutes tun. Helfen se dann wird ihnen geholfen und Auge um Auge un sowas.“ Nicht nur das die Rentnerin an ihm vorüberzog, nein jetzt leerte sich auch noch der Gehweg. Um ihn herum entstand eine verlassene Zone. So viel zum Fest der Liebe. Er schüttelte den Kopf und stapfte weiter die Straße entlang, vorbei an kitschig bunten Schaufenstern und Menschen mit vollen Taschen und leeren Geldbeuteln. Vor ihm gabelte sich die Straße. Links fand die Geschenkeschlacht statt, rechts der Kampf um Parkplätze. Er entschied sich ohne lange zu zögern für den Parkplatzkampf. Hupen erklangen im Rhythmus von „O Tannenbaum“ und überall wo ein Parkplatz frei wurde bildete sich ein Blechhaufen bestehend aus Mercedes, BMW, Porsche und unzähligen weiteren Schlachtschiffen auf Parkplatzjagd. Als er vor sich hin grübelnd über die armen Seelen lächelte, die sich auf den letzten Drücker mit Geschenken eindecken wollten entdeckte er eine Lücke zwischen den parkenden Wagen. Neugierig, wie es dazu kommen konnte näherte er sich ihr.

    „Mein Schatz!“, jauchzte er und stürzte halb humpelnd halb fliegend auf die Harley Davidson zu, die dort stand. An sie erinnerte er sich. Es war sein Baby, sein ein und alles. Die knallrote Fat Boy mit weißen Streifen und der „Hohoho Motherfucker“ Lackierung auf dem Tank. Instinktiv griff er in die Innentasche seiner Jacke und zog den Schlüssel hervor. An ihm baumelte ein Tannenbaum. Ein Lufterfrischer, wie er sonst in Trucks vom Rückspiegel hing. Er war definitiv der Metalweihnachtsmann, wie ihn der Bursche so treffend genannt hatte. Er setzte den Helm auf, der die gleiche rote Farbe aufwies wie seine Kleidung, tätschelte den Plüschrand der den Helm zierte und schwang sich auf seine Maschine.

    „Santa is in town.“

    1. Lieber Simon,
      mit deiner wundervoll skurilen Geschichte warst du in der engeren Auswahl auf den Gewinn. Der Leser ist genauso im Ungewissen, was eigentlich los ist, wie der Protagonist. Das ist fantastisch gelöst – Inhalt und Form gehen hier schön Hand in Hand. Vielen Dank für das Lesevergnügen!
      Andreas

  43. Herzschwirren

    Der Blick aus dem Zimmer, vom schwach beleuchteten Esstisch aus, war ein Blick durch die Spiegelung des eigenen blassen Gesichtes in die hellen Fenster der durch das abendliche Blauschwarz der Nacht bretternden Züge auf bewegungslose Puppen und leere Sitze, auf dünne und kahle empor starrende Bäume und das tiefe Schwarz eines Schattens, halbherzig von einem sonst unauffälligen Straßenschild im Schein der Laterne geworfen. Weil es muss, dachte Dolly und führte die Gabel an den trockenen Mund; die Spaghetti wurden zu Gewichten, die sie beinahe hinunterzogen, die überwürzte Soße war eine ungenießbare Masse und tropfte wie Blut auf die weiße Tischplatte. Im Radio sang Dean Martin davon, an Weihnachten zuhause zu sein – in seinen Träumen. Seine Stimme versteifte Dollys Griff um die Gabel und seine Worte lockerten ihn wieder. Sie erkannte, dass sie nicht einmal in ihren Träumen mehr hier sein wollte. Lächelnd betrachtete sie den Schatten, den ihr Glas auf den fast leeren Teller warf und den gelb funkelnden Kreis, eine Reflexion des Apfelweins, der sich wie eine scheue Sternschnuppe am Tellerrand festkrallte, griff nach dem Glas und führte es, zurückgelehnt und mit geschlossenen Augen, an den Mund. Noch ehe es ihre Lippen erreichte, ließ der Geruch in ihr Sinne und Seele aufhorchen. Erst kniff daraufhin die kalte Flüssigkeit ihr neckend in die Zunge, bis schließlich die Apfelsäure wie neue Lebensenergie ihr in den wartenden Körper floss und ein ebenso saurer Schmerz ihn in die Höhe zog, eine saure Erwartung ihre Augen befeuchtete. Die starrenden Bäume wankten verhalten und der nächste Zug, der vorbeirauschte, war leer.
    Entschlossen leerte Dolly auch den Rest des fast noch vollen Glases, stellte es klangvoll ab und schaltete, ein freudiges Ziehen im Magen, das Radio aus, bevor Chris Rea sich auf den Weg nachhause machte. Mit warmem Kopf und feuchten Lippen flatterte sie aus dem Zimmer und stand, wie ein Windzug, im nächsten Moment schon in der kalten Abendluft, und Kunstfell schmiegte sich an ihren bebenden Oberkörper und die erwachten Füße. Frost, Nebel und Nässe trugen sie, die sie inmitten von Laternen und Lichterketten und dann und wann einer Leuchtreklame durch die Gänge und Gassen der ihr vertrauten und verhassten Stadt stapfte, wo nur ihre eigenen Schritte es waren, die konstant vom ruhenden Asphalt widerhallten, über den nur selten und unregelmäßig ein Auto hinweg wehte. Der Wind zog an Dollys Schal, der sie wie eine Fessel zu erwürgen drohte. Und hinter jedem erleuchteten Fenster, an dem sie vorüberging, verbarg sich eine neue isolierte Welt mit geschmückter Tanne oder gedecktem Tisch, mit quengelnden oder lachenden Kindern – und Eltern, die grimmig die Vorhänge zuzogen.
    Manchmal kreuzten auch Menschen Dollys Weg – ein hünenhafter Mann mit einer Pfeife zwischen seinen großen Zähnen, eine junge telefonierende Frau mit staksigen Beinen in einer blickdichten Strumpfhose, eine Gruppe Jugendlicher mit schreienden Musikboxen in den Händen – und Dolly sprach einen an – einen jungen Mann, der allein und ohne Box unterwegs war – und fragte ihn, ob er eine Zigarette für sie habe. Sein Blick verriet Desinteresse, aber er war freundlich, und so spürte sie wenige Sekunden später, ein beflügelndes Kratzen im Hals, wie ein leichter Schwindel ihre schnellen Beine wackeln ließ.
    Die erste Kneipe, die sie erreichte, hatte geschlossen. Falsche Sterne funkelten von innen an den Fenstern. Dolly hielt dennoch an, hielt inne auf einem Stück Abgrund, vor dem nur der gitterne Gully ihr Sicherheit gewährleistete, sah ihrem weißen Atem nach und begutachtete die Kennzeichen der geparkten Autos. „NE.ST“, stand auf einem von ihnen. Wieder lächelte Dolly, doch dieses Mal nicht ohne Schwermut.
    Entschieden und ahnungslos, der Hals trocken und die Lippen noch immer feucht, wankte sie weiter, vorbei an einem trunkenen Trottel, der sich selbst etwas zuflüsterte. Erschöpft war das Lächeln, das sie sich für ihn abringen konnte, und er sah es nicht einmal.
    Vor der Bar, auf die Dolly als nächstes zusteuerte, stand an eine Laterne angeschlossen und allein ein pinkes Fahrrad, an dessen Sattel sie sich einen Moment lang festhielt, den letzten tiefen Zug nehmend, um dann die Zigarette auszutreten und die bald erfrorenen Hände aneinander zu reiben, ehe sie auch das letzte bisschen Kälte abschüttelte und in das gut frequentierte Lokal trat, das sie von einer von wenigen in eine von vielen verwandelte.
    Eine Live-Band performte „Last Christmas“, doch Dolly schwirrten ganz andere, weniger weihnachtliche Lieder im Kopf herum, unter allen am lautesten ein Chanson von Georgette Dee und Terry Truck, und sie dachte, dass man in einer kleinen Stadt genauso allein sein kann wie in einer großen und wie ein an eine Laterne gebundenes Damenrad in einer Winternacht. Und wie sehr sie das Alleinsein doch immer geliebt hatte, das ihr jetzt so heftig auf den Brustkorb drückte; und sie setzte sich an die Theke und trank Rotwein, bis ihr die Lippen taub wurden. Lauschte dabei dem Mann neben sich, der den Wirt in ein Wirrsal komischer Geschichten verwickelte, ließ seinen Spott ihr seltsam hartes Herz erweichen und belächelte seine Klagen. Sie ließ auch den Blick über die vollen Tische schweifen, über eine geschwätzige Menge, die offen Geschlossenheit demonstrierte; und traf ihr Blick den eines anderen, so hatten die vier Augen einander nichts zu sagen.
    Schon wieder hatte Dolly versucht, wenn auch nur für Sekunden, in die Welten anderer Menschen einzudringen – aber in dieser Dunkelheit fühlte sie sich selbst licht werden.
    Als die Bühne längst leer war und das Klavier so unberührt schlummerte wie ihr eigenes, teilte der Wirt ihr mit, dass er bald schließen werde. Und ihr betrunkenes Herz schwirrte, als sie – die Einzige, die jetzt noch da war – seinen Blick auf sich ruhen spürte. Er beäugte sie voll Neugier durch die beschlagenen Gläser seines durchsichtigen Brillengestells, und sie überkam die plötzliche Lust, etwas in den Sand zu setzen.
    „Darf ich fragen, warum jemand wie du an Heilig Abend alleine ist?“, sagte der Wirt, während sie an ihrem Glas nippte.
    „Ich wollte der Geselligkeit eine Weile entsagen.“
    Der Wirt hob ungeschickt die Augenbrauen, dann entgegnete er: „Lass mich raten; um dich selbst zu finden?“
    „Um ungestört Dante zu lesen“, erwiderte Dolly.
    „Und?“, fragte der Wirt. Erst jetzt bemerkte sie, wie schön er sein könnte ohne die Brille und wie seine Lippen im Dämmerlicht schimmerten. „Bist du weit gekommen?“
    „Ich bin fertig“, sagte Dolly.
    „Oh.“ Der Wirt nahm ihr leeres Glas in seine sehnigen Hände. „Dann hast du jetzt sicher Zeit, mich nachhause zu begleiten. Kein weiter Weg.“ Und mit einem Finger deutete er zur Decke.
    Dolly lachte kopfschüttelnd. „Zurzeit schreibe ich an einem Kochbuch.“
    „Ich könnte deine Rezepte ausprobieren.“
    „Mein Verleger vertraut mir auch so.“
    Nachdem der Wirt Dollys Glas gespült hatte, legte er erneut seinen festen Blick auf sie und fragte: „Ist es vorstellbar, dass du dich noch dieses Jahr von mir auf einen Drink einladen lässt? Oder wenn dein Buch fertig ist?“
    „Ich möchte ehrlich sein“, entgegnete Dolly. „Das Kochbuch ist nur einer von vielen Plänen und vielleicht verwerfe ich ihn wieder wie schon viele andere zuvor.“ Sie hatte sich nicht abgekapselt, um sich selbst zu finden, sondern um sich auch mal verlieren zu dürfen, ohne dass gleich jemand nach ihr suchte. „Ich könnte dir jetzt sagen, dass ich nach der Fertigstellung meines Kochbuchs Zeit für dich habe, nur vielleicht brauche ich dann jede freie Sekunde, um das Geigenspielen zu lernen.“
    „Aber hat man das Alleinsein nicht irgendwann satt?“
    An Festtagen, dachte Dolly. Wenn man für den Dekoschnee zu geizig und die Fensterbank voller Mehl ist, man mit dem Essen der selbstgebackenen Plätzchenmasse nicht mehr hinterherkommt, man nur die halbe Wohnung aufgeräumt hat und die Tanne ungeschmückt ist, weil man glauben will, dass all das ein Beweis für Freiheit sei. Und sie sagte: „Irgendwann bestimmt.“

    Polizeisirenen durchstachen die Stille, als Dolly im Morgengrauen ihre Wohnung erreichte, wo sie sogleich Jacke und Stiefel abstreifte und die Nummer, die der Wirt zum Abschied auf einen zerknitterten Zettel gekritzelt hatte, zu den anderen legte, die gut aufbewahrt in einer kleinen smaragdgrünen Schachtel schliefen. Dann ging sie selbst ins Bett; ihr Bauch kribbelte noch vom Wein.
    Im Traum wuchsen ihr Federn und bevor sie sich darüber wundern konnte, fand sie sich in einem warmen Vogelnest wieder, behütet von der Mutter, bis sie selbst, nachdem die Mutter eingeschlafen war, sich hinunterstürzte. Was ich unbedingt lernen will, hatte Dolly einst einem anderen Mann in einer anderen Bar erzählt, ist das Fliegen. Der Vogel kam hart auf dem Boden auf.

    Am späten Nachmittag wachte Dolly auf und der Nachgeschmack des Alkohol drängte sie ins Badezimmer. Mit der Zahnbürste im Mund setzte sie sich auf die Toilette und griff nach dem dicken Buch, das unter der Heizung lag.
    Als eine halbe Stunde später das Telefon klingelte, rannte sie nackt in den Flur und hinterließ eine Spur mit dem Wasser, das von ihrem Haar heruntertropfte.
    Dolly, aufgeregt den Hörer ans Ohr gedrückt, konnte kaum einen Satz zusammenhängend wahrnehmen, ehe die ersehnten Worte sie erlösten: „Ab dem ersten Februar können Sie in die Wohnung.“
    Nachdem sie aufgelegt hatte, schaltete Dolly das Radio ein, drehte solange an dem Lautstärkeregler bis er sich in die eine Richtung nicht mehr bewegen ließ und begann zu tanzen, keinen Quadratzentimeter ihrer Zweizimmerwohnung auslassend, das Mehl auf der Fensterbank und die unter der Tanne verstreuten Nadeln in alle Richtungen verwehend. Laut und schrill sang sie „Hard Candy Christmas“ mit der Frau, der sie ihren Namen verdankte, und war erleichtert, dass auch diese Weihnacht bald überstanden war.
    Erschöpft und schwindelnd vor dem Spiegel innehaltend probierte sie schließlich die Ohrringe an, die sie sich geschenkt hatte; kleine glitzernde Dreiecke aus echtem Silber.
    Wieder klingelte das Telefon, aber dieses Mal erwartete sie keinen Anruf.

    1. Liebe Samira,
      herzlichen Glückwunsch, du hast die Teilnahme an einem Schreibseminar deiner Wahl gewonnen!
      Die Geschichte ist herausragend, da du es schaffst, die Erlebnisse deiner Figur anhand passender sprachlicher Bilder auszudrücken. Du findest Ausdrucksformen, die niemals stereotyp sind, sondern kreativ und lebendig, indem du Sinneserfahrungen, Vergleiche und Metaphern nutzt. Deine Sprache überzeugt durch einen großen Reichtum an Variationen. Das Thema Weihnachten greifst du auf, um eine beinahe existentielle Betrachtung der menschlichen Abgründe aus Sehnsucht nach Gemeinsamkeit und Alleinsein zu vollführen. Dabei bleibt deine Story immerzu spannend und kurzweilig zu lesen, das Ende und die Entwicklung sind nicht absehbar, dafür aber stimmig. Unter der Handlungsoberfläche tun sich psychische Tiefen der Hauptfigur auf.
      Vielen Dank für die großartige Geschichte!
      Andreas

  44. Mann in rot
    -Simon Schneider-

    Neben ihm stand eine Mülltonne. Eine von der Sorte „drei Wochen nicht geleert aber am ersten Tag Fischreste entsorgt“. Er rümpfte die Nase, der Gestank von verwesendem Fisch und zehntausend anderen Resten stach ihm bis in den Verstand. Doch der Gestank war nicht das einzige, was ihm zu schaffen machte. Er tastete nach seinem Kopf, erfühlte unter dünnen, langen Haaren eine fette Beule. Er fühlte sich, als habe er sich mit dem Koch einer zwielichtigen Spelunke gestritten und dieser hätte ihm kurzerhand eines mit der Pfanne übergezogen. Ja, diese Erklärung erschien ihm passend. So etwas hatte er in dutzenden Filmen gesehen. Hatte er das? Oder hatte er so etwas schon häufiger erlebt?

    „Um Gottes Willen, was hab ich nur gemacht?“ Seine Stimme klang unglaublich tief. Tiefer als er sie in Erinnerung hatte. Er stemmte sich in die Höhe, spürte dabei die Fugen zwischen den Ziegeln der Wand, an der er sich abstützte. Seine Jacke wies Risse auf und das weiße Hemd darunter klebte an ihm. Vorsichtig streifte er die rote Kunstlederjacke ab. Die Jacke hatte schon bessere Tage gesehen. Neben den Rissen konnte man an vielen Stellen das Gewebe unter dem Lederimitat sehen, die Jackentaschen waren ausgebeult und jetzt, wo er genauer hinsah konnte er erkennen, dass das Rot von der Sonne ausgebleicht war. Sein Blick streifte durch die Gasse. Sie war schmal und das Licht in ihr war leicht schummrig. Er sah nach oben, suchte nach der Sonne, doch es war bewölkt. Als er seinen Kopf senkte spürte er ein unangenehmes ziehen im Nacken, ganz so als habe er sich etwas gezerrt. Er legte die Jacke auf die Mülltonne, nahm sie nach kurzem Überlegen wieder auf. Wenn er seine Jacke dort hinlegte, dann würde er später riechen wie der Fischhändler, bei dem man nur einmal einkaufte. Kurzerhand ließ er die Jacke neben der Tonne fallen. Der Beton der Straße war die bessere Wahl.

    Langsam tastete er seinen Oberkörper ab. Blaue Flecken und Prellungen und er hatte keine Ahnung, wo sie herkamen. Nachdem er meinte all seine Blessuren entdeckt zu haben griff er nach seiner Jacke. Sie passte farblich perfekt zu seiner Hose. Das gleiche ausgebleichte Kunstleder und genau wie am Saum der Jackenärmel fand er auch hier ehemals weiße Streifen. Die lange Zeit der Nutzung hatte sie die Farbe des Staubs und Drecks der Straße annehmen lassen. Über seinen Modegeschmack sollte er dringend nachdenken. Er streifte die Jacke über und hinkte etwas unsicher aus der Gasse heraus. Vor ihm lag eine vierspurige Straße. Geschäfte reihten sich fein säuberlich nebeneinander und matschiger Schnee häufte sich am Fahrbahnrand. Direkt neben der Gasse entdeckte er einen Schneehaufen, in dem sich Peter verewigt hatte. In wundervoll geschwungener Schreibschrift und herrlichem Gelb stand dort: „Peter war hier“. Und Peter hatte offensichtlich viel getrunken.

    Die ersten bummelnden Menschen lunzten zu ihm herüber oder warfen ihm ungeniert tuschelnd lange Blicke zu. „Was gibt’s zu gaffen?“, blaffte er mit seiner tiefen Stimme, die ihm Gänsehaut verursachte. Er war sich sicher. Er kannte diese Stimme nicht, es war nicht seine, irgendwie. Überall blinkte und blitzte es. Lichterketten leuchteten mit Ampeln um die Wette und versuchten die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Hoffentlich würden die Ampeln dieses Wettleuchten für sich entscheiden, denn ansonsten käme zum festlichen Glanz der Lichterketten das hektische Blinken der Blaulichter hinzu.

    Was war heute eigentlich für ein Tag? Er kratze sich durch seinen langen, struppigen Bart am Kinn. Was hatte er Gestern eigentlich getan? Er konnte es noch immer nicht sagen. Eventuell hing es mit Alkohol zusammen, das würde zumindest seinen Filmriss erklären. Obwohl er sich beim besten Willen auch nicht daran erinnern konnte, was er die letzten Tage gemacht hatte. Er fing die nächste Person ab, die an ihm vorbeischlenderte. Ein junger Mann, der seine hübsche Freundin an sich kleben hatte.

    „Tschuldigung, was isn heut fürn Tag?“

    Der Mann zögerte kurz, schob sich schützend vor sein Anhängsel und antwortete dann endlich. „Na den Vierundzwanzigsten. Weihnachten. Wie kann man das denn nicht wissen? Vor allem wenn man aussieht wie ein Metalweihnachtsmann.“ Das Letzte hatte er etwas leiser hinzugefügt während er seine Freundin weiter die Straße entlang schob um dann mit ihr in einem Ramschladen zu verschwinden. Bestimmt wollten sie die letzten Geschenke für ihr Wichteln besorgen oder sich einfach nur möglichst schnell aus seinem Sichtfeld entfernen.

    Metalweihnachtsmann? Er sah an sich hinunter. Irgendwo hatten sie ja Recht. Mit dem ganzen Rot und dem Bart konnte er eine gewisse Ähnlichkeit nicht bestreiten. Dann war also Weihnachten und er lief wie der härteste Geschenkebringer der Stadt herum. Wenn sich da nicht Gewinn draus ziehen lassen würde.

    „Ham se mal nen Euro? Is für die Weihnachtsmann-hilft-Kindern-Stiftung.“ Er setzte sein breitestes Lächeln auf und streckte erwartungsvoll die Hand aus. Die Rentnerin mit Rollator beschleunigte als hinge sie an einem Düsenrollator und zischte an ihm vorbei.

    „Nun sein se mal nich so. Die WhK-Stiftung will doch nur Gutes tun. Helfen se dann wird ihnen geholfen und Auge um Auge un sowas.“ Nicht nur das die Rentnerin an ihm vorüberzog, nein jetzt leerte sich auch noch der Gehweg. Um ihn herum entstand eine verlassene Zone. So viel zum Fest der Liebe. Er schüttelte den Kopf und stapfte weiter die Straße entlang, vorbei an kitschig bunten Schaufenstern und Menschen mit vollen Taschen und leeren Geldbeuteln. Vor ihm gabelte sich die Straße. Links fand die Geschenkeschlacht statt, rechts der Kampf um Parkplätze. Er entschied sich ohne lange zu zögern für den Parkplatzkampf. Hupen erklangen im Rhythmus von „O Tannenbaum“ und überall wo ein Parkplatz frei wurde bildete sich ein Blechhaufen bestehend aus Mercedes, BMW, Porsche und unzähligen weiteren Schlachtschiffen auf Parkplatzjagd. Als er vor sich hin grübelnd über die armen Seelen lächelte, die sich auf den letzten Drücker mit Geschenken eindecken wollten entdeckte er eine Lücke zwischen den parkenden Wagen. Neugierig, wie es dazu kommen konnte näherte er sich ihr.

    „Mein Schatz!“, jauchzte er und stürzte halb humpelnd halb fliegend auf die Harley Davidson zu, die dort stand. An sie erinnerte er sich. Es war sein Baby, sein ein und alles. Die knallrote Fat Boy mit weißen Streifen und der „Hohoho Motherfucker“ Lackierung auf dem Tank. Instinktiv griff er in die Innentasche seiner Jacke und zog den Schlüssel hervor. An ihm baumelte ein Tannenbaum. Ein Lufterfrischer, wie er sonst in Trucks vom Rückspiegel hing. Er war definitiv der Metalweihnachtsmann, wie ihn der Bursche so treffend genannt hatte. Er setzte den Helm auf, der die gleiche rote Farbe aufwies wie seine Kleidung, tätschelte den Plüschrand der den Helm zierte und schwang sich auf seine Maschine.

    „Santa is in town.“

  45. You only live once (YOLO)
    oder: Die Wahrheit über Rudolph

    „Yalla, yalla!“, blaffte ich in Richtung von Rudolph, doch der hob nur lässig sein Glas und prostete mir zu. „Chill mal, Alter!“ Er lümmelte sich zurück in die Polster der Lounge, wippte den Takt der seichten Musik mit, seine Nase wirkte noch röter als sonst. Langsam aber sicher drohte mir die Situation zu entgleisen, es gab noch so viel zu tun und die Zeit rannte uns weg. Wie war es nur dazu gekommen?

    ~~~~~

    Wie jedes Jahr rief ich Anfang Dezember beim Jobcenter an und fragte nach Hilfsarbeitern, die mir beim Packen und Ausliefern zur Hand gehen sollten. Wie jedes Jahr dachte ich, dass am nächsten Tag genug Hilfskräfte bei mir vor der Tür standen und darauf brannten, loszulegen, wo sonst bekam man eine solche Gelegenheit? Aber dieses Jahr war alles anders, dieses Jahr hatte Amazon in der Nähe neu gebaut. Die freundliche Frau des Jobcenters teilte mir mit, dass alle verfügbaren Kräfte bereits bei Amazon im Lager eingesetzt seien, dort fiele ja auch viel Arbeit im Dezember an. Sie versprach mir aber, sobald jemand verfügbar sei, diesen vorbeizuschicken. Das durfte doch nicht wahr sein, eine Katastrophe! Wie sollte ich das denn alles alleine schaffen, die ganzen Päckchen packen und dann noch zustellen? Resigniert ging ich den Keller, griff mir den nächsten Wunschzettel und fing an.

    ~~~~~

    Zwei Tage später klingelte es gegen 10 Uhr morgens an meiner Tür, ich hechtete die Kellertreppe rauf und öffnete etwas außer Atem die Haustür und da stand er. „Yo Mann, was geht geht, Alter?“, begrüßte er mich und drängte sich an mir vorbei ins Haus. „Die Tante vom Jobcenter meinte, ich solle mal bei Dir vorbeikommen, hier gäb’s was zu tun und ein bisschen Kohle hab ich dringend nötig. Rudolph!“, stellte er sich vor, „wir können uns doch duzen, oder?“ Da ich Hilfe wirklich gut gebrauchen konnte, führte ich ihn in meinen Keller, erklärte ihm, was zu tun sei und drückte ihm einen Packen Wunschzettel in die Hand. Dann ging ich ins Büro, um die Auslieferungsrouten festzulegen und zu optimieren, schließlich wollten ja alle ihre Geschenke pünktlich erhalten.

    ~~~~~

    Zwei Stunden später suchte ich Rudolph auf und traute meinen Augen nicht. „Rudolph!“, brüllte ich ihn an, „was soll das? Hier ist ja nichts passiert!“ „Mach dich mal locker, Alter!“, antwortete er mir ganz ruhig und suchte sich eine bequemere Position auf dem Sofa, das in der Ecke stand, und zog tief an seiner Zigarette. „Hier herrscht absolutes Rauchverbot!“, tobte ich. „Los jetzt, auf, mach die Kippe aus und pack weiter, wir haben einen Termin einzuhalten!“ Ich blickte mich um, immerhin hatte er zwei Päckchen geschafft, die sauber verpackt mit einer Schleife auf dem Packtisch standen. „Rudolph!“, lobte ich ihn überschwänglich, „Du hast ja ganze zwei Päckchen in zwei Stunden geschafft! Super, da sind wir ja pünktlich zu Weihnachten fertig, aber erst nächstes Jahr!“ Er sah mich glücklich an, Ironie war wohl ein Fremdwort für ihn.

    ~~~~~

    Vier Tage später war es tatsächlich soweit: wir hatten genug Päckchen fertig, um den Schlitten zu beladen und die erste Tour auszuliefern. „Kannst Du eigentlich einen Schlitten fahren?“ fragte ich Rudolph, „Das war eine Voraussetzung für den Job.“ „Klar Mann, Alter, was denkst Du denn, jetzt chill mal und steig ein!“, beruhigte er mich. Ganz selbstverständlich griff er sich die Zügel, schnalzte mit der Zunge und die Rentiere rannten los, als ob Rudolph schon immer den Schlitten gelenkt hätte. Ich musste meine Mütze festhalten, damit sie nicht weg flog. „Wow, Mann!“ triumphierte er und flog eine langgezogene Rechtskurve, „geil, Alter, oder?“

    ~~~~~

    Nachdem wir alle Päckchen zugestellt hatten, wollte ich so schnell wie möglich wieder nach Hause, um weiter zu arbeiten, wir hatten einiges aufzuholen. Aber Rudolph hatte andere Pläne und die Zügel in der Hand. Er lenkte die Rentiere zielstrebig Richtung Stadt, brachte den Schlitten unbemerkt auf dem Dach des neuen Einkaufzentrums zum Stehen und stieg begeistert aus. „Gib mir Fünf!“, jubelte er und hielt mir seine geöffnete Hand entgegen. „So weit kommt es noch“ grummelte ich in meinen Bart und stieg murrend aus. „Was soll das denn jetzt wieder, Rudolph?“ „Komm, Alter, wir gehen einen trinken. Ich kenn‘ da ’nen Club, da ist heute vor­weihnachtlicher Kostümball, da fällst Du gar nicht auf.“ „Nein, Rudolph, wir haben noch viel zu viel zu tun, nach Weihnachten können wir … Na gut, aber nur ein Bier!“ „Klar, Mann, cool!“

    ~~~~~

    Als ich erwachte, wusste ich nicht so genau, wo ich mich befand. Der Schleier vor meinen Augen lüftete sich, ich sah Rudolph am Packtisch stehen, fast wie am Fließband packte er Päckchen um Päckchen. Ich lag auf dem Sofa in meinem Keller und erhob mich stöhnend. Rudolph bemerkte mich und wandte sich mir zu, ein breites Grinsen schob sich in sein Gesicht. „Mensch Alter, ich wusste ja gar nicht, dass Du so Party machen kannst, cool, echt! Der ganze Club war begeistert von Dir! Bleib liegen, ich mach das schon! Ruh‘ Dich noch was aus, ich pack‘ den Schlitten und weck‘ Dich, wenn wir wieder los können.“ Das durfte doch nicht wahr sein, ich in einem Club, kurz vor Weihnachten und noch so viel Arbeit. Aber es half alles nichts, in dem Zustand konnte ich nichts tun und so fiel ich auf das Sofa zurück. „Aber nur noch ’ne halbe Stunde, Rudolph!“

    ~~~~~

    Die nächsten Tage vergingen wie im Flug, Rudolph war nach unserem gemeinsamen Clubbesuch wie verwandelt. Er arbeitete wie ein Besessener, packte und packte und ich konnte mich in aller Ruhe um die Logistik kümmern. Immer und immer wieder lieferten wir Päckchen aus und schließlich beluden wir den Schlitten zum letzten Mal, der Keller war leer, alle Wunschzettel abgearbeitet. Rudolph schwang sich auf den Bock des Schlittens, griff sich die Zügel und reichte mir seine Hand: „Komm Alter, letzte Tour und so!“ Ich ergriff seine Hand und ließ mich neben ihm nieder. „OK, Rudolph, auf geht’s!“

    ~~~~~

    Ich musste wohl eingeschlafen sein auf dem Schlitten, die Anstrengungen der letzten Tage waren nicht spurlos an mir vorüber gegangenen und Rudolph flog ganz ruhig. Mit einem Ruck wurde ich wach, sah mich schlaftrunken um. Der Schlitten war leer, wir standen wieder auf dem Dach des Einkaufszentrums. Rudolph stand neben dem Schlitten, tätschelte die Rentiere. „Yolo!“ grinste er und sah mich an. „Yolo“, sagte ich resignierend und folgte ihm, ebenfalls grinsend.

  46. Ich wollt, es würde nie geschehen…
    Es ist – so fängt allerdings kaum ein Märchen an – ein wunderschöner Feierabend in der Vorweihnachtszeit.
    Nach des Tages Mühen, Aufregungen und der für diese Jahreszeit üblichen Hektik sitze ich gemütlich am Kamin, schlürfe genießerisch ein Glas Rosé und hake in Gedanken die Liste mit den nötigen Besorgungen für die Familie und die Freunde ab.
    Alles erledigt. Bis auf die warmen Hausschuhe für Großmama. Sie hat spezielle Wünsche. Außen zwar Leder, aber innen bloß kein Lammfell! Lieber Kaninchen. Mache ich doch, Ömchen! Dauert zwar etwas länger, doch wir haben ja noch Zeit!
    Ich atme tief durch. Richtiges Atmen ist so wichtig für das Wohlbefinden.
    Und da passiert es. Das Licht geht aus. Ich stehe auf, betätige den Schalter. Nichts tut sich.
    „Aha“, denke ich, „wieder einmal die Sicherung!“
    Aber auch hier kann ich mit der Taschenlampe keinen Fehler entdecken. Zufällig schaue ich aus dem Fenster. Draußen ist alles dunkel. Kein Licht, keine Straßenlaterne. Seltsam. Ein, zwei Autos werfen ihren Schein auf gespenstische Fassaden. Dann wieder Finsternis.
    Ich greife zum Telefon. Ein Freizeichen ertönt. Wenigstens etwas. Meinen Nachbarn geht es ebenso. Einer hat schon die Störungsstelle angerufen. Man sucht noch. Der Schaden soll umgehend behoben werden. Keine Panik. Bloß keine Panik.
    Ich setze mich wieder hin. Warte. Das Telefon klingelt. Auch in anderen Orten ist der Strom ausgefallen, wie mir meine Freunde mitteilen. Wir scherzen:
    „Deckt euch bloß mit Selterswasser ein! Wenn die Stromsperre länger andauert, gibt es bald kein Wasser mehr!“
    Wir lachen etwas gequält. Ich bestücke mein Transistorradio mit neuen Batterien. Aha. Die Nachrichten. Eilmeldung.
    „In ganz Europa ist die Stromversorgung zusammen gebrochen. Behalten Sie die Ruhe bei! Nach den Ursachen wird gefahndet. Der Fehler liegt nicht auf unserem Territorium. Irgendwo im europäischen Verbundnetz hat es eine Panne gegeben. An der Fehlerquelle wird fieberhaft gearbeitet. Es kann noch Stunden dauern. Wir schlagen vor: Der anständige Bürger geht jetzt besser ins Bett. Morgen sieht die Welt wieder normal aus!“
    Aufmunternde Musik. Der Sender hat seine Notstromaggregate angeschaltet. Alle wichtigen Institutionen verfügen über Dieselmotoren, um auch im Katastrophenfall arbeiten zu können. Wie beruhigend!
    Dann schweigt das Radio. Das Telefon gibt auch keinen Ton mehr von sich. Das Handy ebenso. Die Heizung ist aus. Aus der Wasserleitung rinnt es nur noch.
    Das ging aber schnell! Wahrscheinlich haben meine Mitmenschen die Lage ernster eingeschätzt als ich und sich ihre Badewannen beziehungsweise sämtliche größeren Gefäße volllaufen lassen!

    Jetzt ist jeder sich selbst der Nächste!
    Ich befolge den guten Ratschlag der Radiomacher und lege mich zur Ruhe. Die Welt ist still geworden.
    Mit dem ersten Sonnenstrahl werde ich wach. Viel zu spät! Ich haste zum Lichtschalter. Nichts. Also wird es auch keinen Kaffee, kein Toastbrot, kein Ei geben! Bloß gut, der Tank meines Autos ist fast voll! Ich werde heute ausnahmsweise mit dem Fahrzeug an die Arbeit fahren, weil ich annehme, dass auf öffentliche Verkehrsmittel kein Verlass ist.
    Unterwegs sehe ich verstopfte Straßen, liegengebliebene Straßenbahnen, viele Fußgänger. Als ich an meiner Arbeitsstelle ankomme, lässt sich die Tür mit ihrer elektronischen Verriegelung nicht öffnen. Das hätte ich mir gleich denken können! Was soll ich machen? Ich fahre wieder nach Hause.
    Auf einmal befinde ich mich in einer schrecklichen Situation, habe keine Zeit zum Überlegen und handle einfach. Aus dem Bauch heraus. Ich verbiete mir das Zittern. Unterwegs kommen mir Polizeiautos und Feuerwehren entgegen.
    Die ersten Plünderungen haben begonnen. Zerborstene Schaufenster-scheiben an unbeleuchteten Supermärkten und Menschen, die beladen mit Lebensmitteln, hastig das Weite suchen! Von weihnachtlichen Gefühlen keine Spur!
    Die zauberhafte und unsinnig teure Beleuchtung zum Fest schaukelt dunkel vor sich hin.
    Am schlimmsten ist diese Ungewissheit. Keiner kann sagen, wie es weitergeht, wie lange es dauert! Vielleicht schickt die Polizei einen Lautsprecherwagen durch den Ort? Nein. Enttäuschte Erwartung.
    Ein paar Tage vergehen. Das Chaos ist ausgebrochen. Der Müll wird zum Problem. Zwischen den Haufen voller Unrat wuseln selbst am helllichten Tage Ratten und Mäuse herum. Die Dieselvorräte müssen für Wichtigeres als die Müllabfuhr bereitgehalten werden.
    Für die Krankenhäuser zum Beispiel. Dort liegen Verletzte, die in der Dunkelheit stolperten, überfallen wurden oder bei ihren Raubzügen der Kraft eines Stärkeren ausgesetzt waren. Man hat Schusswaffen eingesetzt. Kinder werden geboren. Hygiene wird kleingeschrieben. Nur das Nötigste. Wassermangel.
    Auch daheim kann keine Wäsche gewaschen, kein Geschirr gespült werden. Es riecht unangenehm auf den Straßen, in den Häusern. Auf den Bahnhöfen und Flugplätzen lagern die Gestrandeten. Ohne Aussicht auf Weiterfahrt oder Anschlussflug. Es gibt keinen Ausweg.
    Wenn ich meinen Nachbarn zu Tauschzwecken – gibst du mir ein Ei, gebe ich dir eine Tasse voller Zucker – aufsuchen will, muss ich rufen oder mich lautstark an seiner Tür bemerkbar machen. Keine Klingel geht mehr.
    Ich komme mir vor wie in der Steinzeit. Kinder polken Haferflocken aus den Ritzen des Straßenbelages. Streunende Hunde, die von ihren Besitzern freigelassen werden mussten, weil kein Futter mehr vorrätig war, rotten sich zusammen. Werden zur Gefahr.
    Katzen liegen auf der Lauer und machen sich mit dem Vertilgen von Nagetieren nützlich. Das sollten die Hunde auch tun!
    Mein Vorrat an Kerzen geht zur Neige. Die Stummel bewahre ich auf. Mit etwas Stopfgarn als Docht kann ich daraus später neue Kerzen gießen. Ich weiß nämlich nicht, wie lange die Stromflaute noch anhält!
    Man lässt uns allein. Kein Vertreter der Regierung hat sich bisher zu Wort gemeldet! Und ich vermute einmal, dass der Lebensstandard dort oben in dieser Situation wenige Abstriche erfährt! Die werden Weihnachten feiern!
    Mir kommt ein schrecklicher Verdacht: haben etwa politische Gegner das Energienetz beschädigt? Werden wir hier in Europa, wird unsere sogenannte freiheitlich demokratische Ordnung erpresst?
    Der Zeitpunkt ist allerdings günstig gewählt! Das Weihnachtsfest, einst christlichen Ursprungs, jetzt zum Konsumrausch verkommen, wird nicht in allen Religionen gefeiert! Da haben einige frei und können sich nach Herzenslust austoben! Wenn doch nur irgendeine Information durchsickern würde! Dann könnte man sich drauf einstellen.
    Heute ist eigentlich Heiliger Abend. Eine Kerze habe ich noch. Auf einen Baum muss ich verzichten. Weihnachtsbäume wurden in diesem Jahr nirgendwo angeboten.
    Vorhin habe ich beobachtet, dass sich ein kleiner, zierlicher Mann mit einer Riesentanne abmühte, die er vermutlich selbst geschlagen hat. Er kam nicht weit, an der nächsten Ecke wurde er von drei Hünen abgefangen und von seiner Last befreit. Der kleine Mann ging weinend weiter.
    Ein Gutes hat die Havarie: es wird im Fernsehen keine Weihnachtsansprache geben! Also, keine hohlen Floskeln, keine Ermahnungen, doch endlich solidarisch zu sein mit den Armen dieser Welt!
    Noch ein Punkt fällt auf: diese Stille dort draußen! Sie wird nur unterbrochen von den Sirenen der Notfahrzeuge. Wie lange noch? Dann geht denen auch der Treibstoff aus… Und außerdem: es wird keine Energierechnungen mit ständig steigenden Gebühren geben!
    Schade, die warmen Hausschuhe für die Großmutter bekam ich leider nicht mehr. Aber, was soll es? Ich hätte sie auch nicht schicken können.
    Jetzt zünde ich meine Kerze an. Ich sitze an meinem Kamin, in dem die letzten Holzstücke verbrennen. Noch ist es einigermaßen warm. Ein Festtagsgeschenk! Was braucht der Mensch?
    Und wenn ich nicht erfroren bin, dann lebe ich noch heute, morgen…

    1. Liebe Gisela,
      deine Grundidee ist super! Die Geschichte fängt ganz beiläufig an und steigert sich dann zu apokalyptischen Zuständen. Spannend, vor allem die erste Hälfte ist gelungen.
      Schöne Schreibgrüße
      Andreas

  47. Ich weiss, das ich spät dran bin, aber ich arbeite im Einzelhandel und habe das jetzt erst gesehen. Ich möchte meine Geschichte auch gerne vorstellen. Da die Frist wohl vorbei ist, dann außer Konkurrenz, aber über ein Feedback würde ich ich sehr freuen. Wünsche allen einen guten Rutsch ins neue Jahr:

    Mit den Augen der Anderen

    Jeden Tag im Einzelhandel auf den Beinen, Lächeln, nett sein, Probleme lösen, Wünsche erkennen, Wünsche erfüllen, Kunden zufrieden nach Hause schicken. Aber was ist mit mir? Wer lächelt mich an? Wer schenkt mir ein Lächeln, Zeit, Aufmerksamkeit oder einfach nur 100 Stunden Schlaf?
    Sie steht auf, auf dem Weg zum Bad erhascht sie einen Blick auf die Straße, 24.12.2016. Das Wetter ist grau in grau, typisches Oberhausener Weihnachtswetter.
    Im Bad angekommen fällt ihr Blick in den Spiegel: Müde sieht sich selber an. Die brünetten Haare zerzaust von den wenigen Stunden Schlaf, den sie in der vergangenen Nacht hatte, aber das Strahlen ihrer Augen ist immer da. Egal, wie müde sie sich fühlt.
    Die Augen sind der Spiegel der Seele sagte ihre Mutter immer. „Ach Mutter, wärst du noch hier, hätte ich ein viel schöneres Weihnachten“.
    Mit diesem Gedanken und Tränen in den Augen tritt sie unter die Dusche, das heiße Wasser läuft ihren Körper hinab und lässt die Spuren der Nacht verschwinden.
    Frisch geduscht, gecremt und in einer Wolke aus Parfum gehüllt fühlt Chiara sich dem Tag gewachsen. Dem Tag, der hoffentlich die Kunden und sie glücklich macht.
    Viel mehr gilt ihr Interesse ihren Kollegen, mit denen sie seit Jahren zusammen arbeitet. Als einzige Frau unter Männern fehlt ihr manches Mal eine weibliche Vertraute an der Seite, aber sie hat sich daran gewöhnt und arbeitet gerne mit ihnen zusammen. Ihre Gedanken streifen ab.
    Da wäre Michael, der Anführer der Kollegen. Nett, aber auch manchmal ziemlich barsch und herausfordernd. Er ist manches Mal wie die Axt im Walde, aber Chiara weiß, das er im Herzen ein guter Mensch ist, mit dem Herz am rechten Fleck. Seine Sprüche können verletzend sein, aber er merkt es selber nicht, Feingefühl ist nicht seine Stärke. Sich in Menschen hineinversetzen und zu verstehen ist gar nicht so einfach, vielleicht ist Angriff die beste Verteidigung, aber nicht in jedem Fall und oft ist so ein Verhalten gerade für einen Rudelführer gar nicht gut, denn durch Missstimmung ist oft das Arbeitsklima gestört.

    Andreas, der älteste der Herrenriege, er ist noch nicht so lange dabei, wie die anderen, ein bisschen hektisch, voller Weisheit und Fachwissen. Manchmal fühlt er sich ausgeschlossen, würde das aber niemals zu geben, denn Männer sind ja stark, wie schon die Ururururur…..Oma wusste.

    Daniel, der jüngste der Kollegen, ein absoluter Herzensmensch, der meist an das Wohl aller denkt, nicht gerne streitet, alles abwägt und lieber eine Faust in der Tasche macht, anstatt auf dem Tisch zu hauen. Aber wenn ihm mal der Kragen platzt, dann kann er seine Meinung vertreten.

    Jochen, der einfach alles macht, er hat Talent und Wissen, ist ein Ratgeber, der sich aber leider oft zurückhält, Bindungen vermeidet und das Persönliche nicht so gerne mit dem Beruflichen verbindet. Im Herzen aber viel lieber doch sein Herz sprechen lassen möchte, ein netter Mensch, der oft eine raue Schale zeigt, aber im Inneren herzensgut ist, aber das muss ja nicht jeder wissen.

    Ja und dann noch Chiara, lebenslustig, sensibel, nah am Wasser gebaut, Mädchen für alles. Interessiert sich für ihre Kollegen, für ihre Mitmenschen, quatscht die Kunden zu und ist das ein oder andere Mal bestimmt auch nervig.
    Was an diesem Heiligabend wohl passieren wird?
    Nach dem Frühstück, welches aus einer Tasse Kaffee und einem Brötchen besteht macht Chiara sich auf den Weg zur Arbeit. Heute ist kein Stau in Sicht, im Radio laufen die ersten Weihnachtslieder, die Radiomoderatoren frotzeln übers Weihnachtswetter und Chiara muss grinsen.
    Weihnachten ist schon was Besonderes. Ihre Kollegen sind wie ihre zweite Familie, sie hat alle 4 ins Herz geschlossen, jeder ist wie er ist und man rauft sich zusammen, ist ein Team. Aber sie würde so gerne mehr aus ihnen machen, ein richtiges Team, wo einer auf den anderen eingeht, wo man gemeinsam Probleme löst, miteinander spricht und sich versteht, es ist doch das zweite Zuhause.
    Wie soll sie das machen? Gibt es ein Weihnachtswunder?
    Michael nennt sie manchmal heimlich Ebenezer Scrooge, aber nur in ihren Gedanken, denn sie ist der Meinung, das Michael im Grunde ein weiches Herz hat, was er aber nicht zeigen möchte, es als Schwäche ansieht. Aber ist Nächstenliebe, Menschlichkeit eine Schwäche? Nein!!! Es ist eine Stärke. Sich in andere hinein zu versetzen ist manchmal der bessere Weg, anstatt sich selber aus der Affäre zu ziehen.

    Andreas, vergleicht sie an manchen Tagen mit einem Duracell Männchen, denn er ist dann wie ein aufgescheuchtes Kaninchen und rennt durch die Abteilung und verläuft sich in seinen selbstauferlegten Aufgaben. Er ist selber viel zu streng zu sich selber und lässt keine Nähe aufkommen.

    Daniel könnte man manchmal auch mit Chuck Noland vergleichen, abgeschieden arbeitet er Stunde um Stunde auf seiner kleinen Insel namens Zwischenlager, ein Wunder, das er nach diesen langen Aufenthalten keine Wortfindungsstörungen hat 😉

    Jochen ist wie der Terminator, harte Schale, aber darunter ein weicher Kern, den nicht viele sehen, aber dieser Kern ist da und Chiara sorgt sich manchmal um ihn, weil er ihr, wie die 3 anderen sehr ans Herz gewachsen ist.
    Und dann ist da noch Chiara selber, sehr emphatisch, emotional. An manchen Tagen könnte sie weinen, wenn man sie laut anspricht, an anderen Tagen hat sie selber Haare auf den Zähnen, aber das hat sie nur, wenn sie sich angegriffen fühlt.
    Wenn nur alle mehr aufeinander eingehen würden, wenn man nicht Angst haben müsste das Falsche zu sagen, weil es dann zu Diskrepanzen kommt. Wie kann es so weitergehen, wenn es keine Gespräche gibt? Die Kollegen untereinander verstehen sich eigentlich recht gut.
    Als sie bei der Arbeit ankommt, bekommt sie an diesem Tag ein Kribbeln im Bauch. Das liegt an der Magie von Weihnachten sagt sie sich und wischt ihre Gedanken beiseite.
    Sie geht hoch, setzt sich in den Pausenraum, quatscht mit den Kollegen und Kolleginnen, die an diesem besonderen Tag des Jahres ebenfalls in aufgeregter Vorfreude sind.
    Weihnachten hat auch ohne Schnee, in Oberhausen, nichts von seiner Magie verloren.
    Als sie in die Abteilung kommt empfängt sie Weihnachtsmusik, das war noch NIE so, in all den Jahren nicht, sie ist erstaunt und traut ihren Ohren nicht, das kann nur ein Fehler sein, oder bei JUKE gibt es am Heiligabend keine andere Playlist.
    Michael empfängt sie mit einem Lächeln und zeigt auf 5 mitgebrachte Kaffeebecher, er hat sogar an Latte Macchiato gedacht. Beschämt stellt Chiara fest, dass sie dieses Jahr die Kekse vergessen hat.
    An der Infotheke steht Daniel, heute muss niemand auf die einsame Insel, alle arbeiten zusammen und es scheint ein guter Tag zu werden. Auch Daniel lächelt.
    Andreas kommt hektisch in die Abteilung gelaufen, der Zug hatte Verspätung und das an Heiligabend.
    Jochen kommt mit einem Wagen aus dem Lager, auf dem sich keine Ware befindet, nein, der Wagen ist leer, Chiara versteht nicht, was der leere Wagen heute in der Abteilung zu suchen hat.
    Jochen sagt: Dieser Wagen ist so leer, weil ihn niemand beladen hat. Er ist weder mit Sorgen, Ängsten, Freude, Hoffnung, Lachen beladen. Er ist eine Metapher.
    Wir sollten alle gemeinsam daran arbeiten, dass unser Wagen heute bei Arbeitsende beladen ist mit schönen Dingen, so dass wir gemeinsam sehen können, was dieser Tag uns zeigen will.
    „Das kann nicht gut gehen“ denkt Chiara, Michael und Andreas schütteln den Kopf und schauen sich an, als wenn sie denken, Jochen hat einen an der Meise.
    Daniel ist erst sprachlos, legt dann ein Cutter Messer in den Wagen und erklärt dann: Für mich ist das Cutter Messer AUF dem Wagen schön, denn wenn es da liegt, bin ich hier bei euch.
    Dann legt Michael sein Telefon auf den Wagen und sagt: Wenn ich das Telefon auf den Wagen lege, muss ich für jeden Anruf die gleichen Wege laufen, wie ihr alle und kann erkennen, wie es euch geht und das ist ein guter Anfang.
    Jochen legt seine Krawatte auf den Wagen und erklärt: Krawatten engen mich ein, ich möchte heute nicht eingeengt sein, sondern der Mensch, der ich bin, ich will ich selber sein.
    Andreas legt seine Brille auf den Wagen und erkennt: Wenn ich meine Brille nicht trage, kann ich nicht alles gerade rücken und kontrollieren, sondern auch mal etwas mehr von euch sehen.
    Alle schauen auf Chiara, was wird sie auf den Wagen legen? Chiara nimmt ein Blatt, malt ein Herz drauf und einen Weihnachtsbaum.
    Als sie merkt, das keiner versteht, sagt sie: Ich lege mein Herz auf den Wagen, denn ihr seid alle in meinem Herzen und der Weihnachtsbaum steht für das Fest der Liebe und der Familie. Ich sehe euch als Teil meiner Familie an und finde es wunderschön, was ihr heute getan habt.
    Nach 3 Stunden Arbeitszeit, in der alle gemeinsam lachten, redeten, die Kunden mit einem Lächeln verabschiedeten geht die Arbeitszeit zu Ende.
    Alle sind gelöst, glücklich und sich dank dem Zauber der Weihnacht ein gutes Stück näher gekommen, sie sehen sich nun deutlicher und erkennen, das jeder ist, wie er ist. Wenn jeder ein Stück seiner Fassade ablegt und sich zeigt, dann ist die gemeinsam verbrachte Zeit nicht nur Arbeitszeit, sondern eine schöne Lebenszeit.
    Gemeinsam, statt jeder für sich. Kleine unbedeutende Dinge ( Cutter Messer, Telefone, Brillen, Krawatten, ein Herz ) werden zu wichtigen Dingen, die einem zu einem Team machen.
    Lassen wir den Zauber der Weihnacht uns erreichen und ihn annehmen und erkennen wer und was wir sind…nämlich ein Team, in dem jeder das Herz am rechten Fleck hat. Ich habe euch alle ins Herz geschlossen und ich hoffe, meine kleine Geschichte hat euch ein bisschen gefallen, zum Schmunzeln gebracht und vielleicht öffnen wir alle die Augen mal mehr für unser Gegenüber.
    Frohe Weihnachten !!!!

    © 21.11.2016 Simone G.

    Ohne Emotionen kann man Dunkelheit nicht in Licht und Apathie nicht in Bewegung verwandeln.
    Carl Gustav Jung (1875-1961), Schweizer. Psychologe u. Psychiater

    1. Liebe Simone,
      schade, dass du zu spät dran warst. Du beschreibst die Figuren sehr detailiert und deine Geschichte ist sehr lebensnah. Da bekommt man Lust, mehr zu lesen. Vielen Dank!
      Schöne Schreibgrüße
      Andreas

  48. Auszug aus „Die Lebkuchenleute .. und ihre Abenteuer“:
    © Journalistenwerkstatt

    „… Die frisch gebackene und verzierte Lebkuchenfrau von mir war fertig!
    Doch auf einmal bewegte sie sich und sprang aus dem Fenster.
    Sie war verschwunden und wollte andere Lebkuchenleute finden.
    Schon nach kurzer Zeit kam sie bei meiner Nachbarin an …“

    Verfasserin Marie
    liest euch auf Youtube https://youtu.be/SZFVERv82OE den ganzen Text vor!
    Habt ein fröhliches Weihnachtsfest & liebe Grüße aus der Journalistenwerkstatt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert